Theater und Moral
Unter dem Shitstorm der Strand
Ein Versuch über Öffentlichkeit, Moral und Kunst
von Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Rechte Gewalt – Esra Küçük und Milo Rau im Gespräch (04/2020)
Assoziationen: Wissenschaft
I.
There is no society, only Meinungen
Nehmen wir einmal an, bei einer Umfrage würden zwei Drittel der Befragten einer Aussage zustimmen, die ungefähr so lautet: Wenn man sich heutzutage öffentlich äußert, muss man sich überlegen, was man sagt. Ein Grund zur Panik? Naht das Ende der Meinungsfreiheit, gar des Abendlandes? Mitnichten. Man kann sich auch fragen, was das restliche Drittel vor dem öffentlichen Sprechen macht. Kopf aus, Mund auf? Soll heißen: Das zu betrachtende Problem lässt sich mit Statistik allein nicht begreifen. Auch werden nicht jene Meinungen am bösartigsten unterdrückt, die das am schrillsten für sich reklamieren. „Jeder kann seine eigene Meinung haben, aber manche verdient Prügel“, sagt ein chinesisches Sprichwort. Es geht nicht wirklich um Schläge, sondern um Formen zivilisierter Verachtung wie Urteil und Kritik. Öffentlichkeit ohne Maßstäbe ist keine. Doch irgendetwas scheint gegenwärtig gestört. Vieles nennt sich Debatte, ist aber nur ein Stellungskrieg von unverrückbaren Meinungen. Empörung triumphiert über Argumente, Denunziation ersetzt die Auseinandersetzung, Moralisieren steht an der Stelle von Sachgehalt. Allein diese Bestandsaufnahme könnte sich schon unter weiteren alarmistischen Beschreibungen einordnen, verlangt aber nach Analyse. Denn in der Moderne war die Öffentlichkeit nie der „herrschaftsfreie Diskurs“, als der sie sich missverstand. Geleitet von unausgesprochenen Interessen war...