Das Agora-Prinzip
Milo Raus Prozesstheater in Moskau und Zürich
von Christine Wahl
Erschienen in: Die Enthüllung des Realen – Milo Rau und das International Institute of Political Murder (11/2013)
Im blütenweißen Hemd tritt Alex Baur, geschätzter Endfünfziger mit optischem Mid-Ager-Appeal, nach drei Prozesstagen in den Zeugenstand, um stellvertretend das „letzte Wort der Angeklagten“ zu sprechen. Die Tatverdächtige ist Baurs Arbeitgeberin, die Schweizer „Weltwoche“ – bekanntermaßen ein Blatt, das Minarette, Kopftücher, Homosexuelle und andere traditionell eher SVP-ferne Phänomene zu seinen Lieblingsfeindbildern zählt. Als die „Weltwoche“ 2012 auf ihrem Cover das Foto eines kleinen Roma-Jungen druckte, der – mit einer Pistole in der Hand – direkt auf den Betrachter zielte, und das Ganze mit der Schlagzeile „Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz“ garnierte, wurden verschiedentlich erfolglos Klagen angestrengt. Tatsächlich war das Bild auf einer Mülldeponie im Kosovo entstanden, wo ein Kleinkind stolz das einzige Spielzeug in die Kamera gehalten hatte, das es weit und breit finden konnten: eine Plastikpistole.
Den Prozess gegen die „Weltwoche“, der realiter also nie stattfand, aber mental permanent im öffentlichen Erregungsraum steht, inszenierte nun der Schweizer Regisseur Milo Rau als fiktive Theater-Debatte – allerdings mit realen Betroffenen, tatsächlichen Diskursführern und juristischen Profis. Die Anklage (wegen „Schreckung der Bevölkerung, Rassendiskriminierung und Gefährdung der verfassungsmäßigen Ordnung“) übernahm mit dem Zürcher Rechtsanwalt Marc Spescha ein handverlesener Migrationsrechtsexperte. Als Verteidiger schritt der intellektuell höchst charismatische Glatzkopf Valentin Landmann auf der...