Auftritt
Staatstheater Cottbus: Wie Licht, das gedimmt wird
„Die schönste Version“ von Ruth-Maria Thomas in einer Fassung von Sarah Kohm (UA) – Regie Sarah Kohm, Bühne und Kostüm Lena Marie Emrich, Musikalische Leitung Lenny Mockridge
von Lina Wölfel
Assoziationen: Brandenburg Theaterkritiken Sarah Kohm Staatstheater Cottbus

Ziemlich sicher habe ich seit dem letzten Teil von Harry Potter keinen Roman mehr so verschlungen, und seit meiner Reclam-Ausgabe von „Faust – der Tragödie erster Teil“ in keinem Buch mehr so viele Markierungen gemacht, wie in Ruth-Maria Thomas „Die schönste Version“. Meiner Meinung nach sollte der Roman Schullektüre werden. Jede – aber insbesondere jeder – sollte dieses Buch gelesen haben. Man könnte meinen, das wären die besten Voraussetzungen für einen Theaterabend. Ich würde sagen: Es sind die Härtesten.
Die Geschichte ist erstmal so eingängig, wie alltäglich, dass man sie scheinbar nicht nacherzählen muss. Jella und Yannick (mit doppelt „n“) sind ein Paar. Sie lernen sich in einer Bar kennen, Jella will einen Wein trinken, Yannick sagt, sie solle doch einen Gin Tonic nehmen. Jella will eine Gurke in ihrem Gin Tonic, Yannick sagt, Zitrone passe besser zu diesem Gin. Am Ende ist das auch egal, weil die Bar nicht das richtige Tonic Water hat – findet Yannick. Jella interessiert das nicht, weil ihre Haut an der Stelle, wo Yannick sie berührt hat, so warm vibriert. Die beiden verlieben sich, verbringen Sommer am See, die bis in den Herbst andauern. Bis es zwischen ihnen immer häufiger eskaliert. Aber hey, diese Momente zeigen doch nur, wie besonders sie beide sind, oder? Oder? Davon ist Jella überzeugt. Bis Yannick sie aus Eifersucht würgt, und Jella sich mit einem Pfefferstreuer wehrt.
Die Cottbusser Autorin Ruth-Maria Thomas hat mit „Die schönste Version“ einen poetischen und gerade in und durch diese Poesie schonungslos ehrlichen Roman über das Aufwachsen im Patriarchat geschrieben. Es gelingt ihr, die schönsten Worte für jenen schleichenden Prozess zu finden, wenn sich zwischen Abhängen im Partykeller der coolen Jungs und klebrigen Autositzen die eigenen Grenzen in kleinen Schritten immer weiter verschieben: „Es war wie im Kino, wenn das Licht im Saal langsam gedimmt wird, dieser Übergang, auf einmal alles dunkel wird und man hat es gar nicht gemerkt“. Dafür, wie übergriffiges Verhalten und Gewalt an FLINTA Personen, eben weil sie strukturell ist, so in uns verinnerlicht ist, dass wir sie oft erst dann entdecken, wenn es eigentlich zu spät ist und sich eine Marianengraben-tiefe Kluft auftut: Wie konnte es so weit kommen?
Regisseurin Sarah Kohm gelingt es, die Sprachgewalt und Zärtlichkeit des Textes auf die Bühne zu übertragen und der Stückfassung dort ein eigenes Leben zuzusprechen. In einem kongenialen Schachzug wird Jella nicht nur eine äußere und eine innere Stimme gegeben, sondern die innere Stimme gleich an ihre beste Freundin aus Jugendzeiten Shelly geknüpft. Aus dieser Entscheidung ergibt sich eine interessante Dynamik zwischen Jellas schmerzhaft-(selbst)kritischen inneren Monologen und schlagfertig-lebendigen Dialogen. Zwischen der zerrissenen, aber so unfassbar nachvollzieh- und fühlbaren Innenwelt, in denen viel von der überwältigenden Sprachpoesie Thomas erhalten bleibt, und dem Außen, dem, worüber sie sprechen kann. Kohm adaptiert den Roman so für die Bühne, dass das Theater als flüchtiges Medium der Gleichzeitigkeit seinen Mehrwert entfalten kann. Die lineare Erzählung wird zeitweise und zugunsten einer Überlagerung aufgehoben: Da schildert die äußere Jella, auf der Polizeistation, wie es dazu gekommen ist, dass Yannick sie gewürgt hat, während die innere Jella beschreibt, wie ihr das Atmen immer schwerer fällt, wie die Druckstelle an ihrem Hals sich wieder und wieder immer enger zuschnürt.
Das ist alles ziemlich harter Tobak. Soll es auch sein. Muss es auch sein. Zu den Stärken der Bühnenbearbeitung zählt aber auch, dass in den Dialogen, ein feiner und oft notwendiger Humor durchscheint. Da sind all die Szenen zwischen Jella und ihrer besten Freundin Shelly, die uns mit „Time to pretend“ von MGMT, Föhnfrisuren und low-waist-hotpants unmittelbar in die frühen 2000ern katapultieren. Nathalie Schörken und Lea van Acken spielen Jella und Shelly so herzzerreißend-authentisch, dass man sich eine Bravo-Hits einlegen, Schoko-Lipgloss auf die Lippen schmieren und auch über Marco ablästern will, der sich für den nächsten Goethe hält. Oder die Momente zwischen Jella und ihrem Vater, der versucht, seine Tochter mit der Unbeholfenheit, wie nur Väter sie haben, zu trösten – also mithilfe von einem hartgekochten Ei und zwei Toast Hawaii. Im Wunsch, Jella auf andere Gedanken zu bringen vergisst er kurz, wie gefangen er in seiner eigenen emotionalen Unverfügbarkeit ist. Amadeus Gollner arbeitet diese Erkenntnis so fein, so subtil, dass, ohne es explizit aussprechen zu müssen klar wird, wie eben nicht nur FLINTA unter patriarchalen Strukturen leiden. Und ja, schlussendlich darf man auch Yannick herzlich auslachen, der sinnbildlich für viele linke Macker steht, die zwar einfühlsam und verständnisvoll sein wollen, gegen ihre Sozialisierungen aber dennoch nicht ankommen. Amos Detscher schafft es, genau diese Ambivalenz auf den Punkt zu bringen – er erlaubt spielerische Durchlässigkeit, sodass man sich gleichzeitig in ihn verlieben und ihn hassen darf.
Diese Durchlässigkeit für Graustufen, die Simultaneität von Jellas verletzter „Hals-, Bauch- und Alleswürde“ und ihrem eigenen disruptiven Verhalten, spiegelt sich auch im Bühnenbild von Lena Marie Emrich. Da steht ein U-förmiges Konstrukt aus rostroten Stahlgittern, zwei Räume, einer rechts, einer links, aber doch immer verbunden, durch eine Videowand – die uns anzeigt, in welchem Jahr der zeitlich hin- und herspringenden Erzählung wir uns befinden – und bewegliche Gitterwände, die rein- und rausgeschoben werden können. An denen hängen Spiegel und Leonardo Di Caprio-Poster (für Jellas Jugendzimmer), düstere Gemälde (für eine Kunstgalerie), ein fetter Broiler-Spieß oder Neonbuchstaben (für die Bar). Das ist alles sehr liebevoll-detailreich gestaltet – am oberen Geländer finden sich sogar die von Yannick so gehassten Ginko-Blätter als Ornament wieder – und lässt überdies ein cleveres Spiel mit (Un)sichtbarkeiten zu: Am eindrucksvollsten wahrscheinlich in dem Moment, als Yannick Jella zum ersten Mal in den Schwitzkasten nimmt und nur ihre zuckenden Gliedmaßen zu sehen sind.
Es war eine gute Entscheidung, den Abend nicht zu verkünsteln, sondern sein erzählerisches Potenzial auszuschöpfen – den Prozess, wie sich patriarchale Machtdynamiken immer mehr in die Selbstwahrnehmung der Protagonist:innen einnisten und die eigene Perspektive auf Erlebtes manipulieren sinnlich erlebbar zu machen. Nicht zuletzt durch die musikalische Gestaltung von Lenny Mockridge, die den Abspaltungsprozess Jellas im Wechsel zwischen euphorischen Pop-Beats und düsteren Klangteppichen reflektiert. Denn wenn Shelly zwischen Lachflash und Beinrasur sagt: „Ich hab’ eh immer Kondome dabei. Falls ich mal vergewaltigt werden, kann ich den Vergewaltiger immer noch anbetteln, ein Kondom zu benutzen“, kommt einem die Wirklichkeit schon grotesk genug vor.
Erschienen am 14.10.2025