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Kleiner Mann, was nun?
Ein Jahresrückblick der Redaktion auf Geschlechterbilder im Theater 2021
von Dorte Lena Eilers und Christine Wahl
Erschienen in: Theater der Zeit: Kleiner Mann, was nun? – Geschlechterbilder im Theater – Ein Jahresrückblick (12/2021)
Assoziationen: Akteure Dossier: Kunstinsert

Begonnen hatten wir das Jahr 2021 mit dem „Lachen der Medusa“. Unter dem Motto „Feminismus, Theater, Performance“ beleuchteten wir in unserer Januar-Ausgabe Geschlechterbilder auf der Bühne – und stellten fest: Der Wille zum dramatischen Gretchen-, Ophelien- und Iphigenien-Empowerment ist groß. Allein: Der Weg gestaltet sich steinig. Tut man dem Feminismus, dem Theater und dem Synapsenbetrieb in den Publikumshirnen wirklich einen Gefallen, wenn man die kanonischen Könige Lear, Agamemnon und wie sie alle heißen kurzerhand zu debilen Würstchen verzwergt? Und was sagt das eigentlich, so rein inszenierungskonsistent gedacht, über die Zurechnungsfähigkeit und den Empowermenterfolg der Klytämnestras aus, wenn sie sich derartige Witzfiguren zum Gatten wählen? Macht weibliches Leiden am Westentaschenwinzling, der – siehe unser Cover – das Ende der Sprossenleiter noch nicht einmal erahnen kann, die er erklettern müsste, um auf Augenhöhe mit seiner Ehefrau/Tochter/Geliebten/Gegenspielerin/Kollegin zu gelangen, das Theater wirklich attraktiver?
Viele offene Fragen also – unstrittig war damals, im Januar, lediglich ein Punkt: Die Diagnosen können nur ein Aufschlag sein, das Sujet wird uns fürs kommende Jahr – und darüber hinaus – dramatisch auf Trab halten. Mit der letzten Ausgabe des Jahres 2021 wollen wir nun erneut Bilanz ziehen sowie – ebenfalls mit einem (literatur)kanonischen und gern für die Bühne adaptierten Werk – auch schon mal perspektivisch für 2022 ff. fragen: Kleiner Mann, was nun? Inspirieren ließen wir uns von der amerikanischen Comedy-Autorin Nicole Tersigni, die auf ihrem Twitter-Account etwas ganz Ähnliches macht wie Regisseurinnen und Regisseure auf der Bühne: Sie nimmt jahrhundertealte kanonische Werke – in diesem Fall aus der bildenden Kunst – und klopft sie luzide auf ihren Gegenwartsgehalt ab. Logisch, dass Tersigni mit ihren ironischen Kommentierungen der alten Schinken in derartiger Rasanz viral ging, dass es ihre Tweets inzwischen auch als Buch und als Kalender gibt. Gemäß der Autorin, die sich innerhalb der Geschlechterdebatte auf ein zentrales Subthema spezialisiert hat – nämlich auf „Men to Avoid in Art and Life“, also „Männer, denen du besser aus dem Weg gehst“ –, küren wir in unserem Jahresrückblick nicht nur den Bühnenhelden und die Bühnenheldin to avoid, sondern auch unseren persönlichen Mansplaining-Coverboy 2021.
Man to Avoid 2021
Ein Mann inszeniert einen Mann, der den Monolog einer Frau spricht, in welchem sie dem Mann erklärt, warum sie als Frau an ihm leidet. Ist das noch Autosuggestion? Oder schon Selbstgeißelung? Ich bin ein Schwein, ein Schwein, ein Schwein?
Ja, den Männern, das muss man ganz klar sagen, drohte in dieser Castorf-Premiere am 12. Juni 2021 am Berliner Ensemble tatsächlich der Fleischwolf. Riesig groß ragte auf Aleksandar Denić’ Bühne ein barbusiges Revuegirl empor, deren weit ausgebreitete Klauen jederzeit nach den unter ihr entlanghastenden Männern zu greifen schienen. „Fabian“ von Erich Kästner, diese kurz nach Erscheinen wegen seiner frivolen Sexszenen der Zensur zum Opfer gefallene Geschichte um den arbeits- und mittellosen Germanisten Jakob Fabian, der am Vorabend der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten durch das Berliner Nachtleben taumelt, ist ein Roman der starken Frauen. Cornelia Battenberg, Frau Hetzer, Irene Moll – allesamt weibliche Charaktere, die sich auf ihre je eigene Art nehmen, was ihnen gefällt, dabei den männlichen Part zum Trittbrett, Sidekick oder Toyboy formatierend, wogegen die Männer freilich rebellieren.
Normalerweise machen solche Geschlechterkämpfe bei Frank Castorf einen Heidenspaß. Es geht drunter und drüber, durch Betten und Bars, Diskurse und Referenzen – nur larmoyant, das wird es nie. Erstaunlich war daher, was für ein neuer Ton sich ausgerechnet in die „Fabian“-Inszenierung eingeschlichen hatte, die nach etlichen pandemiebedingten Verschiebungen so sehnlichst erwartet worden war. In schier endlosen – und leider endlos peinlichen – Passagen musste sich Marc Hosemann als Fabian mit den Klimakterium-getränkten Gefühlsergüssen einer Frau herumschlagen, die sich, in Paris lebend, über die emotionale Kälte ihres leider viel zu selten aus Berlin anreisenden Liebhabers echauffiert (Ähnlichkeiten mit lebenden Regisseuren oder Schauspielerinnen waren dabei natürlich absolut zufällig). Das ergab einen Sound, der verdächtig nach Brigitte-Prosa klang: „Als du am 23. Dezember zu mir kamst, warst du so grob zu mir.“ Oder: „Wann hast du mich das letzte Mal umarmt?“
Nein, boys and girls, mit dieser Frauenversteher-Attitüde kommen wir nicht weiter, sondern segeln vielmehr zurück in die achtziger Jahre, als Grünen-Politiker extra Stricken lernten, um im Bundestag ihren feministischen Anspruch zu demonstrieren. Wollen wir das? Nein! Denn sonst landen wir bei Nicole Tersignis Coverboy von Seite 62 ihres Buches, einem Mann, der sich jovial zu einer Frau am Tisch hinüberbeugt, um ihr mit Kennerblick zuzuraunen: „Lass mich dir etwas über den weiblichen Körper erklären …“ Da kann man nur sagen: Ab in den Fleischwolf mit dieser Regie-Idee! Zum Glück steht dieser bei Frank Castorf, dem großen Dialektiker sei Dank, im Hinterzimmer auch schon bereit.
Woman to Avoid 2021
Diese Kategorie muss ex positivo aufgezogen werden. Man erinnere sich an ein Gastspiel von Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater 2016 in Berlin. Sieben Jahre nach dem Tod der großen Choreografin zeigte das Ensemble noch einmal ihr legendäres Stück „Palermo Palermo“, das im Dezember 1989 in Wuppertal Premiere gefeiert hatte und mit einem symbolischen Knall begann: Unter lautem Krachen kippte gleich zu Beginn die von Bühnenbildner Peter Pabst errichtete bühnenportalhohe Steinmauer hintenüber. Krawumm! Da lag sie vor einem, die unwirtliche Trümmerlandschaft, auf der die Fortbewegung, insbesondere auf Stöckelschuhen (Frauen wie Männer), immerzu ein Wagnis war. Unvergessen in dieser unvergesslichen Choreografie war der Auftritt der Tänzerin Nazareth Panadero, die mit einem dicken Bündel Spaghetti in der Hand an der Bühnenrampe stand und die Pasta unmissverständlich für sich reklamierte. „Alles meine. Die gehören alle mir.“ Diese Nummer dauerte gefühlte zehn Minuten, in denen Panadero in allen Schattierungen der Freude, des Genießens und des Stolzes, der Habgier, des Besitzanspruchs und der Großfrausucht ihrer Macht über diesen Schatz – und ihrem Unwillen, ihn zu teilen – Ausdruck verlieh.
Blickt man nun auf die Inszenierungen einschlägiger kanonisierter Werke in den vergangenen Monaten, fällt auf, wie selten es Regisseurinnen und Regisseure schafften, derart schillernde und ambivalente Frauenfiguren zu zeichnen. Insbesondere wenn es um Frauen in Machtpositionen ging, wurden die damit einhergehenden psychologischen Untiefen gerne umschifft. Anne Lenks „Maria Stuart“ – und hier muss ein wenig geschummelt werden, denn die Inszenierung hatte noch kurz vor dem Lockdown 2020 Premiere, war aber Teil des Theatertreffens 2021 – ist ein Beispiel dafür. Der Kampf der beiden Königinnen Maria Stuart und Elisabeth um Macht, Männer und Einfluss wird im Spiel von Franziska Machens und Julia Windischbauer mit großen Gesten und rollenden Augen dem Ulk preisgegeben.
Doch auch so kommen wir im Genderdiskurs nicht weiter, wenn charakterliche Verirrungen wie Habgier, Neid und Geltungsdrang („Alles meins!“) – selbst wenn die aktuelle Beweislage damit prozentual einhergeht – auf der Bühne lediglich männlich konnotiert werden, während Frauen diesen Wahnsinn kichernd überspielen. Das emanzipatorische Projekt wird nicht durch einen ungeschönten Blick gefährdet, sondern durch Unehrlichkeit. Das machte die Szene bei Pina Bausch so stark: Hier wurde ein genderneutrales menschliches Phänomen auf die Bühne gebracht, umhüllt von einer auf dem Pfennigabsatz balancierenden lebensklugen Ironie.
Mansplaining-Coverboy 2021
Diese Wahl fiel uns zugegebenermaßen besonders schwer; hier konnten wir wirklich aus einer dankbaren Überfülle schöpfen. Am überzeugendsten hat sich, übers Jahr betrachtet, aber letztlich der Typus des ungefragten Beraters den Spitzenplatz erarbeiten können – den augenscheinlich auch Tersigni sehr zu schätzen weiß: Es handelt sich um den selbstlos dilettierenden Zeitgenossen von Seite 5 dieses Heftes, der sich zu einer weiblichen Expertin hinunterbeugt, um sie in salbungsvoller Zugewandtheit über ihren Job – im speziellen Fall: das Mandolinenspiel – aufzuklären.
Klar: In life, art und auch work läuft einem dieser Männertypus especially to avoid zuverlässig als Nachbar, Tresenbekanntschaft oder Vorgesetzter über den Weg. Im Theater allerdings ist er freilich weniger auf der Bühne zu finden – denn dort reüssiert ja eben das Lear- und Agamemnon-Würstchen – als vielmehr dahinter beziehungsweise davor. Tatsächlich verbirgt sich unser Mansplaining-Coverboy des Jahres 2021 genau hinter jenem Helden, dem wir die heroische Helden-Verzwergung auf den Brettern überhaupt verdanken, weil er – frauenbewegt und -solidarisch, wie er ist – wirklich keine Breitbeiner-Mühe scheut und den Regietheaterbizeps bis zur allerletzten Muskelfaser anzuspannen weiß, wenn es darum geht, die eigenen Geschlechtsgenossen zu Schlappschwänzen zu erklären.
Zur ultimativen persönlichen Bestform läuft der ungefragte Berater im Regiefach aber erst auf, wenn er seine Hobby-Expertise vom eigenen Geschlecht weglenken und über die Frauenapotheose ergießen, wenn er die gigantische Theatermaschinerie also edelmütig im Dienste des weiblichen Empowerments dirigieren kann. „Lulu“ feministisch, die Schiller‘sche Räuberbande als Frauenbrigade, abendfüllende virile Sauf- und Kampfgelage, kritisch geframt von Schauspielerinnen, die buchstäblich am Rande stehend einwerfen, dass die ganze Chose unter weiblicher Handlungsregie anders gelaufen wäre: Die Liste ist so lang, dass wir mit ihr das ganze Heft füllen könnten. Daher also dem potenten Frauenerklärer, unserem Mansplaining-Coverboy anno 2021, an dieser Stelle unseren allerherzlichsten Dank für zwölf grenzenlos erkenntnisreiche Monate: Wirklich gar nicht auszudenken, was uns alles über unser Geschlecht, unser Leben und unsere Profession verborgen geblieben wäre, wenn wir diesen selbstlos dilettierenden Berater nicht hätten! //