Eros und Intellekt
Stanislawski, Felsenstein und die Wahrheit des Theaters
von Jens Roselt
Erschienen in: Recherchen 51: Realistisches Musiktheater – Walter Felsenstein: Geschichte, Erben, Gegenpositionen (06/2008)
Assoziationen: Theatergeschichte Wissenschaft Musiktheater
Realismus und Realität
„Die Darstellung hat mich nicht überzeugt, weil sie nicht realistisch war.“ Mit diesen Worten brandmarkt eine Zuschauerin in einem Aufführungsgespräch die Darstellung einer Liebesszene auf der Opernbühne. Es handelte sich um Sebastian Baumgartens Inszenierung von Jules Massenets Werther an der Deutschen Oper Berlin (2002), in der Paul Charles Clarke die Titelrolle sang und verkörperte. Auf die Nachfrage, inwiefern diese Szene denn nicht realistisch gewesen sei, wartet die Zuschauerin mit folgender Erklärung auf: „Werther war dick und hatte lange fettige Haare. In so einen verliebt man sich nicht.“ Auf die erneute Nachfrage, ob dicke Männer mit fettigen Haaren sich wirklich nicht verlieben können bzw. ob ihre Liebe tatsächlich nicht erwidert werden würde, kommt folgende Antwort: „Doch, doch, in Wirklichkeit kommt das vor – aber auf der Bühne ist das nicht realistisch.“ Diese auf den ersten Blick vielleicht kuriose Behauptung macht deutlich, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was uns im Theater als wirklich erscheint. Zumindest mögen Zuschauer diese Unterscheidung machen. Wohl kaum ein Begriff geht ihnen dabei so leicht und selbstverständlich über die Lippen wie der des Realismus. Während die Verwendung anderer Stilbegriffe zur Beschreibung von Theater ein Mindestmaß kunsthistorischen Sachverstands erfordert, kann in Sachen Realismus jeder mitreden. Dabei ist sowohl die Forderung nach Realismus als auch deren angeekelte Zurückweisung nicht nur für konservative Zuschauer ein probates Mittel, sich alles vom Leib zu halten, was ihnen nicht in den Kram bzw. auf die Bühne passt.
Aber es wäre billig, wollte man die Rede vom Realismus nun als naive Ausdrucksweise unreflektierter Zuschauer abtun. Eine solche Verharmlosung des Begriffs wäre angesichts des 20. Jahrhunderts fahrlässig. Denn gerade hier ist Realismus ein proteusartiger Kampfbegriff gewesen. Kaum eine avantgardistische Innovation, zu der Realismus nicht als Gegenbegriff stilisiert wurde. In diesen Kontroversen – etwa der Expressionismusdebatte, die Ende der dreißiger Jahre in der Moskauer Exilzeitschrift Das Wort ausgelöst wurde, oder dem Formalismusstreit Anfang der fünfziger Jahre in der DDR – konnte sich der Begriff schärfen und drohte zugleich im kulturpolitischen Kampf ideologisch aufgeblasen zu werden und zur inhaltsleeren Verhandlungsmasse zu verkommen. Es soll im Folgenden aber nicht um diese historische Entwicklung oder Verwicklung des Begriffs gehen.
Die Äußerung der Zuschauerin über einen unrealistisch dicken Werther legt vielmehr eine andere Ausgangsüberlegung nahe. Der eigentliche Sparringspartner des Realismus ist demnach nicht der Expressionismus oder der Formalismus, sondern die Realität selbst. Denn dort, wo von Realismus gesprochen wird, macht sich sogleich ein Spannungsfeld auf zwischen Realismus und Realität. Wer angesichts einer Inszenierung von Realismus spricht, wirft damit implizit die grundsätzliche Frage auf, wie Theater und Wirklichkeit, wie Realismus und Realität überhaupt zueinander stehen. An der Antwort auf diese Frage misst sich nicht zuletzt der Stellenwert, den Theater innerhalb einer Gesellschaft erlangt. Auch dann, wenn wir Theater auf die Nachahmung von Wirklichkeit verpflichten, können wir es immer wieder erleben, dass diese auf der Bühne in einer Art und Weise aufschlägt oder gar einschlägt, die uns brüskiert und abstößt. Solche Irritationen und Schocks sind nicht den Auswüchsen des zeitgenössischen Regietheaters geschuldet, sondern theaterhistorische Phänomene, die die Geschichte des Realismus und des Naturalismus von Beginn an begleiten.
Der Streit um das richtige Maß an Realismus auf der Bühne ist deshalb keine reine Geschmacksfrage von Zuschauern. Vielmehr ist die These aufzustellen, dass die Debatte um den Realismus gerade dann virulent wird, wenn sich eine Gesellschaft darüber verständigen muss, was sie von der Wirklichkeit zu halten hat bzw. was sie für wirklich halten möchte. Der Streit um den Realismus im Theater ist damit Indiz für eine Krise außerhalb des Theaters. Diese Auseinandersetzung erhält ihre Aktualität gerade in einer Situation, in der angesichts fundamentaler medialer und sozialer Veränderungen die Frage danach, was wir überhaupt meinen, wenn wir scheinbar selbstverständlich von der Wirklichkeit sprechen, akut wird. Theater, das Wirklichkeit nicht nur darstellt, sondern im Vollzug der Aufführung wirkliche Momente schaffen kann, ist ein ausgezeichneter Ort, diesen Konflikt erfahrbar zu machen oder gar zu dramatisieren.
Felsenstein und Stanislawski
Das gilt insbesondere für die Komische Oper Berlin, deren Hausherr Walter Felsenstein sich in seiner langjährigen Arbeit stets gegen eine naive Realismuskonzeption verwahrt hat. Seine Überlegungen versprechen deshalb Hinweise, die über den theaterhistorischen Horizont und Felsensteins eigene Inszenierungspraxis hinausweisen. Nach diesen Ansätzen soll nun in Felsensteins publizierten Schriften gesucht werden. Am Anfang steht ein Zitat. Es lautet:
Die Zeit des Darstellers ist gekommen. Er ist der wichtigste Mann im Theater, ihn will das Publikum sehen, seinetwegen geht es ins Theater. In der Oper brauchen wir nicht nur gute Sänger, sondern auch gute Darsteller. Schauspielkunst und gesanglich-musikalisches Können müssen einander entsprechen.[1]
Dieses Plädoyer für den Sängerdarsteller stammt allerdings nicht von Felsenstein, sondern von einem Theatermacher, der heute vor allem als Sprechtheaterguru verehrt wird: Konstantin S. Stanislawski. Dass der russische Theaterleiter und Regisseur sein pädagogisches und theoretisches Schaffen auch auf die Oper bezogen hat, ist hierzulande ebenso in Vergessenheit geraten wie die Tatsache, dass der Opernmann Felsenstein ein veritabler Sprechtheaterregisseur war, der selbst als Schauspieler begonnen hat. Stanislawski jedenfalls zog es früh zur Oper. Schon in der Jugend wollte er Opernsänger werden, trat bei Operetten und Singspielen in Liebhabertheatern auf und nahm Gesangsunterricht. Erst massive Stimmprobleme setzten dieser Karriere abrupt ein Ende. Trotzdem blieb er der Oper verbunden, die sich für ihn als Zuschauer nicht nur durch eine intellektuell-sinnhafte, sondern auch eine leiblich-sinnliche Dimension auszeichnete. So heißt es in seiner Autobiografie Mein Leben in der Kunst: „Die Eindrücke von diesen Vorstellungen sind nicht nur akustisch und visuell geblieben, sondern mein ganzer Körper ist davon durchdrungen.“[2] Allein die Erinnerung an „die übernatürlich hohen Töne“[3] einer bestimmten Sängerin vermochten ihn noch Jahrzehnte später in Schwingung zu versetzen; und als er 1911 in Rom auf der Straße aus einem Haus eine Stimme hört, ist er gewiss, dass es sich um einen Sänger handelt, den er als 13-Jähriger 35 Jahre vorher in Moskau gehört haben will. Seinem verdutzten Begleiter erklärt er das mit den Worten: „Ich habe ihn gefühlt […]“[4]
Aber nicht nur als Zuschauer blieb die Oper sein Thema: Die 1888 von ihm mitgegründete Gesellschaft für Kunst und Literatur setzte sich zum Ziel, „gebildete Schauspieler der Opern- und der Schauspielbühne zu schaffen und […] beispielhafte Liebhaberaufführungen von Opern und Schauspielen zu veranstalten“.[5] Auch als 1918 die schauspielerische Ausbildung der Sänger beim Bolschoi-Theater verbessert werden sollte, war Stanislawski mit von der Partie. Das erste Zitat entstammt einer Lektion, die er dort 1926 vor Schülern hielt. Das so entstandene und nach ihm benannte Studio, das ab 1929 Operntheater Stanislawski hieß, leitete er bis zu seinem Tod 1938. Hier arbeitete er u. a. an Inszenierungen von Werther (1921), Eugen Onegin (1922), La Bohème (1927), Boris Godunow (1929) und Der Barbier von Sevilla (1933).
In Stanislawskis Biografie spielt Felsenstein freilich keine Rolle. Dennoch muss es keine Abweichung vom Thema sein, wenn die Ausführungen zu Felsenstein beim russischen Theatermann beginnen. Denn Felsensteins Überlegungen weisen vielfältige Parallelen zur Theorie und Methodik Stanislawskis auf, deren er sich auch bewusst war. So sagt er anlässlich der Eröffnung einer Stanislawski-Ausstellung 1963:
Alles, was Stanislawski unermüdlich und unnachgiebig erforscht, erkannt, erfahren, durchlitten, gepredigt und niedergeschrieben hat und was von Zeugen seiner Arbeit gesammelt und aufgezeichnet wurde, ist – wie alles Große und Bleibende – nicht nachzuplappernder Lehrsatz, sondern Aufforderung, es selbst zu erkennen, anzuwenden und ergänzend fortzuführen.[6]
Nun ist das Bekenntnis zu Stanislawski in der DDR jener Zeit ein ästhetischer und ideologischer Allgemeinplatz. Bereits 1953 hatte die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten zu einer offiziösen Stanislawski-Konferenz eingeladen, die unter der Leitfrage stand „Wie können wir uns die Methode Stanislawskis aneignen?“.[7] Damit war Stanislawskis Lehre zum Dogma erhoben, an dem kein Theatermacher vorbeikam. Durchaus fraglich ist jedoch, wie konkret Felsenstein sich mit Stanislawskis Schriften auseinandergesetzt hat. Die beiden Teile seines zentralen Werks Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst erschienen nämlich erst 1961 bzw. 1963 in vollständiger deutscher Übersetzung.[8] Da Felsenstein nicht Russisch las, war er bis dato auf unvollständige Auszüge und Übertragungen angewiesen, wie vor allem die einflussreiche Zusammenstellung Das deutsche Stanislawski-Buch von Ottofritz Gaillard (1946). Relativ früh lagen jedoch zwei Bücher in deutscher Übersetzung vor, die sich mit der Opernarbeit Stanislawskis beschäftigten. 1951 erschien Studioarbeit mit Stanislawski von Konkordija J. Antarowa, und 1954 folgte Stanislawskis Weg zur Oper von Grigori W. Kristi. Zumindest letzteres Buch wurde nach Auskunft von Felsensteins damaligem Assistenten Joachim Herz im Mitarbeiterstab diskutiert. Ziel der folgenden Überlegungen kann es aber nicht sein, die explizite Stanislawski-Rezeption durch Felsenstein zu untersuchen, vielmehr muss es darum gehen, jene Parallelen im Denken beider Theatermacher aufzusuchen, die sich aus heutiger Perspektive für die Konzeption des darstellerischen Handelns von Sängern ergeben. Im Einzelnen geht es um die schöpferische Dimension des Vorgangs der Darstellung, den Stellenwert von Text und Aufführung, den Sinn der Musik sowie die daraus abzuleitenden Konsequenzen für eine realistische Inszenierungs- und Darstellungsweise.
Wie schöpft man Realität
Mit ihrer Gründung 1947 stellt Felsenstein die Komische Oper vor die Aufgabe der „Wiederherstellung elementarer Gesetze auf der musizierenden Bühne“.[9] Damit sieht er sein Haus in einer bestimmten Tradition des europäischen Theaters, für die er vier Ensembles als unmittelbare Vorbilder anerkennt. Als ersten Meilenstein nennt Felsenstein eine Bühne, die man heute wohl als erstes europäisches Off-Theater bezeichnen darf. Gemeint ist das Théâtre-Libre, das André Antoine 1887 in Paris gründete. Es handelt sich dabei um ein Laientheater, das sich nicht nur der naturalistischen Bühnenliteratur verschrieben hatte, sondern zu deren Durchsetzung es auch neue Darstellungsweisen erprobte. Sein Gründer bezeichnete es denn auch als „Versuchslaboratorium der heutigen realistischen Bewegung“.[10] Des Weiteren erwähnt Felsenstein die 1888 u. a. von Otto Brahm in Berlin gegründete Freie Bühne, die sich das Théâtre-Libre nicht nur im Namen zum Vorbild machte, und das Deutsche Theater, dessen Leitung Max Reinhardt 1904 von Brahm übernahm. Und schließlich wird auch Stanislawskis Moskauer Künstlerisches Theater in die Traditionslinie der Komischen Oper gestellt.
Théâtre-Libre, Freie Bühne, Deutsches Theater und Moskauer Künstlerisches Theater – das ist eine ehrwürdige Ahnenreihe. Allein – was haben diese Häuser gemein? Sicher nicht – oder nicht nur – den Naturalismus, denn schon Reinhardt ging mit seinen phantastisch-realistischen Inszenierungen darüber hinaus. Und auch Stanislawski hatte eine symbolistische Phase, in der er auf der Bühne mit dem aufräumte, was Béla Balász später in der Expressionismus-Debatte als „privatpsychologische Kleinkrämerei“ und „Alkoven-Intimität der bürgerlichen Schauspielkunst“[11] bezeichnete.
Eine Gemeinsamkeit springt wohl sofort ins Auge: Es sind allesamt keine Musiktheater, sondern Sprechbühnen, auf die sich Felsenstein hier beruft. Er selbst hat eine Verbindung dieser verschiedenen Unternehmungen gesehen und in einem Satz formuliert, der auch als Credo seiner Arbeit angesehen werden kann: „Theater ist eine schöpferische Kunst und nicht – wie vielfach behauptet wird – eine reproduktive.“[12] Theater ist schöpferisch und nicht reproduktiv. Das klingt gut, aber auf den ersten Blick auch äußerst banal. Wer wollte dem Theater schöpferische Qualitäten absprechen? Die Pointe liegt natürlich in der Gegenüberstellung bzw. dem Ausschluss von schöpferisch und reproduktiv. Denn was kann Realismus bedeuten, wenn man damit nicht die Wiedergabe oder Reproduktion von Realität meint? Wie schöpft man Realität?
Was Felsensteins Formulierung besagt, ist, dass Realismus im Theater nicht bei der Abbildrelation des Dargestellten beginnt und so auf die Wirkungsdimension reduziert werden kann. Nicht ob etwas real aussieht und wirkt, sondern ob, inwiefern und wodurch etwas auf der Bühne real werden kann, ist die entscheidende Frage. Die Relevanz der Wirkung auf Zuschauer wird damit keineswegs geleugnet, doch diese kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss als notwendige Folge des schöpferischen Prozesses gelten.
Genau dies ist auch der Leitgedanke Stanislawskis, der das Erleben des Schauspielers auf der Bühne als schöpferischen Akt versteht. Schöpferisch heißt, dass im Augenblick der Aufführung etwas durch den Darsteller entsteht, er aus sich etwas hervorbringt. Damit rücken die Handlungen der Darsteller, ihre äußeren und inneren Aktionen und ihre Interaktion mit den Partnern in den Blickpunkt. Für Felsenstein wie für Stanislawski ist dies jedoch kein quasi autoästhetischer Vorgang, sondern in jedem Moment des Handelns strikt bezogen auf das Drama bzw. aus ihm abgeleitet.
Text und Werk
Stanislawskis Konzeption steht deutlich in der Tradition des literarischen Theaters. In Bezug auf die Schauspielbühne heißt es bei ihm:
Die Arbeit des Schauspielers beginnt also damit, das künstlerische Samenkorn des Dramas zu suchen. Er nimmt es in sich auf, und von nun an muß der schöpferische Prozeß in ihm beginnen, ein organischer Prozeß, vergleichbar allen Schöpfungsprozessen der Natur.[13]
Diese Formulierung mag uns heute reichlich metaphorisch überhöht vorkommen, doch kann man sie auch wörtlich verstehen. Die schöpferische Leistung des Schauspielers vollzieht sich für Stanislawski als ein natürlicher Vorgang, der sich also nicht in der äußeren Nachbildung von Figuren erschöpft. Dennoch ist es kein unwillkürliches Geschehen, kein spontaner unregulierter Akt. Bei der Auseinandersetzung mit dem Drama geht es um intellektuelle und analytische Kompetenz, die sich nicht darauf beschränken darf, effektvolle Szenen zu ermitteln. Worauf es genau ankommt, hat Stanislawski in einer Formel ausgesprochen, mit der er sich eine Formulierung Puschkins zu eigen macht: „Die Echtheit der Leidenschaften, die Wahrscheinlichkeit der Empfindungen unter den vorausgesetzten Situationen – das ist es, was unser Verstand vom Dramatiker verlangt.“[14] Und diese Forderung kann, so Stanislawski, auch auf den Schauspieler übertragen werden, „nur daß die Situationen, die der Dichter angenommen hat, für […] Schauspieler bereits festliegen, also die vom Dichter vorgeschlagenen sind.“[15] Diese Forderung hat Stanislawski auch auf das Musiktheater übertragen, wobei er keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Darstellern im Sprechtheater und Sängerdarstellern macht, jedoch feststellt, dass in der Oper nicht nur das Libretto, sondern auch die Partitur maßgeblich ist: „Bei der Oper gehe ich von der Musik aus und bemühe mich, den Anlaß zu finden, der den Komponisten dazu gebracht hat, sein Werk zu schreiben.“[16]
Auch Felsenstein lässt keinen Zweifel daran, dass die schöpferische Tätigkeit des Darstellers von der Partitur auszugehen hat. Im Mittelpunkt steht damit der Werkbegriff, den zu ontologisieren Felsenstein gelegentlich geneigt ist, etwa wenn er vom „Wesen eines Opernwerks“[17] spricht. Genauer geht es um die „Intentionen des Komponisten und des Autors“,[18]die zu ermitteln sind. Schöpferisch ist diese Auseinandersetzung mit dem Text nur, insofern sie diesen aus der Perspektive seines Verfassers begreifen kann. Felsenstein spricht von der „schöpferischen Nachkomposition und Nachdichtung eines Werkes“[19] durch den Darsteller. Werkbegriff und Autorintentionen sind im Lichte neuerer Interpretationstheorien sicherlich harte Nüsse, die allerdings auch im Diskurs um das zeitgenössische Musiktheater immer wieder auf den Gabentisch gelegt werden. Es handelt sich dabei um ein vormodernes Verständnis von Interpretation. Vormodern deshalb, weil es restriktiv und ahistorisch ist. Restriktiv insofern, als es unterstellt, dass ein Text nur aus der Perspektive seines Verfassers „richtig“ zu verstehen sei; es mithin möglich sei, vom eigenen Standpunkt zu abstrahieren. Divergierende, sich widersprechende Auffassungen müssen deshalb moderiert und abgeglichen werden. Dabei besteht stets die Gefahr, die eigene Lesart zu rechtfertigen, indem man sie dem Autor unterstellt. Bei diesem Prozess der Interpretation kann auch immer eine Machtfrage mitschwingen, die auf Proben laut werden kann: Wer weiß, was Mozart wollte? Felsenstein hätte wohl nicht gezögert zu antworten: Ich. Ahistorisch ist dieses Verständnis, insofern es davon ausgeht, dass einem Werk ein zeitlos gültiger Sinn eignet, der zu ermitteln ist. Die gegebene historische Distanz wäre also gerade zu überwinden. Eine produktive Distanz zu Werk und Autor, die in der Inszenierung angezeigt werden könnte, ist somit nicht vorgesehen.
Stanislawski und Felsenstein stellen also klar, dass die schöpferische Leistung des Darstellers nicht im Gegensatz zu einem vorgegebenen Text steht, sondern dass im Gegenteil dieser die Basis ist. Schöpferisch ist dies insofern, als der Sängerdarsteller nicht lediglich etwas Vorgeschriebenes wie ein „Übertragungsmechanismus“[20] wiedergibt oder mehr oder weniger glaubhaft veranschaulicht, sondern in und durch die Aufführung in sich etwas entsprechend der im Text bzw. vom Autor vorgeschlagenen Situation hervorrufen kann. Beide haben auf die Gesetzmäßigkeit dieses natürlichen Vorgangs hingewiesen. Felsenstein formuliert die „Gesetze des Bühnenrealismus“ wie folgt:
Und dazu gehört, daß der Sänger nicht nur Partien singt, also in verschiedenen Kostümen und Masken Töne bildet und nach Konventionen geregelte Anhaltspunkte einer Handlung gibt. Er muß wahrhaftige, unverwechselbare Bühnengestalten schaffen. Er muß handeln, wie die vom Librettisten und Komponisten geschaffene Gestalt unter den gegebenen Umständen handeln würde.[21]
Damit paraphrasiert Felsenstein Stanislawskis von Puschkin abgeleitete Grundforderung, welche prinzipiell für Schauspieler wie für Sängerdarsteller zu erheben ist. Zu fragen bleibt dann allerdings, wie Handlungen aus der Musik abgeleitet werden können.
Sinn der Musik
Für Stanislawski hat nicht nur der Text bzw. das Libretto etwas zu bedeuten, sondern auch die Musik. Und zwar nicht irgendetwas, sondern Handlung. Die zentrale poetologische Kategorie für die dramaturgische Analyse des Dramas wird damit auch auf das Studium der Partitur übertragen. So schreibt es Stanislawski dem Opernregisseur ins Stammbuch, dessen Aufgabe es ist,
im Tonbild die in der Musik enthaltene Handlung zu hören und dieses Tonbild in ein dramatisches Bild, das heißt visuell umzusetzen. Mit anderen Worten: Die Handlung sollte nicht nur vom Text bestimmt werden, sondern weit mehr auch von der Partitur. Aufgabe des Regisseurs ist es, herauszufinden, was der Komponist mit jeder musikalischen Figur seiner Partitur sagen wollte, welche dramatische Handlung er, wenn auch nur unbewußt, beabsichtigte.[22]
Die Semantisierung der Musik geht so weit, dass Stanislawski einzelne Instrumente reden hört:
Spricht ein Instrument vom Tod, muß der Sänger entsprechend empfinden. Er darf die Einleitung nicht mißachten und sie zum Aushusten oder zur Einstimmung auf den Einsatz benutzen, sondern muß ununterbrochen den Weg gehen, auf dem das geistige Leben des Menschen in Stück und Rolle entwickelt wird.[23]
In diesem Sinn argumentiert auch Felsenstein:
In der guten Opernpartitur gibt es keinen Takt und keine Phrase, die nicht ausschließlich für den bühnenmäßigen Ausdruck geschaffen wurde. Und jeder bühnenmäßige Ausdruck, der nicht ausschließlich der Partitur folgt, ist falsch.[24]
Musik und Handlung sind keine Gegensätze:
Das wirkliche musikalische Theatererlebnis […] kommt nur zustande, wenn Musik und Gesang in einer dramatischen Funktion richtig erkannt und konsequent eingesetzt werden. Diese Funktion kann nur sein: eine Handlung musizierend und singend zu einer theatralischen Realität und vorbehaltlosen Glaubhaftigkeit zu bringen. Das Musizieren und Singen auf der Bühne zu einer überzeugenden, wahrhaftigen und unentbehrlichen menschlichen Äußerung zu machen ist die Kardinalfrage.[25]
Allerdings hat Felsenstein darauf hingewiesen, dass man die Semantisierung der Musik auch zu weit treiben kann, insofern eine plumpe darstellerische Konkretisierung den Zuschauer zum „Dummkopf“[26] machen könne. Ganz so vorsichtig dürfte Stanislawski in Bezug auf die konkrete szenische Umsetzung von Musik nicht gewesen sein. Der Regisseur Stanislawski hat den Theoretiker Stanislawski nämlich beim Wort genommen: Wenn jede Note etwas bedeutet, dann wären auch diejenigen Momente szenisch zu gestalten, für die weder Autor noch Komponist Handlung vorgeschrieben haben. Das kann bei Ouvertüren oder Zwischenaktmusiken der Fall sein, bei deren Inszenierung Stanislawskis inszenatorisches Geschick zur Höchstform aufläuft. Es gibt eine Beschreibung Stanislawskis zu einigen Szenen seiner Inszenierung von Eugen Onegin. Am Beispiel des Vorspiels zur Ballszene wird deutlich, was Sinn der Musik bzw. Konkretisierung bedeuten kann:
Tatjanas Liebesmotiv, das im Orchester zu hören ist, muß szenisch zum Ausdruck gebracht werden. Tatjana steht, in Gedanken versunken, hinter einer Säule und schaut auf Onegin, den Helden ihrer Mädchenliebe. Dann erklingt im Orchester das Walzerthema. Solange der Walzer im Orchester weitergespielt wird, entsprechen die Klänge der Streichinstrumente der Erregung der jungen Mädchen, die sich über die Tänze und die Militärmusik freuen. Sie laufen in die Bühne hinein, wo der Tanz beginnt. Das schwere und anhaltende Thema im Orchester wird auf der Bühne durch das langsame und würdevolle Einherschreiten alter Gutsbesitzer dargestellt. Die kokette musikalische Figur ist dann die kokette Bewegung Olgas, die sich mit ihrem Bräutigam Lenski streitet. […] So wird dem Publikum das dramatische Anliegen des Komponisten verständlicher gemacht.[27]
Felsenstein hat diese Onegin-Inszenierung selbst gesehen, und zwar bei einem Gastspiel in Berlin 1964 – 42 Jahre nach der Premiere. Was er von diesem Drang zur szenischen Illustration gehalten hat, ist nicht zu ermitteln. In einer Grußadresse an das Ensemble zeigt er sich zumindest beeindruckt und sieht sich genötigt, seine Auffassung zu revidieren, wonach die Bewahrung von Inszenierungen eine fragwürdige Veranstaltung mit „Museumscharakter“[28] ist.
Wie dem auch sei: Es stellt sich die Frage, ob die szenische Bebilderung letztendlich das Ideal realistischen Musiktheater wäre. Würde damit nicht doch die reproduktive Dimension gegenüber der schöpferischen die Oberhand gewinnen? Es ist deshalb noch einmal zurückzugehen auf die Frage, was der schöpferische Aspekt des realistischen Musiktheaters sein kann.
Gesteigerte Wirklichkeit
Felsenstein ist in dieser Frage über ein konventionelles Verständnis von Realismus im Theater hinausgegangen. Mit bewundernswerter Geduld und Beharrlichkeit hat er sich immer wieder in seinen Schriften mit den hausbackenen Argumenten gegen die Möglichkeit eines realistischen Musiktheaters auseinandergesetzt. Klar ist, dass Felsenstein jede Erklärung, die sich auf zu akzeptierende Konventionen beruft, als Argument ablehnt. Wenn sich jemand im Publikum angesichts einer Szene fragt, warum die Figur überhaupt singt, hat nicht der Zuschauer, sondern der Sänger etwas falsch gemacht. Folgendes Zitat Felsensteins zeigt, dass auch er eine Spannung von Realismus und Realität konstatiert:
Der moderne Mensch hat die Beziehung zum Ursprünglichen verloren. Er ist in einer geheimnislosen Zivilisation erstarrt. Aber eine unbestimmte Sehnsucht ist in ihm übriggeblieben. Sie kann sich in der Kunst erfüllen. Wenn er im Theater die Wiederherstellung des Elementaren erlebt, findet er das Elementare in sich selber wieder.[29]
Nun zeugt dieses Zitat durchaus von einem fragwürdigen Moderneverständnis, indem es diese in eine Verlustgeschichte einordnet und damit indirekt eine imaginäre, ideale Vergangenheit beschwört. Dennoch spricht Felsenstein ein neues Verständnis von Realismus aus, das diesen nicht von der Nähe, sondern von der Distanz zur Wirklichkeit her denkt. Das heißt: Zuschauer können im Theater Erfahrungen machen, die sie existentiell betreffen, obwohl oder gerade weil sie nicht alltäglich sind. Realistisch wird Theater nicht dadurch, dass Zuschauer hier etwas geboten bekommen oder erleben können, was sie aus ihrer Lebenswirklichkeit kennen, sondern weil sie hier eine Dimension des Daseins erfahren können, die ihnen in Wirklichkeit verschlossen bleibt. Für Felsenstein ist das Theater „eine mögliche Realität“,[30] die eine „schöpferische Wahrheit“[31] birgt. Deshalb ist bei ihm immer wieder von überhöhter Wirklichkeit und gesteigertem Ausdruck die Rede, für deren Evokation die Gesangsstimme mitnichten ein Handicap darstellt, sondern geradezu prädestiniert ist. In diesem Sinne vermag eine Arie sogar realistischer zu wirken als ein Rezitativ:
Eine Arie ist viel leichter. Meist ist ihr ein Rezitativ vorausgegangen, das dramatische Spannung enthält, und nun wird der Punkt erreicht, auf dem die Erregung gleichsam stehen bleibt und zum gesanglichen Ausdruck drängt. Die Arie ist gesangstechnisch und schauspielerisch leichter zu verwirklichen als der gesungene Dialog, bei dem das Publikum nicht weniger den Eindruck haben soll, daß diese Menschen singen müssen, daß Sprechen als Ausdrucksmöglichkeit nicht mehr ausreicht, daß Elementares ausbricht und sich im dialogischen Gesang verflicht. […] Noch im kunstvollsten Duett ist jene Steigerung ins Ursprüngliche mitenthalten, die allein Gesang auf der Bühne möglich macht.[32]
Ähnlich wie Stanislawski, der die schöpferische Tätigkeit des Darstellers als organischen und natürlichen Vorgang auffasst, betont auch Felsenstein mit Begriffen wie „elementar“ und „ursprünglich“, dass Gesang nicht der überzüchtete Ausdruck eines konditionierten Artisten ist, sondern triebhaft:
Wenn auf der einen Seite Gesang nicht entstehen kann, solange die alltägliche Nüchternheit nicht verlassen wird und der Wunsch nach gesteigertem Ausdruck nicht übermächtig wird, so entsteht er andererseits niemals, ohne sich in Form zu ergießen. Der Ausruckstrieb paart sich mit dem Gestaltungstrieb.[33]
Felsenstein weist im Übrigen darauf hin, dass das Publikum im Moment der Aufführung an diesem Vorgang konstitutiven Anteil hat:
Im Theater dagegen will das Publikum an der Entstehung einer Handlung an ihren Auswirkungen beteiligt sein. Es erwartet nicht nur die Mitteilung von Tatsachen, sondern ein Spiel von persönlich anwesenden Menschen, ein Spiel, das stark genug ist, es zur Teilnahme zu zwingen, und das – vom Publikum erwidert – zur höheren Wirklichkeit gelangt.[34]
Diese Transzendenz der Erfahrung eben mag ihn zu der Feststellung gebracht haben: „Theater ist Eros.“[35]
Sängerdarsteller
Auch wenn dem Zuschauer eine Mitverantwortung für die Aufführung zugesprochen wird, rückt der Sänger ins Zentrum der Frage nach der Möglichkeit realistischen Musiktheaters: „Er darf“, so Felsenstein,
auch nicht singen, weil er eine schöne Stimme hat und singen gelernt hat, sondern weil er in seiner dramatischen Situation singen muß. Das heißt: Er muß emotionell glaubhaft machen, dass ihm keine andere Ausdrucksart als der Gesang zur Verfügung steht.[36]
Hierfür ist ein neuer Typ Sänger erforderlich, dessen Auftritt Felsenstein nicht nur prophezeit, sondern er macht auch deutlich, welche Probleme auf dem Weg dahin zu bewältigen sind. Er spricht von einer „funktionelle[n] Spaltung des Darstellers“[37] in Spieler und Sänger, welche zu der Schwierigkeit bzw. Unfähigkeit führe, „den beabsichtigten Ausdruck mit seiner Gesangstechnik zu identifizieren“.[38] Dies kann wiederum zur „persönliche[n] Unfreiheit“[39] des Darstellers auf der Bühne führen, was letzten Endes bewirkt, dass „Musik und Szene einander behindern“.[40] In methodischer Hinsicht schwebt Felsenstein zur Lösung eine Reihe von Verfahren vor, die sich deutlich an der Schauspieltechnik Stanislawskis orientieren. Dabei geht es um die analytische Auseinandersetzung mit den Handlungen und vorgeschlagenen Situationen, die Frage nach dem konkreten Anlass des Singens und der Ermittlung dramaturgischer und biografischer Zusatzinformationen der Figuren. Unter Bezug auf Stanislawski hat Felsenstein diesen Komplex als „Untertext“[41] bezeichnet. Ein ähnliches Vorgehen wird auch aus der Probenpraxis Stanislawskis berichtet. So heißt es bei Kristi: „Er stellte an die Darsteller die einfachsten Fragen: für wen er singe, warum er singe, wovon er singe und unter welchen Bedingungen er singe.“[42]
Während Felsenstein also Methoden der Schauspieltechnik auf die besonderen Umstände des Musiktheaters überträgt, schwebt Stanislawski auch ein umgekehrter Transfer vor. Er fragt, was sich Schauspieler bei Sängern abgucken können. Gewinnbringend war diese Perspektive wohl vor allem für Stanislawskis Überlegungen zum Rhythmus als Kategorie der Schauspieltheorie. Dahinter steckt seine Entdeckung, dass nicht nur die Musik, sondern auch Handlungen und Bewegungen, auch einzelne Darsteller, Rhythmen schaffen können. Eine Inszenierung kann sich damit durch einen eigenen Rhythmus auszeichnen, dessen harmonische Gestaltung Aufgabe des Regisseurs ist. In diesem Zusammenhang erwägt er etwa auch, die Tempo-Bezeichnungen der Musik für die Darstellung zu übernehmen: „Die Bewegungen haben auch ihr Legato, Staccato, Fermate, Andante, Allegro, Piano, Forte und so weiter. Tempo und Rhythmus der Handlung müssen der Musik entsprechen.“[43]
Die Konzentration auf den Sänger sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl bei Stanislawski als auch bei Felsenstein der Regisseur die entscheidende Größe ist. In ihren Äußerungen zur Funktion des Regisseurs spinnen beide kräftig an der Legende vom selbstlos dienenden Künstler, der nicht im Mittelpunkt stehen will, da es einzig um das Werk gehen dürfe. De facto entsteht so allerdings ein Theaterbetrieb, der sowohl strukturell als auch ästhetisch ohne Regisseur nicht mehr denkbar ist. Dieser Mythos des modernen Regisseurs, der erst mit Max Reinhardt zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf bzw. hinter der Bühne des Theaters auftaucht, wird auch durch Stanislawski und Felsenstein verkörpert, auch wenn Letzterer kritisch von einer „Zeit der Überbewertung des Regisseurs“[44] spricht.
Realistisches Musiktheater
Mit seinen Überlegungen zum realistischen Musiktheater hat Felsenstein entscheidende Fragen gestellt, die auch den Nerv des zeitgenössischen Theaters zu treffen vermögen. Seine Antworten provozieren noch heute. Im Mittelpunkt steht dabei die Kritik an den Konventionen des Operntheaters, die weder respektiert noch akzeptiert werden sollen. Ob Darstellung jenseits von Konventionen denkbar ist, mag man heute bezweifeln. Es gibt ein probates Verfahren, um Konventionen in Frage zu stellen, das im zeitgenössischen Theater vielfältig zur Anwendung kommt, Felsenstein allerdings eher fremd war: Ironie. Ein spielerischer oder (selbst)ironischer Umgang mit den Mitteln und Verfahren, der auch die eigenen Opernkonventionen auf die Schippe nehmen könnte, dürfte Felsenstein zumindest nicht vorgeschwebt haben.
Dass Felsensteins Abscheu vor dem überzüchteten Ausdruck konditionierter Stimmakrobaten immer noch gut nachvollziehbar ist, zeigt, dass sein Projekt eines neuen Sängerdarstellers noch nicht zu Ende geführt ist. Das heißt: Waschmaschinen, Glasduschen, Videoprojektionen oder Asylantenheime auf der Bühne allein mögen zwar eine realistische Dekoration sein, sie machen aber noch kein realistisches Theater. Entscheidend ist, wie die Darsteller in diesen Environments handeln und was sich dabei zwischen ihnen, ihren Partnern und den Zuschauern abspielt. Hier entscheidet sich die Frage nach dem realistischen Musiktheater und nicht auf Konzeptionssitzungen im Hinterstübchen der Dramaturgie. In Hinblick auf die Regie ist die Frage zu stellen, was es heißt, eine Konzeption nicht vom Text des Librettos, sondern von der Musik, der Partitur, her zu entwickeln. Muss dies zwangsläufig zur Semantisierung der Musik führen, oder ist nicht auch umgekehrt eine Art Musikalisierung der Szene denkbar?
Wenn es heute noch einen Sinn macht, vom realistischen Musiktheater zu sprechen, dann nicht, weil das ultimative Rezept für Realismus auf der Bühne gefunden ist, sondern weil Theateraufführungen jene Spannung erfahrbar machen können zwischen der Realität, die wir erleben, und der Art und Weise, wie wir uns diese vorstellen bzw. wie uns diese vorgestellt wird. Es handelt sich um eine Spannung, die neue Medien nicht selten unterminieren. Letztendlich geht es um die Frage, wer die Deutungshoheit hat darüber, was als realistisch gilt. Oder um es mit Emphase und dem übersteigerten Ausdruck zu sagen, der Felsenstein vielleicht gefallen hätte: Dass die Wirklichkeit auf der Flucht vor medialer Hegemonie ausgerechnet im Theater Zuflucht sucht, wie Siegmund vor Hunding, ist nicht ohne Ironie zu verzeichnen. Ob und wie sich das Zwillingspaar Realismus und Realität auf der Bühne findet, bleibt die spannende Frage im zeitgenössischen Musiktheater.
Diskussion
Clemens Risi: Ich möchte insbesondere für das Plädoyer für eine Verschiebung des Wirklichkeitsbegriffs danken – nämlich die Verschiebung von einem Begriff Wirklichkeit, wie sie tatsächlich ist, hin zu einem auf die Wahrnehmung konzentrierten Wirklichkeitsbegriff: also Wirklichkeit, wie sie sich in der Wahrnehmung ereignet.
Robert Braunmüller: Ich hätte eine Frage an die anwesenden Zeitzeugen: Hat eigentlich Felsenstein die Schriften von Stanislawski gelesen? Fand dort eine Auseinandersetzung statt, die über eine Grußadresse hinausgeht? Die Propagierung von Stanislawski in den fünfziger Jahren in der DDR ist ja schließlich eine nicht ganz unpolitische Sache.
Joachim Herz: Ich habe keine Ahnung, kann es nicht beschwören, dass er jemals eine Zeile von Stanislawski gelesen hat, aber ich möchte behaupten, dass er die „Methode Stanislawskis“ bestens studiert hatte. Von Grigori Kristi gibt es ein Buch Stanislawskis Weg zur Oper, das hat mal eine interessante Rolle gespielt bei uns zur Diskussion im Musiktheater.
Jens Roselt: Ich möchte darauf antworten, indem ich Felsenstein zitiere: Alles was Stanislawski unermüdlich und unnachgiebig erforscht hat, ist nicht nachzuplappernder Lehrsatz, sondern Aufforderung, es selbst zu erkennen, anzuwenden und ergänzend fortzuführen. Und wenn er hier nicht geblufft hat, müsste man annehmen, dass er ihn studiert hat. Was ich zum Untertext gesagt habe übrigens, da hat er sich ausdrücklich auf Stanislawski bezogen.
Susanne Vill: Einen Blick auf das, was wir heute eventuell noch als realistisch oder als eine wirklichkeitsgerechte Umsetzung im Musiktheater auffassen können, finde ich sehr interessant. Da schließt sich für mich die Frage an, was in einer Inszenierung denn eigentlich visualisiert werden soll. Sie haben jetzt am Beispiel von Tschaikowskis Eugen Onegin gezeigt, wie bestimmte musikalische Gesten, wie Stimmungen und möglicherweise auch Klangcharakteristika umgesetzt werden. Aber wie viel Musikalisches kann man denn überhaupt visualisieren!? Ließe sich der Klang des Englischhorns am Anfang des dritten Tristan-Aktes visualisieren?
Jens Roselt: Diese Fragen kann ich hier natürlich nicht pauschal beantworten: Was ist visualisierbar oder umsetzbar? Was heißt es, eine Operninszenierung von der Partitur her zu denken? Ohne jemandem vorgreifen zu wollen, denke ich aber, dass man bei einigen Regisseuren von einer Musikalisierung der Szene sprechen kann; ich denke da etwa an manche Szenen bei Peter Sellars. Umgekehrt ist es ja ein interessantes Phänomen, dass wir es im Moment im Sprechtheater mit einer massiven Musikalisierung zu tun haben. In einem Theater also, das erst einmal gar keine Musik hat, fängt man jetzt an zu singen, rhythmische Prozesse aufzugreifen. Musik wird einem dort ohnehin schon ständig ins Ohr geschallt. Das ist vielleicht ein Grenzbereich, der dann auch für das Musiktheater interessant sein kann.
Clemens Risi: Ich denke, diese Frage, wie Musik visualisierbar ist, wird uns tatsächlich noch weiter beschäftigen ist, wie auch die Frage, ob es immer diese Richtung sein muss, dass Musik visualisiert wird, oder nicht auch im Sinne von Felsenstein, dass es die Aktion ist, die eben die Musik hervortreibt.
Hans Stern: Man darf meines Erachtens nicht so tun, als hätten wir den Umgang mit Stanislawski in der Nachkriegszeit so l’art pour l’art diskutiert, als ob sich andere Auffassungen vom Theatermachen dann ebenso unbezweifelt hätten behaupten lassen. Das war uns ja, ich will fast sagen, auferlegt, als ein aus der Sowjetunion kommendes Vorbild. Alle, die dem gegenüber ihre eigene Position wahren wollten, mussten sich ungeheuer diplomatisch ausdrücken – wie Felsenstein das in den hier zitierten Worten und wie Brecht das auch getan hat. Die Methodik Stanislawskis hatte ja nicht nur in der Theorie eine starke Lobby, die vor allem von der Zeitschrift Theater der Zeit ausging, sondern auch von großartigen Praktikern, wie das Langhoff am Deutschen Theater war oder Otto Fritz Gaillard und Maxim Vallentin an der Theaterhochschule in Weimar.
Jens Roselt: Natürlich steht das alles in einem bestimmten historischen Kontext. Ich habe ja auch darauf hingewiesen, dass der Realismusbegriff ein wirklich blutiger Begriff ist. Sie haben von Otto Fritz Gaillard gesprochen, der eine der beiden Publikationen, die in den fünfziger Jahren in der DDR aus dem Russischen übertragen wurden und sich mit Stanislawski und der Oper beschäftigen, herausgegeben hat und Stanislawski dort durchaus rechtfertigen musste. Es gibt bei Stanislawski nämlich bestimmte Übungen, da sollen Schauspielschüler ohne Requisiten spielen. Und da gab es natürlich schon Formalismusgefahr. Gaillard musste entsprechend im Vorwort klarstellen, dass das eine Übung ist. Auf gar keinen Fall durften das, meint er, auch bei Stanislawski Zuschauer sehen. Solche Argumentationen zeigen schon, dass das eine sehr verbissene, schwierige Situation war.
[1] Stanislawski, Konstantin S.: Moskauer Künstlertheater, Ausgewählte Schriften 2, hrsg. von Dieter Hoffmeier, Berlin 1988, S. 154f.
[2] Stanislawski: Mein Leben in der Kunst, Berlin 1987, S. 33.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Poljakowa, Elena Iwanowna: Stanislawski. Leben und Werk des großen Theaterregisseurs, Bonn 1981, S. 54.
[6] Felsenstein, Walter: Schriften zum Musiktheater, hrsg. von Stephan Stompor, Berlin 1976, S. 520f.
[7] Hentschel, Ingrid/Hoffmann, Klaus/Vaßen, Florian (Hrsg.): Brecht & Stanislawski und die Folgen, Berlin 1997, S. 59.
[8] Vgl. den Editionsbericht in: Hoffmeier, Dieter: Stanislavskij. Auf der Suche nach dem Kreativen im Schauspieler, Stuttgart 1993, S. 400.
[9] Felsenstein: Die Pflicht, die Wahrheit zu finden. Briefe und Schriften eines Theatermannes, hrsg. von Ilse Kobán, Frankfurt a. M. 1997, S. 229.
[10] Antoine, André: Meine Erinnerungen an das Théâtre-Libre, aus dem Franz. von Elisabeth Henschel, Berlin 1960, S. 44.
[11] Balázs, Béla: „Meyerhold und Stanislawsky“, in: Schmitt, Hans-Jürgen (Hrsg.): Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, Frankfurt a. M. 1973, S. 126.
[12] Felsenstein: Schriften zum Musiktheater, S. 69f.; siehe auch: ebd., S. 434.
[13] Stanislawski: Moskauer Künstlertheater 2, S. 77.
[14] Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Teil 1, Berlin 1996, S. 57.
[15] Ebd.
[16] Stanislawski: Moskauer Künstlertheater 2, S. 153.
[17] Felsenstein: Schriften zum Musiktheater, S. 108.
[18] Ebd., S. 37.
[19] Ebd.
[20] Kristi, Grigori W.: Stanislawskis Weg zur Oper, aus dem Russ. von Ottofritz Gaillard, Berlin 1954, S. 38.
[21] Felsenstein: Schriften zum Musiktheater, S. 110f.
[22] Stanislawski: Moskauer Künstlertheater 2, S. 88.
[23] Ebd., S. 153.
[24] Felsenstein: Schriften zum Musiktheater, S. 40.
[25] Ebd., S. 69.
[26] Ebd., S. 106.
[27] Stanislawski: Moskauer Künstlertheater 2, S. 89.
[28] Felsenstein: Schriften zum Musiktheater, S. 443.
[29] Ebd., S. 102.
[30] Felsenstein: Die Pflicht, die Wahrheit zu finden, S. 233.
[31] Ebd.
[32] Felsenstein: Schriften zum Musiktheater, S. 102f.
[33] Ebd., S. 102.
[34] Ebd., S. 182.
[35] Felsenstein: Die Pflicht, die Wahrheit zu finden, S. 69.
[36] Felsenstein: Schriften zum Musiktheater, S. 70.
[37] Ebd., S. 186.
[38] Ebd., S. 138.
[39] Ebd., S. 139.
[40] Ebd.
[41] Ebd., S. 485.
[42] Kristi: Stanislawskis Weg zur Oper, S. 39.
[43] Ebd., S. 50.
[44] Felsenstein: Schriften zum Musiktheater, S. 144.