Theater der Zeit

Stück

Alles ist groß

von Zsuzsa Bánk

Erschienen in: Theater der Zeit: Wir sind die Baumeister – Ein Schwerpunkt über Theater und Architektur (11/2020)

Assoziationen: Dramatik Schauspiel Frankfurt

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Grundsätzlich: lieber schräg und komisch als betont traurig. Unbedingt das Komische und Überzogene an den Stellen herauskehren, die das gestatten. Das immanent Groteske herausstellen.

(singend) I want to live
I want to give
I’ve been a miner for a heart of gold.
I ’ve been to Hollywood, I’ve been to Redwood. I crossed the Ocean for a heart of Gold.
I’ve been in my mind. It’s such a fine mind. That keeps me searching for a heart of Gold.
And I’m gettin old.
Heute wirklich: Johnny Cash. Urne mit Johnny Cash.
Gestern Erdbestattung mit Beethoven. Klavierkonzert Nummer drei,
C-Moll, Opus 37.
(singend) Dingdingdingding – pingping. Stand so auf der CD.
Jeden Tag höre ich Musik, immer Lieblingsstücke. Musik, die ein ganzes
Leben zusammenfasst. Auf den einen Nenner bringt.
Jeden Tag höre ich die Lebensläufe dazu, lerne die Leben kennen, jeden Tag
höre ich Trauerreden. Das Tolle: Alle Menschen werden am Ende gut.
Ja: Alle sind am Ende gut! Rückblickend gut. Retrospektiv gut.
Rückwärts gesehen gut. Rückwärts gewandt gut. Mit dem Rücken zum
Grab gut. Mit dem Gesicht zum Tod gut. Aber das hätte man doch
gemerkt, oder? Wenn jetzt alle mal gut wären, oder?
Alle mal so plötzlich gut. Einfach gut.
Kein falsch. Kein blöd. Kein nervig. Kein ätzend. Kein bös.
Also, ich hätte das gemerkt. Mir wäre das aufgefallen. Sicher.
De mortuis nil nisi bene. Über die Toten nur Gutes.
Nichts Schlechtes über die Toten.
Es kommt zum Ende – und alle sind gut. Das Ende ist da, und alle sind gut.
Warum denn nicht gleich so? Mann, warum denn nicht von Anfang an so?
Alle haben am Ende dieses goldene Herz. Ein Herz aus Gold.
Und diesen fine mind. Such a fine mind. Nur gute Gedanken hat dieser fine
mind. Natürlich. Logisch. Ist ja klar. Ein Geist gefüllt mit guten Gedanken.
Ein Kopf gespeist aus guten Gedanken.
Ein Gutegedankenkopf.
Ein Feinergedankenkopf.
Die kleinen Verbrechen des Lebens – vergessen. Die kleinen Garstigkeiten
im Charakter – verpufft. Die kleinen Schmerzpartikel des Zusammenlebens,
diese Reibeflächen – gab es die überhaupt?
Die kleinen Widersprüche im Lebenslauf – sind aufgelöst.
Kleinere Sünden – och, nicht erwähnenswert. Größere? Fanden nie statt.
Todsünden oder Verbrechen sind in diesen Lebensabrissen
eh unbekannt. Gab es nicht! Nee, niemals. Gab’s einfach nicht.
Nie wurde gelogen. Nie geschlagen. Getreten. Geohrfeigt. Verängstigt.
Erpresst, unter Druck gesetzt. Hintergangen. Ausgegrenzt. Vernichtet.
Diese Verben kann man streichen,
aus der Trauerrede direkt raus. Raus mit diesen Tu-Wörtern!
Es ist eine Welt, in der alle Menschen gut sind.
Eine Welt aus Freundlichkeit. Ohne Misstöne. Eine gute Welt mit guten
Menschen. Eine Welt aus Menschenliebe.
Für gute Menschen eine gute Welt.
Schöne, gute Welt!

Jeden Tag höre ich so ein bis drei Lebensläufe. Über die kleinen Lautsprecher
dringen sie aus der Trauerhalle zu uns nach hinten:
Ein Abriss, die kurze Zusammenfassung eines
Lebens, mit dem ich nie zu tun hatte. Mit dem ich es jetzt zu tun kriege.
Reduziert auf acht bis zwölf Minuten. Eingekocht wie Sirup.
Eingedickt wie Marmelade. Ich weiß, wen ich auf seinem letzten Weg
begleite. Wen wir zu seinem letzten Plätzchen hinaustragen.
Im Schnelldurchlauf höre ich das Wichtigste, die Stichpunkte
einer Biographie. Das Herausragende. Oder – es ist nichts Herausragendes
dabei. Manchmal gibt es einfach nichts.
Kaum etwas, das erwähnt, das gesagt werden müsste.
Da war nichts Großes.
Das Leben war eher klein. Eher klein und wenig. Manchmal gibt so ein Leben
gar nicht viel her. Manchmal will es nicht viel erzählen.
Manchmal hat es nichts zu sagen.

Hinter der Trauerhalle, an einem Tisch mit fünf Stühlen – da sitzen wir.
Die Pietät hat mir schon vorher gesagt, haben wir einen mit Rollator
oder sind alle lauftüchtig.
Wir warten auf unseren Einsatz, unser Kommando, wir reden nicht,
wir schweigen und lauschen. Hinter der Orgel, unter dem kleinen Kasten mit
den Lämpchen. Manchmal – da drifte ich ab und verliere mich in Gedanken,
an meine Frau, mein Kind, falle kurz in meinen Tagtraum. Aber ich kehre
rechtzeitig zurück, immer kehre ich rechtzeitig zurück. An der Wand steht
eine Liege – sollte jemand umfallen, sollte jemand einen Schwächeanfall
hinlegen. Daneben der Feuerlöscher, der Verbandskasten.
Und die Kreuze. Ja, natürlich die Kreuze.
Fünf große Holzkreuze mit Stab haben wir zur Auswahl. Zwei mit dem
Gekreuzigten, und drei ohne, schlicht und glatt. Sind Messdiener dabei,
tragen sie das Kreuz voran. Aber meistens trägt es einer von uns. Kreuz
übrigens nur bei Erdbestattung. Das sind dann vier am Sarg plus einer mit
Kreuz. Bei Feuerbestattung gibt es kein Kreuz.
Am Rednerpult in der Trauerhalle sind drei Tasten. Drückt man sie, gehen
bei uns die Lämpchen an.
Erstens: Chor. Die Musik muss laufen. (singt) I’ve been to Hollywood,
I’ve been to Redwood.
Nanana
, undsoweiter.
Zweitens: Orgel. Der Organist beginnt zu spielen.
Drittens: Kondukt. Meine Lampe, ich bin gemeint. Sargzug. Leichenzug.
Totenzug. Wir sind dran.
Heute kein Kreuz.
Heute bei Helmuth kein Kreuz.
Ein Countryfan. In Nashville war er sogar. 1974 die erste Frau tot. Zwanzig
Jahre später, 1994, die zweite Frau tot. Als Kind der Krieg, die Bunker,
die Bombennächte, die Armut, die Entbehrung, der verlorene Vater –
ist ja immer gleich in dieser Altersgruppe.
Später: War er Kioskbesitzer, Versicherungsvertreter. Noch später:
Hatte er einen Schlaganfall, kam ins Pflegeheim. Schlaganfall, fremde Hilfe.
So im Wechsel. Und dann:
Herzstillstand.
„Daher wollen wir an dieser Stelle Danke sagen. Den lieben Menschen
von der Seniorenresidenz. Allen voran Alma, die Lieblingspflegerin,
die an seiner Seite war, als Helmuth starb.“
Kinder, Enkelkinder.
War er so toll?
So ein guter Mensch?
„Sein Charme und sein Witz“ – den hatten am Ende übrigens alle. Man könnte
glauben, wir leben in einer Welt voller Witz und Charme. Wär ja schön.
Das müsste man doch merken, das hätte man doch schon gemerkt.
Das wäre uns doch aufgefallen. Also mir, mir wäre das sicher aufgefallen.
Wenn hier alles so witzig wäre!
Wenn alle so charmant wären!
Erst später kann man etwas ablesen. Erst später ahnt man, welches Leben
sich unter dieser Haut, in dieser Asche verbirgt. Welche Blutfarbe durch
diese Adern geströmt ist. Blass,
dunkel, rot, blau.
Später erst sieht man: Kommt jemand zum Grab? Wird es gepflegt?
Überhaupt besucht?
Oder verwaist es?
Steht da noch jemand und weint? Steht da noch jemand und klagt
den Himmel an?
Boxt gegen die Wolken? Tritt gegen die Wolken?
Liegen da Blumenbouquets für 200 – oder faulen die Lilien?

Mein Lämpchen leuchtet, Kondukt, ich bin gemeint: Totenzug.
Ich nehme meine Mütze. Streiche über den Schirm. Fusselfrei. Picobello.
Ich gehe los. Sagen wir, ich schreite. Jetzt passt es, oder? Schreiten!
Ich drücke auf den Knopf fürs Glockengeläut. Die Glocke läutet.
Ich atme ein und gehe los.
Ich trage meinen Anzug. Im Sommer mein Kurzarmhemd, im Winter mein
Langarmhemd. Den Mantel im Winter. Den Mantel bei Starkregen. Hier, auf
dem linken Ärmel das Wappen der Stadt: weißer Adler auf rotem Grund, mit
Goldkrone. Blaue Zunge, blaue Krallen. Dazu die dunkle Krawatte. Die
schwarzen Lederhandschuhe. Auch im Sommer Handschuhe. Handschuhe
immer. Weil uns sonst die Hände verbrennen, wenn wir den Sarg hinablassen.
Das Seil würde uns sonst die Hände verbrennen. Alles schon passiert.
Alles schon geschehen. Alles schon so, genau so gesehen.
Aber Lederhandschuhe bei 30 Grad!
Darunter meine Gärtnerhände. Nach dem Grabausheben geschrubbt.
Vor einer Stunde war ich noch in meiner Gärtnerkleidung. Arbeitsschuhe, Arbeitshosen, Fleecejacke, Mütze. Ich muss ordentlich aussehen. Für
diesen letzten Gang muss ich ordentlich aussehen. Meine Schuhe sind
geputzt, mein Haar ist kurz geschnitten, mein Bart gestutzt. Mein Mantel ist
abgebürstet. Keine Schuppen. Kein Haar. Kein Stäubchen darauf.
Den Sarg tragen wir zu viert. Sargtragen ist Schwerstarbeit. Knochenarbeit.
Einer zieht den Sarg auf den Bahrwagen, und dann heben wir den Sarg
zu viert. Mir ist gleich, ob ich rechts
oder links trage. Ich bin Linkshänder.
Gehen Sie mal 300 Meter mit 50 Kilo am Arm und an der Schulter!
Mindestens 50 Kilo! Durchqueren Sie mal 18 hektar! Gehen Sie mal
den Weg hinab und wieder hinauf! So wie er sich unter den Eiben in die
Länge zieht und biegt und krümmt.
Vorne gehen die Starken. Der Kopf ist schwerer als die Füße.
Und wer’s mit dem Rücken hat, macht nur noch Urne. Sollen die Jungen ran.
Sollen die Jungen den Sarg tragen. Die Anfänger.

Heute ist Urne. Der Countryfan ist Urne. Also gehe ich allein.
Ich betrete meine Bühne. Wie aus dem Nichts tauche ich auf. Als wäre es
ein Trick. Ein bisschen Magie. Die Tränen fließen – und ich stehe da.
Ich warte auf das Nicken. Der Redner, der Pfarrer gibt mir das Zeichen,
ich gehe los. Ich schreite. Sechs Schritte vielleicht. In der großen Trauerhalle
nicht mehr als sechs Schritte. Über mir auf der Kuppel sitzen
die Tauben im runden Fenster, schlagen mit den Flügeln, gurren und
schauen zu. Ich ziehe meine Mütze ab. Ich verbeuge mich vor der Urne.
Ich ziehe meine Mütze auf. Ich nehme die Urne in die Hände.
Ich drehe mich zur Trauergesellschaft.
Halbe Drehung.
Ich drehe mich zum Ausgang.
Viertel Drehung.
Die Türen öffnen sich. Ich führe den Zug an. Ich bin der erste in der Reihe.
Hier lang, bitteschön.
I walk the line.
Später bin ich der letzte, der geht.
Ich zeige den Weg, ich schreite voran. Drei, vier Meter Abstand zu den
anderen. Nicht mehr. Auf keinen Fall mehr. Hinter mir Husten, Schneuzen,
kein Reden. Ein bisschen Flüstern.
Vor meiner Brust ein Gefäß aus Metall, aus Keramik, aus Holz – und darin
steckt das Leben. Achtzig Jahre Leben, mit vielen Abzweigungen darin.
Mit vielen Wegen, Kreuzungen, Gabelungen, Umwegen, Sackgassen,
Sperrungen. Zweiundneunzig Jahre Leben – oder weniger, manchmal auch
nur zwanzig Jahre, manchmal bloß acht.
Aber dann keine Urne, dann Sarg.
Bei Kindern nie Urne.
Bei Kindern immer Sarg.
Am Anfang hatte ich Angst, es war aufregend, mein Herz klopfte laut,
bambambam!, meine Hände waren heiß, meine Wangen, ich hatte Angst,
ich könnte stolpern. Die Urne könnte mir aus den Händen fallen.
Malen Sie sich mal den Rest aus. Denken Sie sich mal den Rest.
Jedes Mal gehe ich den Weg vorher ab. Wenn es geregnet hat,
präge ich mir die Pfützen ein, nach einem Sturm sammle ich die Äste auf.
Ich will beim Gehen nicht zu Boden schauen müssen.
Nicht an einem Ast hängenbleiben. Der Weg muss frei sein.
Dieser Gang ist schwer genug.
Für die Leute hinter mir? Der schwerste Gang. Klar.
Ich richte meinen Blick geradeaus nach vorne, ich suche mir einen festen
Punkt – und gehe. Ich achte darauf, ob alle folgen. Keiner soll zurückbleiben.
Ich höre auf das Knirschen unter den Schuhsohlen. Ich gehe nicht zu
schnell, auch nicht übertrieben langsam. Das habe ich eine Weile
ausprobiert, erst lernen müssen. Früher bin ich zu schnell gelaufen, ich
hatte keine Zeit. Ich hatte das Tempo von draußen, ja, von draußen, da,
dort draußen, von den Bürgersteigen des Lebens. Von den Kreuzungen,
den Ampeln, den Zebrastreifen, von den Einkaufsstraßen und Märkten des
Lebens. Den Turbo in mir, immer so mit hundert
Sachen im zweiten Gang.
Aber hier, für diesen Gang gibt es nur eine richtige Geschwindigkeit. Einen
Hauch bewegter, einen Tick dynamischer – und es wird zu schnell.
So im Todestempo eben. Wenn Sie sich das vorstellen können. Im Geleit-
Tempo. Im Übergangs-Tempo. So als wären wir knapp über dem Boden.
Wir versuchen – zu schweben. Wir üben – das Schweben.
Gestern war viel Rollator. Heute keiner. Heute rote Luftballons. Ein Mädchen
trägt einen Strauß roter Herzluftballons.

Heute Johnny Cash.
(singend) It‘s these expressions I never give
That keeps me searching
For a heart of gold
And I‘m getting old
Keeps me searching
For a heart of gold
And I‘m getting old

Ich bleibe am Grab stehen.
Duft von Erde. Duft von feuchter Erde. Duft von Jahreszeit. Duft von Wetter.
Am Morgen habe ich das Erdloch ausgehoben. Mit dem Urnenspaten,
unserem Handbagger.
Bis zur Markierung. Tiefe: 70 bis 80 Zentimeter. Größe des Urnengrabs
80 mal 80. So. Habe die Grabmatten ausgelegt. Für die saubere
Umrandung. Dann die Schubkarre weggebracht. Fünfzig Meter weiter
am Weg unter die Kastanie gestellt. Am Grab soll keine Schubkarre
stehen. Das Grab soll nicht nach Arbeit aussehen. Am Grab bitte keine
Arbeitsgeräte, keine Hinweise auf Arbeit.
Am Grab bitte nur ausgesetzte Zeit. Nur aufgehobene Zeit.
Am Grab nur Zeitlosigkeit.
Oder Zeichen, Anzeichen, die gehen auch, die sind erlaubt, die sind
gewünscht, von denen gerne jede Menge – die Menschen warten ja nur
darauf. Hinter der Friedhofsmauer kommen sie ohne Zeichen aus, doch
am Grab ist alles gut für ein Zeichen. Für eine Botschaft aus dem Jenseits,
aus dem Zwischental, dem Verbindungstunnel zwischen Erde
und ­Himmel. Oder Erde und Hölle.
Wenn der Regen plötzlich aufhört – oder wenn er plötzlich beginnt: ein Zeichen.
Eine dunkle Wolke – oder aber ein wolkenloser Himmel: ein Zeichen! Ein
Gewitter – oder das Ende eines Gewitters: Seht nur, ein Zeichen! Ein Vogel,
der aus dem Baum hochflattert und schnell davonfliegt. Oder einer, der von
oben langsam herabgleitet und sich in der Baumkrone verfängt. Alles Zeichen!
Ich lasse die Urne an ihrer Kette hinab. Ich verbeuge mich und verschwinde
hinter den Menschen. Ich gehe ein paar Schritte, ich stelle mich unter einen
Baum. Ich halte Abstand, bleibe aber in der Nähe. Ich bin auf alles gefasst.
Einmal ist ein Kind ins Grab gesprungen!
Da bin ich aber sofort los, sofort!
Für die anderen habe ich mich schon aufgelöst. Keiner sieht mich. Zwar sind
mir alle gefolgt, aber jetzt sieht mich niemand mehr. Die Menschen vergessen
mich sofort. Sie setzen mich in die Landschaft und – ich werde zu einem Baum.
Ich werde zu einem Gegenstand des Friedhofs, zu einem Stein, einem Busch.
Keiner prägt sich mein Gesicht ein. Ich bin so etwas wie ein Niemand.
Der Pfarrer wird zur Feier eingeladen, der Pfarrer wird dazugebeten.
Mich lädt niemand ein. Weil man mich schon vergessen hat.
Zwei Minuten später schon vergessen hat.
Aber ich schaue mir die Gesichter an. Ich sehe die Leute in der ersten Reihe.
Die Töchter und Söhne, die Ehemänner, Ehefrauen. Ich ahne, was dem
vorausgegangen ist. Ich meine, es an den Gesichtern ablesen zu können.
Der Tod zeichnet ja etwas in so ein Gesicht. Der Tod zieht seine Furchen.
Seine Gräben. Schränkt die Farbpalette ein, pinselt sein Grau bis Schwarz auf.
Wie heißt das noch?
Kein Toter ist so tief begraben wie eine erloschene Leidenschaft?
Ich sehe die Leute in der letzten Reihe. Die irgendwie dabeistehen, aber nicht
so richtig dazugehören. Die kaum jemand wahrnimmt. Aber ich sehe sie, ich
schaue sie an und ordne sie ein. Alte vergessene Freunde? Jemand aus einem
Leben, das nebenher lief? Geheim? An einem anderen Ort?
Der Tod macht die Menschen klein.
Im Angesicht des Todes schrumpfen sie, gehen sie ein. Ich sehe sie am Grab
kleiner werden. Ich kann zusehen, wie sie einlaufen und sich zusammenziehen,
wie alles an ihnen kleiner wird, ihr Kopf, ihre Füße, ihre Schultern,
ihr Rücken – wenn sie sich später abwenden, gehen sie als Zwerge.
Winzig.
Ich schaufle die Erde zurück, schließe das Grab. Höre auf den Sound der Erde.
Drisch, Drisch. Der Winter ist lauter. Wintererde ist lauter. Sommererde
nicht so laut.
Aber das kann dauern. Manchmal stehen sie lang, wollen nicht gehen,
manchmal dreht sich wer um und läuft zurück, kann sich nicht verabschieden,
kein Ende finden.
Ich warte und dränge nicht. Ich habe Zeit. Ich werde ja dafür bezahlt,
dass ich Zeit habe.
Das Mädchen lässt die Luftballons für Helmuth steigen. Zwei bleiben im
Baum hängen. Alle drehen sich langsam um und gehen los, bereit ihr Leben
wieder aufzunehmen, sich dem Draußen-Tempo zu nähern. Ziehen zum
Alten Zollhaus die Straße runter.
Danach ist alles still und leer.

Ich bin Grabmacher. Es ist eine gute Arbeit.
Alle sagen: Wie kannst du das machen?
Meine Frau sagt: Wie kannst du das machen?
Meine Mutter sagt: Wie kannst du das machen?
Meinem Kind habe ich noch nicht gesagt, was ich mache.
Doch wenn ich mich selbst frage: Bedrückt mich das?, antworte ich: Nö.
Nö!
Klar, macht schon nachdenklich.
Man hofft, man bleibt noch eine Weile verschont. Wird noch eine Weile
vergessen und nicht aufgerufen. Man weiß, das alles hier kann schnell vorbei
sein, sehr plötzlich vorbei sein. Aber es ist eine gute Arbeit. Ein guter Beruf.
Es ist ruhig, ich bin draußen.
Und alles ist groß.
Der Blick zum Taunus: groß. Der Blick ins Freie: groß.
Keine Stadt hier. Kaum eine Idee von Stadt hier draußen. Heiligenstock ist
eher Park als Friedhof. Friedhof nebenbei.
Der Himmel: groß. Nah und groß.
Und wir sind klein darunter.
Ich bin klein darunter.
Ist das Leben verrutscht, rückt es sich hier zurecht.
Das Grün: groß.
Der Rasen: groß.
Die Baumkronen: groß. Die Eichen, Kiefern, Birken, die Eiben: alle groß.
18 Hektar Fläche. Gewann eins bis zwölf. Trauerhain, FdU – das Feld der
Ungenannten. Ist unser Name. Wir nennen es so. Wer kein Geld hat oder
keine Angehörigen oder beides nicht, der endet hier. Den bettet die Stadt
ins Rasengrab. Den bringt sie im Rasengrab unter.
Wie heißt das noch? Elend ist unbegrabner Tod.
Auch für die Ungenannten ziehen wir uns um. Natürlich. Dunkler Anzug
mit Krawatte, Handschuhe, Mütze mit Schirm – muss sein. Für jeden. Auch
für die, zu denen niemand kommt, von denen sich niemand verabschiedet.
Auch für sie bleibt es das gleiche Ritual. Wird es der gleiche Ablauf. Wenn
sonst keiner kommt, um Adieu zu sagen, machen wir das. Wir sagen Adieu.
Im Anzug. Das hat jeder verdient.
Jeder.
Adieu.
Ich weiß, wo sie liegen. Auch wenn es keinen Stein, keine Platte gibt, auch
wenn das Gras später auf nichts hindeutet, kenne ich jedes Grab, auch diese
unsichtbaren Gräber kenne ich.
Ich finde die unsichtbaren Gräber blind.

Ich bin zufrieden.
Ich bin Grabmacher.
5000 Bestattungen im Jahr in dieser Stadt. Kann man sich ja ausrechnen,
wie viele pro Woche, pro Tag. Ja, rechnen Sie ruhig. Von Montag bis Freitag.
Um neun geht’s los. Um drei ist Schluss. Aber gestorben wird ja nicht gleichmäßig.
Mal sind es vier am Tag. Mal die ganze Woche keiner. Letzte Woche
war sehr ruhig. Der Tod verteilt sich nicht in gleichen Abständen. Der Tod ist unregelmäßig. Er kennt kein Nacht oder Tag, er braucht keine Uhrzeiten,
keine Jahreszahlen, er kommt und geht, wie er will. Wie es ihm gefällt.
Wie er Lust hat. Wie es ihm Spaß macht.
Ja, und nimmt mit, wen er kriegen kann.
Hundert Grabmacher sind wir. Darunter eine Frau.
Jeder hat seine Friedhöfe. Jeder hat seine Lieblinge.
Mein Bezirk ist Frankfurt Ost. 25 Mitarbeiter auf 13 Friedhöfen, darunter zwei
jüdische. Nieder-Erlenbach Neu, Nieder-Erlenbach Alt, Berkersheim, Fechenheim,
Bergen-Enkheim, undsoweiterundsoweiter. Und hier, Heiligenstock,
die Luxuslinie, mein liebster.
Grabmacher?
Keiner kann damit etwas anfangen.
Grabmacher?
Ja, Grabmacher. Der Mann fürs letzte Geleit. Der Mann für den Schlussakkord.
Für den nachklingenden, abebbenden Ton nach dem Schlussakkord. (summt)
Für das mhhhhhmmmhhh. Grabmacher – kann man doch sehr leicht übersetzen,
jedes Kind kann das sofort übersetzen:

Ich mache das Grab. Ich bin der, der das Grab macht.
Sowas kann man nicht lernen. Es ist keine Ausbildung, da geht man nicht
drei Jahre zum Friedhof und lernt Gräber ausheben, Särge tragen, Urnen
halten, Schirmmützen aufziehen, neutral schauen. Angemessen neutral
schauen. Nicht übertrieben, einfach nur angemessen neutral.
(zeigt) So ungefähr.
Man fängt eines Tages einfach damit an. Und dann ist man es. Das kann
nicht jeder, wenige können es. Und einer muss es schließlich machen.
Alle wollen, dass diese Arbeit getan wird.
Aber alle sagen, wie kannst du diese Arbeit machen?
Wie kannst du nur?
Wenn ich davon erzähle, schauen die Leute komisch, gehen zwei Schritte weg
von mir. Als würde ich den Tod bringen! Als könnte ich ihn übertragen!
Ich bin das doch nicht! Deshalb sage ich oft nur, ich arbeite auf dem Friedhof.
Nichts weiter. Und mehr wollen die Leute nie wissen.
Sage ich Friedhof, werden sie sofort stumm.
Höchstens: Oh. Oder: Oh, Friedhof.
Sage ich Friedhof, kriegen die Leute sofort Angst. Sage ich Friedhof,
werden die Leute schon nervös.
Fangen an, sich zu kratzen.

Früher hießen Leute wie ich Totengräber.
Aber das klang wohl irgendwie igitt.
Tot und Grab oder graben in einem Wort – das geht nicht mehr.
Deshalb bin ich ein GrabMACHER. Machen klingt besser.
Das klingt nach Technik, nach Handwerk, nach Können, nach Energie
und Geschwindigkeit: Machen.
Das passt zur Stadt.
Jeder macht hier ständig etwas. Wurschteln, Im-Zick-Zack-Rennen, Betrügen,
Zocken, Dinge verkaufen, immerzu verkaufen, verkaufen, verkaufen.
Nichts machen: gibt’s hier nicht.
Macher, machen: Klingt doch besser. Verdrängt das kleine Wörtchen Grab
daneben.
Machen ist stärker.
Machen – macher – am machsten.
Ja, das Machen ist es!

In dieser Stadt denken doch alle: Wir sterben nicht. Nee, wir nicht.
Alle sind so dumm zu denken: Wir sind für die Ewigkeit gemacht.
Alle tragen diese Ewigkeits-Visagen zur Schau.
Die Stadt ist jung, die Stadt ist Leben. Die Stadt ist Licht. Ihre Lichter gehen
nie aus. Es gibt keinen Augenblick der Stille in dieser Stadt. Keinen Moment
des Schweigens.
Nee, hörmal, gibt’s nicht.
Nicht einmal nachts um vier. Auch nachts um vier ist irgendwo
irgendetwas zu hören.
(Macht Lärmgeräusche.) Brooooaaahhh. Schschschschsch.
Achten Sie mal darauf.
Die Stadt ist Laufen. Ein Wettlauf, ein lärmender Wettlauf.
Die Stadt ist Rennen. Die Stadt ist aus Rennbahnen gebaut. Galopp, Galopp,
immer Galopp, Galopp. Aus Rennpisten.
Heute Trab, morgen im Grab.
Niemand denkt hier an den Tod. An das Ende.
Sie vielleicht?
Diese Stadt kommt ohne Ende aus. Das Ende wird nicht mitgedacht.
Das Ende hat keinen Platz. Sie kommen wahrscheinlich auch ohne Ende aus!
Sie, ja Sie!
Diese Stadt ist immer nur Anfang. Fängt immer nur an. Ständig fängt sie an.
Immerzu muss sie anfangen. Sie hat einen Zwang, immerzu anzufangen.
Wacht morgens auf und fängt schon an. Schläft abends nicht ein, sondern
fängt lieber wieder an. Sie verachtet die Nacht und liebt den Morgen, wenn
der Wecker klingelt und der Tag beginnt. Diese Stadt ist immer nur Anfang,
oder gerade mittendrin. Gerade dabei. Gerade bei dieser einen Sache.
Dann schon wieder bei der nächsten.
Sagt immerzu: Heute, heute, heute.
Immerzu: Jetzt, jetzt, jetzt.

Erst am Totenhaus merken die Leute: Oh, Mist, es gibt den Tod. Also doch.
Hoppla, hatte uns niemand gesagt, hatten wir ganz vergessen, hatten wir gar
nicht mehr so eingeplant. Gar nicht mehr so auf dem Schirm.
Erst wenn sie im Zellengang sitzen und warten, dass wir die Türen für sie
öffnen, merken sie: Oh, das ist er.
Das ist er also.
Unser Zellengang, das sind 15 Kühlzellen nebeneinander. Fürs letzte Treffen.
Meist ohne Gespräch. Also, ohne hörbares Gespräch. Hier liegen sie wartend,
aufgebahrt für die letzten gemeinsamen Stunden.
Sogar eine Dreier-Zelle gibt’s. Falls alle gleichzeitig sterben.
Alle auf einmal: Vater, Mutter, Kind.
Als die Bauarbeiten am Hauptfriedhof waren, wurde in unseren Zellen
zwischengelagert.
Die reine Leichenspedition – aus der Stadt hoch zu uns und von uns dann
runter zur Bestattung.
Da war Bewegung drin! Da war was los!
Aber – ist schon komisch, wenn die Leute überrascht sind, weil sie vom Tod
erwischt werden. Als hätte ihnen das keiner gesagt. Als hätte man ihnen
verschwiegen, dass ein Mensch eines Tages stirbt.
Dass der Tag kommt.
Dass wir Menschen sterben.
Dass es am Ende unseres Plans steht.
Und dass sich dieser Plan immer erfüllt: ausnahmslos, ohne Ausnahme.
Dass wir dafür vorgesehen sind. Dass nur das und nichts anderes
unsere Vorsehung ist.
Nein, nichts anderes.
Dass sich unser Tod bereit hält, sobald wir auf der Welt sind.
Dass er mitläuft. Sich aufstellt, losgeht, sprintet, die Lust am Laufen
verliert, einen Umweg geht, uns aber nie aus den Augen verliert,
sondern irgendwann anklopft und sagt: Hallo.
Oder nichts sagt.
Nur anklopft, sich setzt und wartet.
Überall macht er das – nicht nur am Krankenbett, Sterbebett. Überall hängt
er doch rum – an der Autobahnauffahrt Schwanheim-Goldstein, nachts an
der Hanauer Landstraße, im Park auf einer Bank im Schatten, Louisa,
Stadtwald, Günthersburgpark, auf dem Fußballplatz, Tennisplatz, im Freibad
schwimmt und taucht er mit, er steht im Aufzug, in der Tiefgarage oder an
den Bahngleisen – da hockt er viel, da kauert er oft.
Da verbringt er gerne Zeit.

Ich wohne an den Gleisen Richtung Süden. Unter mir die Züge, über mir die Flugzeuge. Die sehe ich vom Küchenfenster. Wenn ich frühstücke, morgens
um sechs. Im Sommer schon früher, da fange ich schon um sechs hier oben
an und gehe um drei, das ist schön im Sommer.
Ich halte den warmen Tee in meinen Händen und schaue aus dem Fenster.
Fühlt sich nach Leben an. Spricht von Leben, zeugt von Leben. Der Tee, dazu
mein Toast, mein Käse, meine Marmelade. Das Radio läuft, Musik und Nachrichten.
Überall ist Leben. Alles ist mit Leben gefüllt. Von Leben umgeben.
Fürs Leben gemacht und gedacht. Fürs Leben entworfen.
Ich stehe am Fenster und schaue auf den Verkehr. Die Lichter an der
Kreuzung gehen an und aus, das gleiche Spektakel jeden Morgen.
Wenige Autos um die Zeit, aber das Leben beginnt anzuklopfen,
das Leben meldet sich zurück, der Lärm setzt schon ein,
die Geschwindigkeit beginnt schon aufzudrehen.
Der Pulsschlag dieser Stadt.
Ihr Nervenkostüm.
Ihre Hirnrinde.
Ich schaue in das Morgengesicht meiner Frau. Müde, aber voller Leben.
Nachtnah, aber voller Leben. Verschlafen, schläfrig, aber voller Leben.
Ich nehme noch einen Schluck Tee, die Toten rufen, ich drücke ihr einen
Kuss auf die Stirn und gehe, die Treppen hinab, vom dritten Stock hinab
und dann quer durch die Stadt, durchs erwachende Leben,
durch den schlagenden Puls hoch zu meinem Hügel der Stille.

Oh! Die Moslems sind da!
Aber da habe ich nicht viel zu tun. Jetzt gehen sie zum islamischen
Bestattungsfeld. Zum Gräberfeld der muslimischen Kinder.
Sie tragen den Sarg selbst. Sie legen den Leichnam selbst ins Grab.
Der Imam im grauen Umhang hält den winzigen Leichnam. Ein Kind unter
einem weißen Tuch. Keine Frauen am Grab. Heute nicht.
Einer steigt hinein und legt den Leichnam ab.
Sie schaufeln das Grab selbst zu.
Alles, was ich zu tun habe: Ich muss es zeitig am Morgen ausheben.
Ich lege die Schaufeln für die Angehörigen bereit. Wird ein Erwachsener
beerdigt, stelle ich eine Leiter ins Grab.
Damit sie hinabsteigen können. Bei Kindern keine Leiter. Ich räume die
Dinge später weg. Das Blech, die Schaufeln.
Mehr muss ich nicht tun.

Es ist eine stille Arbeit.
Die Toten sind still.
Die Bäume sind still.
Es gibt wenige Besucher hier oben. Manchmal zieht ein Nordic Walker den
Hügel hinauf. Im Herbst kommen die Kindergärten zum Kastanien-Sammeln,
die Kinder gießen ihre hellen Stimmen über den Rasen, über die Gräber –
großzügig, verschwenderisch.
Viel Lebensgeräusch.
Sehr viel davon.
Ich mag, wenn es still ist. Ich mag keinen Lärm. Ich kann den Lärm
immer weniger ertragen. Immer schlechter aushalten.
Hinter der Baumreihe, da hinter den Steinen hört man ein bisschen
Landstraße. Aber das stört nicht. Ein bisschen Stadtverkehr von der Friedberger
Warte Richtung Osten.
Im Ernst: Heiligenstock schwebt über der Stadt.
Wie auf einem unbewohnten Planeten hier.
Sommer oder Winter – macht keinen Unterschied für mich. Bei Frost
und Eis müssen wir mit dem Schlagbohrer ran. 2006 war der härteste
Winter, Minus 18 Grad am Morgen, Eis-Hände, Eis-Ohren, tränende
Augen, die Luft wie ein Messer.
Das Ausheben an Eistagen, das ist schwer. Die Erde ist hart und störrisch.
Wie Stein. Die will einfach nicht.
Dazu viel Schneebereitschaft – unsere Rufbereitschaft für den Schneedienst.
Im Dunkeln fahre ich die Konduktwege ab und streue Split aus der Hand.
Wir Grabträger dürfen nie rutschen. Nie!
Der Sommer war lang und heiß, die Klimawandelsommer fangen jetzt an,
das wird noch was. Wir haben nur mit Schlagbohrer ausgehoben, mit der
Schaufel ging gar nichts mehr.
Die Erde wie Beton.
Diese vier riesigen Kiefern da hat der Sommer zerstört. Getötet.
Hat er auf dem Gewissen.
Wir haben nur die Jungbäume bewässert, aber die haben es auch nicht alle
geschafft. Haben einfach nicht genug Wasser bekommen. Nichts zum Trinken
gehabt. Und jeden Tag über 30 Grad. Das hält doch kein Baum aus!
Immerhin hat der Weihnachtsbaum überlebt. Da vorne, die große Tanne
vor der Trauerhalle. Noch immer samtig grün. Noch immer üppig.
Im Advent kriegt sie wieder ihre Lichterkette.
Nur für uns spielt das Wetter eine Rolle. Die Angehörigen kümmert es nicht.
In den Menschen ist Winter.
Draußen ist Sommer, Frühling, Herbst – aber in ihnen ist Winter.
In den Menschen liegt Bodenfrost.
In ihren Blutbahnen fließt das Blut knapp über Null, knapp über dem
Gefrierpunkt.
An heißen Tagen bibbern sie. Das macht der Tod mit ihnen.
Das macht die Halle mit ihnen. Der Tod fängt schon mal an – und den
Rest übernehmen die Trauerhallen. Unsere städtischen Kühltruhen,
unsere Winkel der Ruhe, unsere letzten Ecken des Stillstands,
die letzten Quadratmeter für das Andere.
Lasst doch mal die Sonne rein!, möchte ich rufen.
Mann, reißt doch mal die Fenster auf!
Dieses alte, abgelegte Wort, hier fällt es uns wieder ein: Ehrfurcht. Schreiben
Sie es mal auf, sagen Sie es mal, denken Sie es mal: Ehrfurcht.
Furcht und Ehre. Oder was heißt das?
Ehre und Furcht?
Furchtlos ist der Geehrte?
Furcht in der Ehre?
Keine Ehre ohne Furcht?
Ehre dem, der fürchtet?
Nur wer fürchtet, wird auch geehrt?
Das zusammengenommen, in einem Wort. So verschränkt, als Paar.
Ziehen Sie es mal ganz langsam auseinander:
E h r f u r c h t.
Und schon wird Ihnen kalt.
Schon fangen Sie an zu zittern.

Ich bin Grabmacher.
Das heißt, mein Anzug ist maßgeschneidert. Der Schneider kommt und
nimmt Maß. Ich habe zwei Anzüge, fünf Hemden mit langem Arm, fünf mit
kurzem. Die Hemden wasche ich zuhause, der Anzug muss in die Reinigung.
Schlimm sieht der aus, wenn es heftig regnet. Einen Schirm tragen wir nicht,
haben ja keine Hand frei für den Schirm. Der Pfarrer geht mit Schirm.
Wir nicht. Regen, Pfützen, Schlamm, Erde – und meine Hose ist ruiniert.
Am Anfang?
Ja, am Anfang hatte ich Träume. Klar hatte ich die.
Ich immer unter einer dunklen Wolke, die zog nicht weiter. So eine schwarze,
tiefhängende, jeden Moment aufreißende und lostobende Gewitterwolke.
Aber nie riss sie auf und tobte los. Setzte sich nur jede Nacht in meinen
Traum – fett und düster und träge.
Aber jetzt schlafe ich gut.
Schon lange. Der Tod kommt nicht in meinen Traum.
Er macht Halt vor meinem Traum. Halt vor meinem Bett.
Vor meinem Kopfkissen. Ich bin ausgeschlafen am Morgen.
Punkt Sieben fangen wir an. Wir sind zu zwölft. Die Chefin plus
zwölf Männer, die sich übers Grün verteilen.
Gräber ausheben. Für den Sarg: drei bis vier Männer.
Für die Urne: reicht einer.
Gartenarbeiten, Rasenmähen, mit dem Rasenmäher über den Trauerhain.
Den Platten macht das nichts, den gravierten Namen mit ihrem von – bis
macht das nichts. Büsche stutzen, Bäume schneiden, am Denkmalplatz
welke Blumen einsammeln.
Die Chefin sagt, was zu tun ist. Wir gehen die Bestattungspläne durch.
Grünflächenamt 67.51.2. Zeit: 12 Uhr. Art: Trauerfeier und Bestattung.
Art 2: Urne. Friedhof: Heiligenstock. Name: Fischer, Christl.
Bemerkung: Urne kommt eine Stunde vor Trauerfeier.
Überurne. Orgel. Gefüllte Schale. Grab: 04 0176 c UG, vorne links.
Grabart: Urnenwahlgrabstätte.
Pietät:: Walter. 1. Kontrolle: Gianni. 2. Kontrolle: Ich.
Siebentausend Gräber mit Nummern. Da kann schon mal was
schiefgehen. Darf nicht passieren? Passiert aber. Ist uns passiert.
Ist mir passiert. Ja, echt, einmal hatten wir das falsche Grab ausgehoben.
Den ganzen Vormittag das falsche Grab ausgehoben. Den ganzen
Vormittag den Schweiß von der Stirn gewischt, die Schaufel aufgesetzt,
uns abgestützt für eine Pause, einen Schluck Wasser getrunken und dann
weitergegraben – leider an der falschen Stelle. Ein Meter dreißig mal zwei
Meter zwanzig – völlig umsonst. Ein Meter achtzig tief – völlig umsonst.
Als wir uns mit dem Sarg genähert haben, ist mir plötzlich sehr heiß
geworden. Als ich davor stand und gemerkt habe: Sch…, es ist das andere!
Es ist das Grab daneben. 0134 ist es und nicht 0135.
Sehr heiß unter meiner Mütze.
Ich hab’s dem Pfarrer geflüstert. Mit der Zeit kennt man ja alle und weiß,
wer verträgt einen Spaß. Wer kann gar nicht lachen. Hat nie lachen gelernt.
Die Angehörigen haben es gar nicht gemerkt. Wir haben entschieden,
der Sarg bleibt stehen und wird nicht versenkt. Erst später dann,
ins richtige Grab. Das wir noch ausheben mussten.
Ja, das gab Ärger. So ein Mist!
Deshalb jetzt immer zwei Kontrollen. Zwei Augenpaare. Vier Augen.
Fehler sind bei uns nicht vorgesehen. So eine Bestattung muss
reibungslos geschehen. Muss surren. Und gleiten. Widerstandslos.
Das Sterben ist ja Fehler genug. Die Beerdigung muss fehlerfrei sein.

Also, ich bin Grabmacher.
Ich mache eine Arbeit, die keiner machen will. Von der kaum jemand etwas
weiß. Von der sich alle abwenden. Oder? Wie viele Grabmacher kennen Sie?
Wie viele Grabmacher lassen Sie an ihrem Tisch essen?
Alle denken doch, das bringt Unglück. In meiner Nähe zu sein, bringt sofort
Unglück. Das Komische ist: Jeder braucht mich. Jeder will, dass es mich gibt.
Die Menschen würden verzweifeln, wenn es mich nicht gäbe. Jeder will,
dass ich diese Arbeit erledige.
Umbettungen zum Beispiel.
Umbettung – das klingt fast schön, oder?
Bett – das klingt doch weich, nach Decke und Kissen, warm und weich.
Heißt aber: Alles wieder aufbuddeln und raus. Die Familie geht zurück
in die alte Heimat – und nimmt die Großmutter mit.
Die Familie geht ­zurück in die Türkei – und nimmt den Vater mit.
Die Familie geht zurück nach sonstwohin – und nimmt die Mutter mit.
Obwohl ich denke: Lasst den Toten die Ruhe. Lasst sie liegen,
lasst sie hier. In dieser Erde.
Das weiße Leinentuch ist nach Jahren lila-schwarz. Viel besser und einfacher
für uns, man wurde im Leinentuch begraben. Am schlimmsten ist so ein
Zinksarg. Zinksärge – die sind wie Bunker. Sollten Sie jemals einen Bunker
brauchen, verstecken Sie sich in einem Zinksarg.
Öffnen Sie mal so einen Zinksarg für eine Umbettung und versuchen Sie
nicht umzufallen. Denken Sie: Kloake, brackiges Wasser, gekippter Teich –
und dann denken Sie noch etwas dazu. Denken Sie: faul, modrig,
verschimmelt, vergoren – und dann denken Sie noch etwas dazu.
Ist die Pacht abgelaufen, zahlt keiner mehr fürs Grab,
dann gibt die Chefin es frei. Wir öffnen es und entfernen den Sarg,
wir räumen es. Ich muss schauen, ist noch Fleisch an den Knochen.
Klebt da noch was, hängt da noch was. Oder sind es nur noch Knochen.
Also, Leinen macht die Sache viel einfacher für uns.
Auch Urnen sind einfach. Die Urnen verrotten und die Asche
der Toten vermischt sich mit der Erde. Asche zu Asche. Staub zu Staub.
Heißt doch so.
Wir heben das Grab tiefer aus und versenken die Knochen,
dann schaufeln wir Erde darauf. Das Grab kann wieder verkauft werden,
der nächste Sarg kann kommen – Doppelbelegung.
Aber erst planiere ich es. Und streue Grassamen. Das Gras beginnt langsam
zu wachsen. Es lässt sich Zeit, es dauert. Vielleicht weigert es sich auch.
Weigert sich, an dieser Stelle zügig zu wachsen. Überhaupt zu wachsen.
Die Knochen bleiben.
Die Knochen sitzen tief in der Erde.
Irgendwann sind alle Wiesen voller Knochen.
Wir gehen über Knochenwiesen.
Da sprießt der Rasen, da zeigen sich die Gänseblümchen.
Da springen die Eichhörnchen.
Sie lieben unsere Knochenwiesen.

Ich war Fahrer, jetzt bin ich Grabmacher.
Ich habe Pakete ausgeliefert. Gelbe Jacke, Scanner, immer am Rennen.
Immer im Dauerlauf. Immer mit der Uhr in der Hosentasche.
Immer mit der Uhr am Handgelenk. Immer gegen die Zeit. Immer mit
Warnblinker. Immer das dämliche Hupen im Rücken.
Geht doch nicht schneller, wenn einer hupt!
Dann wurde verkauft, ich sollte Einzelunternehmer werden. Nein Danke,
habe ich gleich gesagt, nicht mit mir. Die anderen waren früher Bäcker oder Heizungsinstallateure.
Gianni war Fischer.
Ja, wirklich. Fischer in Kalabrien.
Seit er elf war, ist er mit seinem Vater jede Nacht hinaus aufs Meer. Winter,
Sommer, kaltes Wasser, warmes Wasser. Kein Samstag, kein
Sonntag, kein Wochenende, kein freier Tag. Keine Freizeit. Kein Feierabend um halbvier.
Mit zwanzig kam er nach Deutschland. Erst Hauptfriedhof, da war schon sein
Onkel Grabmacher, dann Bockenheim, dann zu mir, Heiligenstock.
Ich frage ihn, vermisst du das Meer?
Er sagt, nein.
Ich frage ihn, vermisst du die Sonne?
Nein, sagt er.
In Italien ist das Grabmachen anders. Sagt Gianni. Nach 15 Jahren verlässt
jeder sein Grab, alle werden herausgeholt. Umbettung ist Standard.
Auch wenn noch Fleisch dran ist. Die Knochen werden mit Alkohol gereinigt
und kommen in eine kleine Knochenschublade. Schild drauf, Name drauf.
Die kennen Sie doch, diese Wände auf italienischen Friedhöfen.
Schwarzglänzend unter der Sonne des Südens.
Mit goldenen Schriftzügen und Fotos.
Sind Knochenwände.
Reine Knochenwände.
Ein Nord-Süd-Gefälle? Ja, gibt es. Sogar bei den Trauernden. Die Südländer
schreien und weinen, sie schimpfen mit dem Tod, sie wollen ihn verjagen,
vertreiben, die Südländer schütteln die Köpfe, sie klammern, sie raunen in
dieser Endlosschleife neinneinneinnein, nonononono. Einmal hat sich
eine Mutter auf den Sarg geworfen. Wir standen an der Grube, hatten soeben
den Sarg angehoben, wollten den Sarg gerade hinablassen – und in diesem
Augenblick wirft sie sich auf den Sarg. Bäng! Noch einmal sechzig Kilo mehr.
Oder siebzig. Italienerin. Die Tochter war 21. Im Sarg die 21jährige Tochter.
Ich kann’s verstehen, ja, klar, kann ich. Aber meine Schulter!
Die Nordländer sind gefasst und still. Meistens. Sie klagen still, sie weinen
still. Sie tragen wenig nach außen, machen vieles mit sich selbst aus.
Nach innen. Sie schlucken. Und gehen danach zum Leichenschmaus. Leichenschmaus! Zum Schmaus der Leiche!

Gianni kann kochen.
Ja, und wie der kochen kann! Hätte auch Koch werden können!
Mittags schicken wir ihn hoch, damit er für alle Spaghetti mit Scampi macht.
Spaghetti Carbonara. Spaghetti Vongole. Ich sage, ich grabe das für dich aus,
und du gehst hoch kochen. Viele Italiener hier am Heiligenstock. Portugiesen.
Ich sag Ihnen was: Wir haben eine tolle Stimmung!
Wir verstehen uns ohne viel Reden. Wir nicken, geben uns Kommandos ohne
Ton. So ungefähr. (zeigt Kommando, gibt Zeichen)
Neulich hat Gianni seinen Autoschlüssel unter die Schirmmütze gesteckt.
Und ihn dann vergessen. Als wir den Sarg absetzten, um uns zu verneigen,
zog er die Mütze ab, und KLONK!, schlug der Schlüssel auf den Sarg.
Ja, und da versuchen Sie mal nicht zu lachen! Einfach weiter im Text und
nicht lachen!

Weh tun nur die Kindergräber.
Die schmerzen. Hier, unter der Brust, über dem Bauchnabel. Das kann man
nicht wegschieben, das kann man nicht ausschalten. Das kann man nicht
wegatmen, nicht wegdenken. Das kann man kaum aushalten. Das ist wie
Teer. Heiß ausgegossen und dann hart geworden.
Ein Meter mal ein Meter das kleinste.
Das bricht Ihnen das Herz.
Ich muss nicht weinen, wenn ein 92jähriger stirbt. Nee, muss ich nicht.
Warum denn? Hat doch alles gehabt, alles erlebt, mehr darf man nicht
erwarten, mehr kann man nicht kriegen als 92!
Aber bei dem Jungen musste ich.
Letzten Herbst, die Jahreszeit, wenn es früh dunkel wird. Feucht, düster,
klamm und neblig. Ein Autounfall, draußen auf der Landstraße, Berger
Schützenhaus Richtung Maintal. Sie kennen das, diese Herde Schafe, wenn
man Bergen verlässt, – und dann die Route direkt in den Tod. Jemand war
Vater und Sohn auf der Landstraße ins Auto gerast.
So ein besoffenes Arschloch.
Da denkt man: Der liebe Gott hat diese Scheißkarteikarte verschlampt.
Irgendso ein Scheißengel hat sie in der Konferenz mit seinem Scheißflügel
erwischt und keiner hat es gemerkt. So ein Scheißengel im ersten Lehrjahr
hat sie beim Fortschweben in den scheißhimmlischen Gulli getreten.
Der Vater hat überlebt, der Junge war sofort tot. Der Vater kam mit
eingegipstem Arm zur Beerdigung, humpelnd, mit Krücke. Stand mit Gips
und Armschlaufe am Grab und musste seinen Sohn beerdigen.
Der hatte kaum Zeit für ein DAVOR gehabt. Ganz wenig Zeit für ein DAVOR.
Wie der Vater geredet hat! Über die Unvorhersehbarkeit des Lebens.
Nee, ich glaube: des Todes, ja, so ist es richtig, so muss es sein,
über die Unvorhersehbarkeit des Todes. Mann!
Ich hätte schreien wollen: So ein besoffenes Arschloch muss ins Grab!
Aber nicht der Junge!
Das besoffene Arschloch!
Nicht der Junge!

Grabmacher bin ich.
Hebe das Grab aus. Das große, das kleine.
Die Urne bringe ich allein.
Den Sarg mit den Kollegen.
Ich gehe um drei, ich gehe zurück ins Leben.
Ich lasse die Stille hinter mir und gehe ins Leben. Fühlt sich warm an. Fühlt sich heiß an.
Auch an kalten Tagen fühlt es sich heiß an.
Mit jedem Schritt wird es lauter, manchmal ohrenbetäubend laut.
Flugzeuge, Autos, Menschen, Stimmen, Straßenbahnen, Sirenen.
Die Leute rennen, reden, streiten. Wie sie rennen!
Wie sie immerzu reden müssen! Und Streiten.
Hey, wozu streiten!? Morgen schweigt ihr.
Warum rennt ihr?
Morgen seid ihr kalt.
Warum streitet ihr?
Morgen seid ihr reglos.
Ich kann ablesen, was DAVOR geschehen ist.
So setzt sich die Trauergemeinde zusammen, so sehen die Gesichter aus.
Ja, ist leicht abzulesen:
Kleines Leben, großes Leben.
Wenig Leben, viel Leben.
Karges Leben, reiches Leben.
Klasse Leben. Scheiß Leben.
Kann ich sehen, kann ich den Gesichtern in der Trauerhalle ansehen.
Manchmal kommen drei und keiner weint. Manchmal 150 und alle weinen.
Ja, alle. Alle 150.
Echt.
Wenn die halbe Stunde nicht reicht, weil sie länger weinen wollen und für die
doppelte Belegung zahlen. Also zweimal die halbe Stunde.
Dreißig Minuten mal zwei.
Da kann ich ablesen, wie das DAVOR war. Ganz einfach ablesen.
Das Von-Anfang bis Gestern-Noch.
Ich kann sehen, wie es mit dem Glück war.
Ob es eins gab.
Ob es da war.
Ob das Glück die Hand gereicht hat – und jemand vielleicht gesagt hat: nein
Danke. Ob das Glück die Hand gereicht hat – und jemand so dumm war und
gesagt hat: jetzt gerade nicht.
Ob das Glück die Hand gereicht hat – und jemand gesagt hat: äh, später vielleicht.
Also, ich mache das nicht.
Ich warte nicht auf die bessere Gelegenheit. Den rechten Augenblick.
Bis es für mein DAVOR dann zu spät ist. Bis mein DAVOR über Nacht
plötzlich abgelaufen ist.
Peng – vorbei ist.
Ach, man muss auch nicht alles bis ins letzte verstehen – man muss: leben.
Also:
Das Glück reicht mir die Hand – und ich sage, ja bitte!
Das Glück bestreicht mein Toast mit Marmelade und ich sage, Dankeschön,
und wünsche mir einen guten Appetit.
Das Glück reicht mir die Hand – und ich sage, ja, passt mir gerade.
Klar hab ich Zeit.
Das Glück reicht mir die Hand – und ich sage, nein, nicht später, jetzt.
Ja, passt.
Genau jetzt passt es.
Der Tod ist doch schließlich verrückt.
Nicht das Leben.

© Zsusza Bánk

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