Realismus und Realität
„Die Darstellung hat mich nicht überzeugt, weil sie nicht realistisch war.“ Mit diesen Worten brandmarkt eine Zuschauerin in einem Aufführungsgespräch die Darstellung einer Liebesszene auf der Opernbühne. Es handelte sich um Sebastian Baumgartens Inszenierung von Jules Massenets Werther an der Deutschen Oper Berlin (2002), in der Paul Charles Clarke die Titelrolle sang und verkörperte. Auf die Nachfrage, inwiefern diese Szene denn nicht realistisch gewesen sei, wartet die Zuschauerin mit folgender Erklärung auf: „Werther war dick und hatte lange fettige Haare. In so einen verliebt man sich nicht.“ Auf die erneute Nachfrage, ob dicke Männer mit fettigen Haaren sich wirklich nicht verlieben können bzw. ob ihre Liebe tatsächlich nicht erwidert werden würde, kommt folgende Antwort: „Doch, doch, in Wirklichkeit kommt das vor – aber auf der Bühne ist das nicht realistisch.“ Diese auf den ersten Blick vielleicht kuriose Behauptung macht deutlich, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was uns im Theater als wirklich erscheint. Zumindest mögen Zuschauer diese Unterscheidung machen. Wohl kaum ein Begriff geht ihnen dabei so leicht und selbstverständlich über die Lippen wie der des Realismus. Während die Verwendung anderer Stilbegriffe zur Beschreibung von Theater ein Mindestmaß kunsthistorischen Sachverstands erfordert,...