Was mich interessiert, ist die Konstruktion: IKI. Radikalmensch von Kevin Rittberger. Regie Rieke Süßkow
Uraufführung 6. September 2019 Theater Osnabrück im Rahmen des Festivals Spieltriebe. Bühne Lukas Fries. Kostüme Marlen Duken. Dramaturgie Karin Nissen-Rizvani
von Harry Lehmann
Erschienen in: Radikal jung 2020 – Das Festival für junge Regie (03/2020)
Assoziationen: Regie Akteure Kevin Rittberger Rieke Süßkow Theater Osnabrück

Letztes Jahr in Osnabrück stand der Mensch als registered trademark, d. h. als „registrierte Handelsmarke“ zur Disposition: Das biennale Theaterfestival Spieltriebe fand unter dem Motto „MENSCH ®“ statt. Der Autor Kevin Rittberger, der den Auftrag erhielt, dafür ein neues Stück zu schreiben, hat in seinem Text „IKI. Radikalmensch“ zwei aktuelle Themen miteinander verknüpft: den Klimawandel und die künstliche Intelligenz. Bemerkenswert an diesem Zukunftsszenario ist, dass man lange Zeit im Ungewissen bleibt, ob man es mit einer Utopie oder mit einer Dystopie zu tun hat.
Die Regisseurin Rieke Süßkow, die vom Festival mit der Uraufführung des Stücks betraut wurde und die Inszenierung im Team mit dem Bühnenbildner Lukas Fries und der Kostümbildnerin Marlen Duken erarbeitet hat, löst diese Ambivalenz nicht auf, sondern lässt auch die Aufführung über weite Strecken zwischen dem guten und dem schlechten Weltentwurf changieren. „Ambivalent zu bleiben, ist immer mein Anspruch“, sagt die Regisseurin beim Gespräch in einem Berliner Café. „Ich will den Zuschauern nicht meine Meinung aufdrücken, sondern sie selbst denken lassen. Mir ist es wichtig, die Komplexität einer Situation spürbar und erfahrbar zu machen.“
Was zuerst auffällt und im Gedächtnis bleibt, ist das Bühnenbild: ein roter Stoff, der aufgebauscht den Boden bedeckt und von den Seitenwänden herabwallt. In dieser Stofflandschaft lebt Peter Vogel in symbiotischer Zweisamkeit mit IKI, einer „Intimen Künstlichen Intelligenz“ in Frauengestalt, die von einem Mann gespielt wird, da sich in Vogels Welt die Geschlechtergrenzen aufzulösen beginnen. IKI wurde einst als Sexpuppe erworben und hat inzwischen viel von und über Peter gelernt, sodass sie über seine Wünsche, Befindlichkeiten, Ernährungsgewohnheiten und politischen Ansichten bestens Bescheid weiß und sich zu seinem Alter Ego entwickelt hat. Beide tragen gleiche T-Shirts, auf denen spiegelbildlich jeweils ein Vogel zu sehen ist, weil Peter Vogel, wie man erfährt, sowohl die Vögel als auch das Vögeln mag.
IKI hat sich im Laufe der Zeit nicht nur zur unverzichtbaren Assistentin für alle Lebenslagen upgedated, sondern für ihren Besitzer auch jenes Verständnis und Einfühlungsvermögen ausgebildet, das eigentlich nur Liebende füreinander empfinden. So scheint es geradezu schicksalhaft zu sein, dass sich die Geschöpfe, die einen solchen Grad an Intimität füreinander entwickeln, auch ineinander verlieben – zumindest trifft dies für Peter zu. IKI hat das Spiel der Liebe vielleicht nur perfekt erlernt. Auf jeden Fall geht der Unterschied zwischen Mensch und Maschine offenbar in dem Augenblick verloren, in dem sich eine Maschine wie eine Liebende zu verhalten beginnt.
Rieke Süßkow findet für diese Konstellation ein großartiges Bild: Es gibt in ihrer Inszenierung eine Szene mit einem kleinen Plüschbären, der fast zwei Minuten lang seine Ärmchen und Beinchen zur Musik bewegt, die aus seinem Körper plärrt. Peter Vogel liegt auf dem Bauch und blickt ihm fasziniert zu. Nichts könnte das Verhältnis zwischen ihm und seiner künstlichen Partnerin besser versinnbildlichen: Peter liebt seine IKI genauso unmittelbar wie Kinder ihre Stofftiere lieben. Die Spielzeuge müssen eben nur einen gewissen Grad an Intelligenz entwickeln, bis auch Erwachsene beginnen, sie, wie einst in ihrer Kindheit, als Personen zu behandeln und mit ihrer Fantasie zum Leben zu erwecken.
Die künstliche Intelligenz bereichert in dieser Zukunftsparabel aber nicht nur das Privatleben, sondern sie ist auch ein Instrument zur Rettung der Welt. Peter Vogel war einst ein Umweltaktivist, der sich ungefähr zu der Zeit, als der Autor das Stück schrieb, für eine Protestaktion gegen ein Kohlekraftwerk an die Bahngleise gekettet hatte und nun auf der Bühne (vermutlich zwanzig Jahre später) „Chefkoordinator des Staatstrojaners“ geworden ist. Der Clou und die Tragik dieser Kunstfigur bestehen darin, dass sie auf ihrem langen Marsch durch die Institutionen den Datenschutz zugunsten des Umweltschutzes aufgegeben hat – oder besser gesagt, aus einer historischen Notwendigkeit heraus sich hier zum Umdenken gezwungen sah.
Die fiktive Gesellschaft, in der Vogel lebt, ist zu der Einsicht gekommen, dass man die Klimakatastrophe nur dann bewältigen könne, wenn man mit Hilfe von künstlicher Intelligenz den CO2-Verbrauch der eigenen Bürger hinreichend kontrolliert. Das führt natürlich zu politischen Konflikten zwischen den Einsichtigen und den Uneinsichtigen (dem „autochthonen Volk“), die sich mit demokratischen Mitteln nicht mehr richtig auflösen lassen. Wie man erfährt, „hatte eine mauve-grüne Regierung drastische Maßnahmen ergriffen“. Allerdings spielt das Stück eben nicht mehr im Jahr 1984 wie bei Orwell, sondern ein halbes Jahrhundert später, wo Gedanken Datenpakete sind, die permanent von KI-Systemen gelesen und verarbeitet werden. Angesichts dieser neuen technischen Möglichkeiten feierte der alte revolutionäre Traum vom „neuen Menschen“ eine Wiedergeburt. Deswegen scheint es in Vogels Welt unvermeidlich zu sein, dass man die Menschen nicht nur überwacht, sondern auch ihr Bewusstsein verändert – sodass sie auch wollen, was sie sollen.
Auf die Frage nach ihrer eigenen Haltung zur künstlichen Intelligenz und danach, ob sie in dieser Technologie eher eine Bedrohung oder eine Verheißung sieht, erklärt Rieke Süßkow: „Ich halte einfache Aussagen über ein so komplexes Thema für einseitig und gefährlich. Ich stelle als Theatermacherin Fragen.“
Neben Peter und IKI kommt in der Aufführung noch eine dritte Person ins Spiel, die sogenannte Assistentin, die Peter selbst eingestellt hat, woran er sich aber nicht mehr erinnern kann. Sie besitzt eine eigene Textebene im Stück, die in Kapitälchen gedruckt ist, und signalisiert, dass das ganze Geschehen hier aus einer externen Beobachterperspektive kommentiert wird. Zumindest weiß die Assistentin mehr als Peter über die neue Welt, weshalb ihre Stimme des Öfteren aus dem Off spricht. Der Große Bruder ist im 21. Jahrhundert zur Großen Schwester geworden.
Je intelligenter die „Ökodiktatur“ wird, deren Teil Peter ist, desto mehr vertreibt sie ihn aus seinem kleinen privaten Paradies. In Süßkows Inszenierung merkt man das daran, dass der rote Stoff von der „Assistentin“ langsam von den Wänden der Wohnhöhle gezogen wird und sich in eine Stoffwüste verwandelt. Im Scheinwerferlicht leuchtet der Stoff nun nicht länger im satten Rot, sondern beginnt – die neue Politik scheint Wirkung zu zeigen –, in einem Mauve-Ton zu schimmern. Die junge Frau konnte sich offenbar besser mit den neuen Verhältnissen arrangieren als ihr alter Chef. Sie verkörpert oder propagiert den „neuen Menschen“, der die innige Vertrautheit zu einem anderen Wesen nicht mehr benötigt, auf die Peter aber nicht verzichten kann. Als er versucht, das staatlich erlaubte Maß an Intimität zu überschreiten, indem er die Einstellungen von IKI manipuliert, wird deren Festplatte automatisch gelöscht. Auch in diesem „ökologisch-bürgerlichen Rührstück“ frisst die Revolution ihre Kinder, selbst wenn diese Kinder Umweltaktivisten sind.
Peter spürt in diesem Moment, in dem er seine Gefährtin verliert, die „große Transformation“ der Gesellschaft. Die „Assistentin“ bemalt Peters nackten Körper mit einer mauvefarbenen Emulsion – so als ob die neue Welt auf ihn abfärbt. Mit der netten Stimme einer Nachrichtensprecherin verkündet die Blondine: „Fest steht, dass der Neue Mensch … auf die tausend Häupte der KI treffen wird. Er wird fürderhin … als vaterlandsloser Geselle auf Erden wandeln … Eine Identität wird der Neue Mensch erst dann erlangen, wenn alle anderen stehenden und ständischen Identitäten verdampft sind … Der Neue Mensch, das ist definitiv weniger Mensch“.
An diesem Wendepunkt von der alten in die neue Welt und vom alten zum neuen Menschen schafft das Regieteam einen wirklich eindrücklichen, erhabenen Theatermoment. Der auf dem Boden liegende Stoff beginnt, sich aufzubauschen und Peter Vogel einzuhüllen, und wird schließlich über die Köpfe der im Parkett sitzenden Zuschauer gezogen. Sie werden Teil jener „großen Transformation“, an deren Ende jeder mit jedem zu einem einzigen kollektiven Wir verbunden ist. Es kommt zum Netzwerkeffekt zwischen all den vielen künstlichen Intelligenzen, sodass IKI (die „Intime Künstliche Intelligenz“) nun durch UKI (eine „Universelle Künstliche Intelligenz“) ersetzt wird. Peter ist nicht dafür geschaffen, sich in ein identitätsloses Wesen zu verwandeln, und wird folgerichtig aus dem Inneren der Stoffhülle herausgedrängt.
Es ist wirklich ein brillanter Regieeinfall, mit ein und demselben roten Stoff drei verschiedene Bühnenräume – und damit eben auch drei verschiedene Welten – zu kreieren: die Welt, in der Peter beschützt und geborgen in einem großen roten Uterus mit IKI lebt und in der er als Staatstrojaner-Chef mithilft, eine Ökodiktatur durchzusetzen; eine Zwischenwelt, in der die „Assistentin“ seine Geschicke zu lenken beginnt und in der die künstliche Intelligenz universell wird; und schließlich jene neue fiktive Welt, in der die Idee vom „neuen Menschen“ Wirklichkeit geworden ist, in der es aber für einen Peter Vogel keinen Platz mehr gibt.
Rieke Süßkow wurde 1990 in Berlin geboren und hat nach eigenem Bekunden nie einen anderen Berufswunsch verspürt, als „etwas mit Theater zu machen“. Nach dem Abitur entwickelte sie in Schottland zunächst ein Jahr lang erste eigene Inszenierungen mit Kinder- und Jugendgruppen. 2010 begann sie, in Wien Theater-, Film und Medienwissenschaft zu studieren, und hat dort das nicht.THEATER Ensemble mitbegründet, für das sie site-spezifische Arbeiten in der freien Szene entwickelte. „Unser Ziel war, die Grenzen und Konventionen des Theaters zu befragen und Architektur und deren Systemhaftigkeit spürbar zu machen“, erklärt die Regisseurin. „In dieser Zeit habe ich sehr viel gelernt – autodidaktisch, ohne eine Universität oder einen Staatstheaterapparat im Rücken.“ Vor allem, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen: „Wir haben alles allein organisiert: Spielorte, Proberäume, Fördergelder, Flyer drucken, Bühnenbilder zusammenschrauben etc.“ Eine ihrer wichtigsten Erfahrungen habe darin bestanden, „der eigenen Intuition zu trauen; sich nicht von außen erzählen zu lassen, wo die Grenzen liegen, sondern sie selbst auszutesten“, so Süßkow. Nach ein paar Jahren entschied sie sich dennoch für ein Regiestudium: „Weil ich gemerkt habe, dass ich noch mehr lernen will – über verschiedene Theaterformen und Ansätze von verschiedenen erfahrenen Theatermachern.“
Von 2014 bis 2019 studierte Süßkow dann an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Ihre Abschlussinszenierung „Medea“, die Anfang 2019 auf Kampnagel Premiere feierte, wurde zum Festival Fast Forward am Staatsschauspiel Dresden eingeladen und gewann beim FIAT Festival in Montenegro den Preis für die beste Regie; Aleksandra Corovic wurde für ihre Darstellung der Medea als beste weibliche Darstellerin ausgezeichnet. Bei Süßkow wird die ganze „Medea“-Tragödie in eine Welt ohne Sprache versetzt, wo alle Beteiligten aufeinander reagieren, aber nicht miteinander kommunizieren. Auffallend ist, dass die beiden Kinder nicht nur identisch aussehen, sondern auch exakt die gleichen Bewegungen ausführen, also im Gleichschritt durchs Wohnzimmer laufen und im selben Rhythmus ihre Suppe löffeln. Das wirkt bizarr, ist aber weit mehr als nur ein Theatergag. Die Inszenierung lässt die Geschichte in den USA der 50er Jahre spielen. In den beiden Frauenfiguren erkennt man unschwer zwei Personen der Zeitgeschichte wieder, die zu US-amerikanischen Rollenmodellen par excellence geworden sind: Marilyn Monroe und Jackie Kennedy. Gleichzeitig – so lautet die Behauptung der Inszenierung – verhindern diese Rollenmuster jegliche Form von Nähe und Vertrautheit und schaffen damit den Boden von Verrat und Gewalt, wo es zu Ehebruch und Kindermord kommt. Man kann die beiden Kinder natürlich wie Zwillinge aussehen lassen und ihr Verhalten bis in die kleinste Kopfbewegung hinein synchronisieren. In dieser „Medea“-Inszenierung wird die Gleichschaltung der beiden Jungen darüber hinaus aber zum eindrücklichen Sinnbild einer Gesellschaft, in der die Erwachsenen derart strikten Rollenmustern folgen, dass ihre Kinder zu Robotern werden.
Die Regiearbeiten von Rieke Süßkow zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Formstrenge aus. Jede ästhetische Entscheidung ist eine zwingende Entscheidung. Vor dem Hintergrund des postdramatischen Theaters, wie es in den letzten Jahrzehnten vorherrschend war, ist dies ein durchaus ungewöhnlicher Ansatz, denn das freie – oder oft auch bewusst sinnfreie und selbstreferenzielle – Spiel mit allen erdenklichen Stilelementen gehört ja zu dessen Markenzeichen. „Grundsätzlich sehe ich in unserer heutigen Zeit und Gesellschaft kein Potenzial mehr in der Dekonstruktion, weil ich darin weder utopisch noch visionär denken oder sichtbar machen kann, welches System es ist, das als Gegenstand der Betrachtung kritisch befragt werden soll“, sagt Süßkow. „Wenn ich nicht das Konstrukt dahinter spüre, das dekonstruiert werden sollte, verpufft die Idee und hat für mich weder eine befreiende noch eine inspirierende Wirkung.“
Der äußerst ökonomische Einsatz von ästhetischen Mitteln begründet bei Süßkow keinen spezifischen Stil und erst recht keine minimalistische Ästhetik, der abstrakte Regeln zugrunde liegen. Die Formensprache der Regisseurin ist ganz im Gegenteil äußerst sinnlich. Hat die Ästhetik, die sich in diesen ersten Inszenierungen zeigt, etwas mit einer Abgrenzungs- und Gegenbewegung gegenüber der vorherrschenden Theaterpraxis und den zugehörigen Diskursen zu tun? „Das ist interessant, dass Sie es als Gegenbewegung bezeichnen“, entgegnet Süßkow. „Vielleicht, weil ich immer schon Interesse daran hatte, die Gegenposition einzunehmen? Ich glaube ja insgeheim, dass das einer der Gründe ist, warum ich überhaupt zum Theater gekommen bin.“ Für Süßkow ist das Theater ein Erlebnisraum: „Was mich interessiert, ist die Konstruktion, das Erschaffen und Erfinden von anderen, fremden, hermetischen Welten. Ich möchte kein Theater machen, das die Zuschauenden für dumm verkauft.“