Melinda Nadj Abonji, Sie treten seit Ende der neunziger Jahre als Performerin auf. Nun gelangt erstmals ein Stück von Ihnen auf eine Theaterbühne: „Schildkrötensoldat“. Was interessiert Sie am Theater, und warum haben Sie nicht bereits früher für die Bühne geschrieben?
Lange bevor ich zum Schreiben kam, haben mich zwei Persönlichkeiten geprägt, die sich auf unterschiedliche Art mit dem Theater beschäftigt haben. Die erste ist Herbert Gamper, der als Literaturwissenschaftler und Dramaturg gearbeitet hat (u. a. am Zürcher Theater Neumarkt). Die zweite war eine großartige Stimmbildnerin, die mit allen namhaften Regisseuren zusammengearbeitet, aber auch selbst Regie geführt hat. Bei beiden habe ich gelernt, dass das Lesen eine Kunst ist, dass in der (vertikalen und horizontalen) Tiefenstruktur eines Textes alles geborgen ist; nicht nur die thematischen Strömungen und Schichtungen, sondern auch die musikalische Bewegung – wie die Satzzeichensetzung, die Vokalabfolgen, der spezifische Gebrauch der klingenden Konsonanten.
Den Text mit all seinen Implikationen zu verstehen, bereits als Teil der Bühnenarbeit zu begreifen, diese bewusste und notwendige Hingabe an den Text ist aber – das habe ich in den letzten Jahren festgestellt – in den allermeisten Bühnenproduktionen nicht präsent. Literatur, die literarische Sprache, scheint mir geradezu unvereinbar mit dem Theater zu sein, den ich...