Stück
Liebes Reclamheft, reg dich bitte nicht auf!
Der Dramatiker Bonn Park über sein neues Stück „Die Räuber der Herzen“, das er selbst am Hamburger Schauspielhaus urinszeniert, im Gespräch mit Christine Wahl
von Christine Wahl und Bonn Park
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Lieblingsfeind steht links – Über Theater und Polizei (12/2020)
Assoziationen: Dramatik Schauspielhaus Hamburg
Bonn Park, in Ihrem neuen Stück gibt es ein Wiedersehen mit den berühmten Theaterbrüdern Franz und Karl aus Friedrich Schillers Jugendwerk „Die Räuber“. Allerdings heißen sie bei Ihnen nicht Moor, sondern Ozean und weisen auch sonst große Ähnlichkeiten zu den Kultgangstern um George Clooney und Brad Pitt auf, die in Steven Soderberghs Heist-Movie „Ocean’s Eleven“ den Tresor eines Casinohotels knacken.
Die Idee, Schillers „Räuber“ mit „Ocean’s Eleven“ zu verbinden, kam mir schon vor fünf Jahren. Ich mag den Film sehr, weil er so bedingungslos zuversichtlich ist. Es geht immer alles glatt, es gibt für jedes Problem eine Lösung, für alles existiert ein Plan, und am Ende wird immer alles gut. Selbst wenn es zwischendurch scheinbar katastrophal läuft, stellt sich letztlich heraus, dass das nur Teil des Planes war: Ein schönes und wichtiges Gefühl, das ich sehr vermisse in meinem Leben.
Sie arbeiten an einem Erbauungsabend? Und das ausgerechnet mit den „Räubern“?
Die Casinoräuber in „Ocean’s Eleven“ sind zwar eigentlich Verbrecher, aber man findet sie richtig super. Sie sehen gut aus, sind gut gekleidet und haben keine Waffen. Nicht ein einziges Mal wird jemand erschossen, nie muss jemand zurückgelassen werden, es fallen keine Kraftausdrücke, alles ist sehr lässig und charmant.
Was man von den „Räubern“ bei Schiller in der Tat nicht behaupten kann. Während dort Klöster überfallen und Nonnen vergewaltigt werden, wollen Ihre Casinoräuber bestenfalls mal gewaltfrei „die Werte des Katholizismus per se hinterfragen – aber auch das muss nicht unbedingt sein“. Sie treten für „flache Hierarchien“ ein, sprechen auf Augenhöhe über ihre Beziehungen und berühren einander immer wieder „liebevoll mit den Fußsohlen oder Ellenbogen“.
Schillers „Räuber“ sind wütend, ängstlich, enttäuscht – und eigentlich auf der Suche nach Ruhe. Ich hatte das Bedürfnis, das Reclamheft in den Arm zu nehmen, es zu streicheln und zu ihm zu sagen: Es wird schon alles gut, reg dich nicht so auf! So eine Geste ist „Ocean’s Eleven“.
Der Satz „Alles wird gut“ zieht sich tatsächlich leitmotivisch durch Ihr Stück, gern ergänzt um die Wendung: „Was soll es auch sonst werden, es ist ja alternativlos.“ Weniger philanthropische Zeitgenossen dürften das eher ironisch als optimistisch lesen.
Unser Vorhaben war tatsächlich, etwas bedingungslos Zuversichtliches zu schaffen – allerdings mit dem Wissen, dass das wahrscheinlich nicht gelingt. Was zählt, ist der kompromisslos ehrliche Versuch, man zwingt sich zur Naivität. Diese Akkumulation beängstigender Dinge – vom ehemaligen amerikanischen Präsidenten über den Rechtsextremismus und die Pandemie bis zur daraus folgenden Wirtschaftskrise, dem Klimawandel und all den anderen Weltende-Szenarien – fühlt sich ja an wie eine vibrierende Schublade, die man in sich trägt und ständig mit der inneren Hand zuhält.
„Die Räuber der Herzen“ haben gegen diese Schublade eine sehr zeitgenössische Selbstachtsamkeitstechnik entwickelt, die auch vor Eskapismus nicht zurückschreckt. Als endlich alles bereit ist zum großen Coup, den Karl – ein zartbesaiteter junger Mann mit „komplizierten Gefühlen“ – über viele Textseiten hinweg eingefädelt hat, warten die Kollegen vorm Casino vergeblich auf ihn. Es geht ihm leider nicht so richtig heute; er zieht es vor, zu Hause ein paar Folgen seiner Lieblingsserie zu schauen.
Das ging auf eine Absage zurück, die ich per SMS auf eine Geburtstagseinladung bekommen habe: „Ich bleibe jetzt lieber im Bett und schaue ,Buffy‘.“ Damit kann ich viel anfangen; ich kenne das auch von mir: Am Montag verabredet man sich für Freitag, und je näher der Tag rückt, desto mehr wollen beide absagen. Ich habe keine Ahnung, woran das liegt. Es ist aber scheinbar ein weitverbreitetes Phänomen. Vieles, was im Stück vorkommt, ist während der Produktion so oder so ähnlich passiert oder gesagt worden.
Ihre Texte entstehen während des Probenprozesses?
Ja, ich mag es, die Stücke so zu entwickeln. Wenn wir sieben Wochen Zeit haben, sammeln wir die ersten dreieinhalb Wochen Material. Anschließend schreibe ich eine Woche, und dann ist schon mal ein großer Teil des Stückes da. Ich schreibe gern direkt für die einzelnen Leute. Im Idealfall kommen die Texte dann einfach zu den Personen, und man braucht gar nicht mehr so viel Probenzeit.
Franz und Amalia, die bei Ihnen – völlig anders als bei Schiller – eine geradezu symbiotische Beziehung führen, lesen keine Zeitung mehr, weil es keine Debatten mehr gibt, sondern „nur noch zwei Meinungen zu allem“. Auch ein weitverbreitetes Phänomen, oder?
Als Mensch, der viel Zeit im Internet verbringt, merke ich, dass immer dieselben drei, vier Leute die Meinung diktieren. Das wird wahrscheinlich in jeder Blase ähnlich sein: Es kristallisieren sich Meinungsführer heraus, was gefühlt zu immer mehr Polarisierung führt, bis man irgendwann in einer fiktiven Welt von Gut und Böse lebt, in so einer Art Star-Wars-Realität: Es gibt diese Fronten, aber keine Differenzierung mehr.
Werden in der analogen Theaterwelt noch Debatten geführt?
Ich weiß gar nicht, ob das zurzeit überhaupt möglich wäre. Es existieren ja viele andere Probleme in den Theaterbetrieben. Es geht ums Geld, um die Existenz. Es gibt Leute, die auf der letzten Rille laufen. Man motiviert sich immer wieder, etwas anzuschmeißen, was dann jedes Mal kurz vorher abgesagt wird.
„Die Räuber der Herzen“ sollten eigentlich Anfang November Premiere haben, die Nachricht vom neuerlichen Theater-Shutdown traf Sie in der Endprobenphase. Jetzt ist die Premiere erst einmal verschoben, ein neuer Termin steht noch nicht fest.
An dem Tag, an dem Angela Merkel und die Ministerpräsidenten zusammensaßen, um die Maßnahmen zu beschließen, haben wir auf der Probe ständig den Newsticker aktualisiert. Dann sickerte langsam durch: Die Gastronomie macht zu, der Einzelhandel bleibt geöffnet, Tattoo- und Nagelstudios müssen schließen, Friseure bleiben geöffnet – und dann kam nichts mehr. Da dachten wir: Wow! Uns wurde schlagartig klar, wie unwichtig wir eigentlich sind: Nagelstudios haben es auf die Liste der Erwähnenswerten geschafft, wir nicht. Entweder sind Nagelstudios also sehr viel wichtiger, als man denkt – oder Theater ist sehr viel unwichtiger.
Und, was meinen Sie?
Nagelstudios finde ich sehr wichtig, dagegen ist nichts einzuwenden. Beim Theater bin ich zwiegespalten: Ich liebe das Theater, ich habe eine richtig tolle Gruppe in Hamburg, die Proben machen sehr viel Spaß. Aber wenn man den Blick öffnet auf die gesamte Theaterlandschaft, fragt man sich schon manchmal: Ist das relevant? Für wen macht man das eigentlich noch?
Inwiefern?
Dieser Kanon, der irgendwann einmal von der Gesellschaft als Hochkultur definiert worden ist, ist auf eine Art unpenetrierbar. Immer wieder kommt er auf die große Bühne, und immer wieder wird von den Theatern gesagt: Wir mögen dieses Stück ja auch nicht, aber die Leute kommen halt, die wollen den Schauspieler XY als Karl sehen, da können wir Schulklassen reinsetzen! Und die Frage ist eben: Reicht das? Gerade in dieser aktuellen Debatte, wenn man groß behauptet: Nein, Theater ist nicht nur Unterhaltung, Theater ist Kunst? Und dazu kommt dann noch, dass ich oft im Theater nicht mal unterhalten bin.
Jetzt, im Shutdown, wird erst einmal wieder gestreamt. Schauen Sie Inszenierungen im Netz?
Wenn das Kernmerkmal des Theaters verschwindet – dieses minimum requirement, dass es in einem Raum stattfindet, wo physische Anwesenheit der kleinste gemeinsame Nenner ist –, ist Theater nur noch ein Tab in meinem Browser neben Netflix und YouTube, und es stellt sich die Frage, ob es auf diese Art existenzfähig ist. Meistens ist es einfach von vorn abgefilmt. In den ersten fünf Minuten sind noch alle dabei, dann klingelt das Telefon, man geht mal auf die Toilette, und Vorspulen ist auch sehr beliebt, am liebsten mit der Behauptung, man hätte es gesehen. Ich wünsche mir, dass die Theater als Statement keine Streams anbieten, einfach eine Ansage machen: Das gibt’s nur in einem Raum bei uns.
Was haben Sie zuletzt live im Theater gesehen?
Eine der letzten Aufführungen war René Polleschs „Probleme Probleme Probleme“ am Schauspielhaus Hamburg. Ich mag die Seele dieser Abende, die immer sehr warm sind. Das ist tröstende Unterhaltung, die einfach Spaß macht. Zwar durchdringe ich die Texte intellektuell nach wie vor nicht – an meinem ersten Pollesch-Abend habe ich ungefähr zwei Prozent verstanden, jetzt bin ich vielleicht bei neun. Aber auf einer sinnlichen Ebene fühle ich mich sehr gemeint und verstanden. //