Theater der Zeit

Thema

Unter der Oberfläche

Der Puppenbauer Atif Mohammed Nour Hussein im Gespräch über „fiktive Porträts“

Der Regisseur und Puppenbauer Atif Mohammed Nour Hussein, Absolvent des Puppenspielstudiengangs der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin ist u. a. für seine hyperrealistischen Puppen bekannt. Er ist auch Teil des losen Netzwerks „bühnenwatch“1. Für double sprach Mascha Erbelding mit ihm über seine Arbeit.

von Atif Mohammed Nour Hussein und Mascha Erbelding

Erschienen in: double 47: Puppets of Color – Postkoloniale und antirassistische Ansätze im Figurentheater (04/2023)

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Wann hast du angefangen darüber nachzudenken, dass auch Puppen Stereotype repräsentieren?

Puppentheater ist wie jede Theaterform nicht frei von rassistischen Stereotypen. Diese Erkenntnis entwickelte sich spätestens seit meinem Studium vor dreißig Jahren: Als Zuschauer, als Puppenspieler und später am Dringlichsten als Puppenbauer. Denn sobald ich so eine Puppe kreiere, arbeite ich ja auch mit Verweisen auf Realität. Es handelt sich um einen Kunstkörper, aber es gibt immer diesen Verweis, egal ob es Material, Objekt oder Puppe ist. Und das ist es ja, was wir wollen im Puppentheater, Wiederkennbarkeit. Da kann es sehr schnell passieren, dass wir dieselben Stereotype wiederholen, weil wir uns mit Oberflächen beschäftigen, mit Sichtbarem. In die Falle bin ich nicht getappt, weil ich Begegnungen mit Puppen hatte, die mich verschreckt haben, bevor ich selbst an Puppenbau dachte. Da wusste ich: so auf jeden Fall nicht. Das hieß nicht, dass ich damals wusste, wie es anders gehen könnte.

Und wie versuchst du künstlerisch dagegen anzukommen oder damit zu arbeiten?

Beim Puppenbau gibt es verschiedene Wege. Ich habe mich entschieden „fiktive Porträts“ zu schaffen. Das kommt natürlich auch daher, dass ich oft Porträts von realen oder historischen Personen gebaut habe, zum Beispiel als „zweites Ich“ eines realen Menschen auf der Bühne. Für die fliegenden Jungs bei „Peter Pan“, die im Buch aus allen Weltteilen kommen, dachte ich mir, dass sie nicht nur weiß sein müssen. Wir haben schon lange kein nur-weißes Publikum mehr im Theater. Da gab es dann Reaktionen von Kindern, die sich in den Puppen wiedererkannt haben. Oder wenn es in der Figurenliste im Stück dazu keinerlei Angabe gibt – dann kann eine „schöne Frau“ eben auch Schwarz sein, ohne Begründung. Wie bei einer Besetzung beim Film – nicht nach Hautfarben.

Eine Inszenierung, bei der ich mich sehr intensiv mit Stereotypen beschäftigt habe, war Bertolt Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ (Regie: Moritz Sostmann, 2013 am Schauspiel Köln, re-inszeniert 2019 am Schauspiel Leipzig). Ich habe mich entschieden, die Figuren von Brecht – die ja fiktive, metaphorische Figuren sind – wie reale Menschen zu behandeln und von ihnen Porträts anzufertigen. Ich habe das Stück sehr genau gelesen und viel recherchiert (dem Internet sei Dank). Brechts Sezuan ist natürlich fiktiv, aber es gibt ein reales Sezuan, über das ich gesammelt habe, was ich finden konnte: Kultur, Farben, Traditionen, Muster, Bilder, Videomaterial. Dann habe ich intensiv die Figuren analysiert. Zum Beispiel Wang, der Wasserverkäufer: Er ist arm, macht seit 25 Jahren diesen wahnsinnig anstrengenden Beruf. Er ist die offenste und philosophischste Figur im Stück, denn er ist ja der erste, der Kontakt zu den Erleuchteten hat. Wie ist jemand, der so offen ist, dass die Götter sich ihm offenbaren? Und wie kann so ein Mensch aussehen – plus, dass er aus Sezuan stammt? Also nicht das Äußere ist das Essentielle, sondern das Innere. So bin ich durch alle Figuren gegangen. Und dann habe ich weitersortiert, nach Alter und Jugend, und danach, ob es Menschen sind, die mit den Händen arbeiten. Es ist enorm, wie viel komplexer die Gesichter werden, sodass man nicht einfach sagt: Das ist jetzt ein südostasiatischer Mensch. Denn eine Oberfläche kann ganz schnell rassistisch missbraucht werden.

Ein weiterer Aspekt war, den Körperbau nicht bewusst zu verkomplizieren, aber zumindest technisch so aufwändig zu machen, dass die, die damit spielen, mit viel Aufmerksamkeit und Aufwand spielen müssen. Das heißt, Puppenspieler*innen und Puppen müssen sich sehr miteinander verbinden. Puppen sind ja Dinge – ich sollte sie nicht noch zusätzlich verdinglichen, nicht einfach kurz nehmen und dann wieder zur Seite legen, wenn ich sie nicht brauche. Alles, was ich spielen will, kann ich nicht ohne diese Puppe. Ich setze sie nicht wie eine Statue auf einen Sockel, sondern das Spiel der Puppenspieler*innen ist der Sockel. Sie selbst geben den nötigen Raum und die Größe, die sie brauchen.

John Bell hat während des Werkstattwochenendes „Demontage des Puppenheims“ in München die interessante Frage gestellt, wie man bei abstrakteren Figuren mit Stereotypen umgehen kann, ob Hyperrealismus der einzige Weg sein kann, rassistische Bildsprache zu vermeiden. Ich habe mich gefragt, ob auf einem gewissen Niveau der Abstraktion Hautfarbe vielleicht keine Rolle mehr spielt. Aber kann es neutrale Puppen überhaupt geben? Selbst Dummies weisen wir ein Geschlecht zu.

Während des Studiums hatten wir diese hölzernen Übungsmarionetten. Die sind komplett unmarkiert. Je mehr man sich vertieft in die Führungstechnik, je mehr spielerische Fertigkeiten wir entwickelten, desto mehr Charakter wurde ablesbar. Wir sind hier also bei Spieltechnik und nicht bei Oberfläche. Nenne ich die eine Jago und die andere Othello, dann funktioniert das – weil wir den Stoff kennen – auch ohne Schwarze Übungsmarionette. Der Grad der Abstraktion ist extrem hoch. Das weiter zu untersuchen, lohnt sich sicher.

Was wünschst du dir für die (Figuren-)Theaterszene in der Zukunft? Was wären nächste Schritte?

In Deutschland gibt es ja die Besonderheit des institutionalisierten Puppentheaters, mit den Studiengängen, mit den Häusern, mit den Spielstätten und einer relativ großen, vitalen Freien Szene, die öffentlich gefördert wird. Mein Eindruck ist, dass die Wachheit und Selbstbefragung ziemlich groß ist, weil die in diesem Gesamtdiskurs mit drinstecken. Mit Privattheatern oder Familienunternehmen kenne ich mich nicht so gut aus. Da bin ich als Juror für bestimmte Projektförderungen teilweise im Bereich Puppentheater auf Dinge gestoßen, wie merkwürdige orientalische Exotisierungen, die ich überwunden glaubte. Wie man die Leute einlädt, das zu überdenken, ist die Frage. Zumal sie sich ja auch an einem Kanon abarbeiten, der mitteleuropäisch geprägt ist, zum Beispiel diese orientalisierenden Märchen von Wilhelm Hauff, oder Karl May. Das hält sich unglaublich zäh. Zu sagen, das ist bescheuert und ihr müsst das lassen, das geht natürlich nicht. Aber wie man die erreicht, das kleine Marionettentheater auf der Kirmes z. B., das ist problematisch. Das sind dann oft die ersten Begegnungen für viele Menschen mit Theater. In diesem Bereich des „Volkstheaters“ müssten wir präsenter sein, stolz sein auf diese „plebejische“ Herkunft des Puppentheaters.

Das Wichtigste für mich ist die permanente Suche. – www.atifhussein.wordpress.com

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