Theater der Zeit

SCORES – Insert Tanzquartier Wien

X (all alone) / Material

von Olaf Nicolai

Erschienen in: Theater der Zeit: Feuer und Eis – Theater im ostsibirischen Jakutsk (01/2015)

Assoziationen: Österreich Tanz

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Am 24. Oktober 2014 wurde am Ballhausplatz in Wien das erste Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz in Österreich eröffnet. Die nationalsozialistische Militärjustiz verhängte während des Zweiten Weltkrieges mehr als 30 000 Todesurteile, wovon die meisten gegen Deserteure und sogenannte »Wehrkraftzersetzer« ergingen. 2009 rehabilitierte der Nationalrat die Opfer der Verfolgung durch die Wehrmachtsgerichte, und 2010 beschloss die Stadt Wien die Errichtung eines Denkmals und betraute die KÖR GmbH damit, einen Wettbewerb auszuloben.

Die realisierte Skulptur Olaf Nicolais greift klassische Elemente eines Mahnmals — »Sockel« und »Inschrift« — auf, arrangiert diese im bewussten Gegensatz zu traditionellen Kriegerdenkmälern ohne jedes symbolische Sockelobjekt. Ein überdimensionales, liegendes »X« bildet den dreistufigen Sockel, in dessen dritte Ebene die nur von oben lesbare Inschrift eingelassen ist. Sie zitiert einen »konkreten Text« des schottischen Künstlers Ian Hamilton Finlay (1925 – 2006), der mit wesentlichen Vertretern der sprachkritischen und experimentellen Wiener Künstlerszene befreundet war. Um den Text all alone (Abb. S. 4) lesen zu können, muss man auf den Sockel steigen, somit die Skulptur benutzen.

Für die Eröffnung wurde Olaf Nicolais Logik einer »offenen Skulptur« durch die Choreografie von Laurent Chétouane erfahrbar. Auf Einladung von Olaf Nicolai, der KÖR GmbH und dem Tanzquartier Wien nutzte der Tänzer Mikael Marklund die Skulptur als »Tanzraum«, um M!, eine neue, mit Chétouane erarbeite Fassung der bereits bestehenden Choreographie M!M aufzuführen. SCORES kontextualisieren diese Tanzperformance innerhalb Olaf Nicolais Text-Bild-Collage aus Recherche- und Referenzmaterialien zum Denkmal.

ein zeichen, ein wort, ein kleines kreuz neben einem namen

genügte

 

Es gibt so etwas wie ein Subjekt nur als desertierendes Subjekt,

als Deserteur …

 

schtzngrmm
schtzngrmm schtzngrmm
t-t-t-t
t-t-t-t
grrrmmmmm
t-t-t-t
s ...............c......................h
tzngrmm
tzngrmm

tzngrmm
grrrmmmmm
schtzn
schtzn
t-t-t-t
t-t-t-t
schtzngrmm
schtzngrmm
tssssssssssssss
grrt
grrrrrt
grrrrrrrrrt
scht
scht
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
tzngrmm
tzngrmm
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
scht
scht
scht
scht
grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
t-tt

 

Fatzer lacht laut : (…)

Ich mache Keinen Krieg mehr, sondern ich gehe Jetzt heim gradewegs, ich scheiße Auf die Odnung der Welt. Ich bin Verloren.

 

2. Koch fällt um. Koch Ach Fatzer, ich kann Nicht mehr Krieg führen Büsching Seine Beine sind nichts mehr. Stehe auf, Koch.

Fatzer Warum hast du ihn nicht Drinliegen lassen?

Büsching Daß er Luft kriegt, ein Mensch ist kein Hund, steh

Auf, Koch, du Hund!

Movement II 1 –› 3

allall all all all all all alone all all all all all all all

 

schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen

Movement III 3 –› 1

Der Deserteur öffnet die Vernunft auf den ihr impliziten Wahnsinn, nicht um unmittelbar für eine andere, eine bessere Vernunft zu entscheiden, sondern um für die Sekunde der Entscheidung gegen die etablierte Vernunft, selbst im Wahnsinn der Vernunftlosigkeit zu baden.

 

Der Deserteur nimmt eine Art Anleihe, einen problematischen Kredit bei der Macht, beim Krieg, deren wesenhaften Wahnsinn er denunziert. Das Subjekt der Entscheidung – jeder authentischen Entscheidung – ist Subjekt dieser problematischen Kreditverhältnisse.

Movement IV 2 –› 1

uuuuuuuuuuuuuuuuu uuuuuuuuuuuuuuuuu uuuuuuuuuuuuuuuuu uuuuuuuuuuuuuuuuu uuuuuuuuduuuuuuuu uuuuuuuuuuuuuuuuu uuuuuuuuuuuuuuuuu uuuuuuuuuuuuuuuuu uuuuuuuuuuuuuuuuu

 

position grösse farbe beziehungen teile oberfläche

umgebung 36

in meinem garten verbluten die drosseln des wahnsinns aus geometrischen fontänen die drosseln des wahnsinns in meinem garten verbluten aus geometrischen fontänen aus geometrischen fontänen verbluten in meinem garten die drosseln des wahnsinns in meinem garten verbluten die fontänen des wahnsinns aus geometrischen drosseln die geometrischen drosseln in meinem garten verbluten aus fontänen des wahnsinns aus geometrischem wahnsinn verbluten in meinem garten deine drosseln zu fontänen

Movement V 1 –› 0

lächeln lächeln

1 Heimrad Bäcker, Nachschrift, Groschl Verlag, Graz/Wien
1993, 80

2 M!, Choreografie: Laurent Chétouane Tänzer: Mikael Marklund Foto — eSeL.at
3 Marcus Steinweg, Begnügung mit der Geste, http://artnews.org/marcussteinweg/ ?t=4066&g _ a=essays

4 Aus: Elisabeth Hinrichs. Aileen Ittner, Daniel Rother, XX – Die SS-Rune als Sonderzeichen auf Schreibmaschinen, Institut für Buchkunst Leipzig, Leipzig 2009, 146

5 Boris Vian, Le déserteur, Schallplattencover, phonogram, 1955

6 Hinrichtungsstätte Plötzensee. Aus: Heinz Bergschicker, Deutsche Chronik 1933-145. Bilder, Daten, Dokumente, Verlag der Nation, Berlin 1981, 495

7 schtzngrmm schtzngrmm … . Aus: Ernst Jandl, Augenspiel. Gedichte, Volk und Welt, Berlin
1981, 69

8 Collage: Olaf Nicolai. Unter Verwendung eines Fotos aus: Liesbeth Waechter-Boehm (Hg.), Wien
1945, davor/danach, Christian Brandstätter Verlag & Edition, Wien 1985, 9

9 Fritz Wotruba, Stehender Torso, 1953/54 (Bronze, 80×28,5×20,5cm). Aus: Mythos Art Club. Der Aufbruch nach 1945, Kunsthalle Krems, Krems 2003, 133

10 Schreibmaschine. Foto: Till Gathmann

11 M!, Choreografie: Laurent Chétouane Tänzer: Mikael Marklund Foto — eSeL.at

13 Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer – Bühnenfassung von Heiner Müller. Aus: Heiner Müller, 1929-1995 – Bilder eines Lebens. Herausgegeben von Oliver Schwarzkopf und Hans Dieter Schütt, Schwarzkopf&Schwarzkopf, Berlin 1996, 223

14 Aus: Frans Masereel, Holzschnitte gegen den Krieg. 32 Bildtafeln, Insel-Verlag, Leipzig 1989, 27

12 Bertold Brecht, Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer – Bühnenfassung von Heiner Müller. Mit einer Einleitung von Heiner Müller, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, 62

15 all alone, Ian Hamilton Finlay, Telegrams from my Windmill, Wild Hawthorn Press, Edinburgh 1964

16 – 18 M!, Choreografie: Laurent Chétouane Tänzer: Mikael Marklund Foto — eSeL.at

19 Eugen Gomringer, schweigen schweigen … Aus: Konkrete Poesie. Deutschsprachige Autoren. Anthologie von Eugen Grominger, Philipp Reclam Jun., Stuttgart
1972, 58

20 H. C. Artmann als Wehrmachtssoldat.Aus: Kurt Hofmann, H.C. Artmann. Aus Gesprächen mit Kurt Hofmann, Amalthea, Wien, München 2001, 61

21 Protestmarsch gegen die Wiederbewaffnung Österreichs, 20. Mai 1955. Aus: Peter Weibel (Hg.), Die Wiener Gruppe / The Vienna Group, Springer, Wien/New York 1997, 59

22 Franz Kaltenbäck bei seinem Vortrag über »die möglichen Attitüden, mit denen auf die agierende Minderheit reagiert wird. Normverletzung als Information […]«. Neben Kaltenbäck Peter Weibel, mit Schutzbrille In der Mitte, dozierend, Oswald Wiener. Davor, onanierend, Günter Brus. Laurids, bandagiert. Aus: Peter Weibel, Valie Export, Wien. Bildkompendium Wiener Aktionismus und Film, Frankfurt am Main
1970, 2212

23 The Mothers of Invention, Weasels Ripped My Flesh, Schallplattencover, Warner, 1970

24 Marcus Steinweg, Begnügung mit der Geste

25 M!, Choreografie: Laurent Chétouane Tänzer: Mikael Marklund Foto — eSeL.at

26 Oswald Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek
1972 (Umschlagentwurf: Werner Rebhun, Foto: Skrein, Wien)

27 aus: Architekturzentrum Wien, Arbeitsgruppe 4. Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent, Johannes Spalt, Müry Salzmann Verlag, Wien 2010, 99

28 M!, Choreografie: Laurent Chétouane Tänzer: Mikael Marklund Foto — eSeL.at

29 Vorstudie zu Arnulf Rainer, Gabriele Jutz, Peter Tscherkassky, Peter Kubelka, PVS Verleger, Wien 1995, 127

30 Marcus Steinweg, Begnügung mit der Geste

31 M!, Choreografie: Laurent Chétouane Tänzer: Mikael Marklund Foto — eSeL.at

32 Blauschwarzer Terazzo-Boden im Haus Wittgenstein, Parkgasse 18, 1030 Wien. Aus: Bernhard Leitner, Das Wittgenstein Haus, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2000, 139

33 Gerhard Rühm, uuduuu … Aus: Konkrete Poesie. Deutschsprachige Autoren. Anthologie von Eugen Grominger, Philipp Reclam Jun., Stuttgart
1972, 58

34 Ernst Schmidt, 15. Mai 1966 (16mm, Farbe). Vergrößerung eines Kaders, der mit einem Plakatschreiber überzeichnet wurde. Aus: Peter Weibel, Valie Export, Wien. Bildkompendium Wiener Aktionismus und Film, Kohlkunstverlag, Frankfurt am Main 1970, 166

35 H.C. Artmann, im meinem garten … . Aus: Horst Lothar Renner, Gottfried Schlemmer, werkstatt aspekt 1, werkstatt eV, Wien
1964, 9

36 Heinz Gappmayr, Texte, Ottenhausen Verlag, München 1978

37 Kopf der Pallas Athene vor dem Parlament. Liesbeth Waechter-Boehm (Hg.), Wien 1945, davor/danach, Christian Brandstätter Verlag & Edition, Wien 1985, 24

38 M!, Choreografie: Laurent Chétouane Tänzer: Mikael Marklund Foto — eSeL.at

39 Peter Kubelka, Vorstudie zu Arnulf Rainer. Aus: Gabriele Jutz, Peter Tscherkassky, Peter Kubelka, PVS Verleger, Wien 1995, 67

40 Valie Export, Syntagma (16mm, Farbe, Ton, 18min.). Aus: Hedwig Saxenhuber, Valie Export, Folio, Wien
2007, 229

41 Detail aus: Farbengedichte. Gerhard Rühm, Collage. Aus: Peter Weibel (Hg.), Die Wiener Gruppe / The Vienna Group, Springer, Wien/New York 1997, 559

 Konzeption: Olaf Nicolai Gestaltung des Innenteils: Till Gathmann / Olaf Nicolai Movements I –V: Till Gathmann

Die Choreografie M! von Laurent Chétouane mit dem Tänzer Mikael Marklund wurde vom Tanzquartier Wien in Kooperation mit KÖR Kunst im öffentlichen Raum Wien am 24. Oktober 2014 am Ballhausplatz in Wien aufgeführt.

 

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