Begegnungen mit Felsensteins Musiktheater
von Gerd Rienäcker
Erschienen in: Recherchen 51: Realistisches Musiktheater – Walter Felsenstein: Geschichte, Erben, Gegenpositionen (06/2008)
Assoziationen: Theatergeschichte Wissenschaft Musiktheater
Ich habe mein Referatsthema ins Subjektive transformiert, um fast 50 Jahre ins Blickfeld zu rücken, in denen ich – Schüler, Oberschüler, Student, Musikdramaturg, Assistent – Inszenierungen von Walter Felsenstein erlebte. Und fast 40 Jahre, in denen ich mich mit seinen Schriften, Reden, Inszenierungen und mit Reden, Schriften, Inszenierungen seiner Schüler auseinandersetzte. Als unsere Familie im Jahre 1954 nach Berlin zog, gab es zweierlei, das zu besuchen, zu erleben verbindlich war: Inszenierungen von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, Inszenierungen von Walter Felsenstein an der Komischen Oper. Mit beiden, Brecht und Felsenstein, hatte ich fürderhin zu leben, mit beiden mich auseinanderzusetzen. Was daraus für mich als Theaterbesucher, als Leser, Hörer, als Dramaturg, schließlich als versuchter Theoretiker und Historiker des Musiktheaters resultierte, möchte ich in wenigen Notizen festhalten, das ursprüngliche Thema „Felsenstein – ein Naturalist?“ wird, mitsamt den beigegebenen Fragezeichen, durchaus eine Rolle spielen.
I. Begegnungen also
1. Persönlich kannten wir uns nicht. Für ihn wäre solch Bekanntschaft ganz unerheblich, möglicherweise unerfreulich gewesen. Denn ich war, auch nach den beiden Dramaturgenjahren in Eisenach,[1] Anfänger in Sachen Musiktheater, ahnungslos, mithin kein Gesprächspartner. Zugleich, seit dem Ende der sechziger Jahre, polemisierte ich, was das Zeug hielt. Gegen Felsensteins Musiktheater-Auffassungen, so weit ich sie kannte...