Theater der Zeit

Essay

Wilde Dramaturgie – Nachdenken über Textarbeit

Eine dichterische Annäherung an die Theaterarbeit von Los Bárbaros. Als Kollektiv haben sie eine eigene Poetik der losen Zeitzusammenhänge und unruhigen Präsenz entwickelt, weit weg von den Zwängen der Realität, aber ohne aufzuhören, sie als Inspiration zu betrachten.

von Javier Hernando

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Spanien (10/2022)

Assoziationen: Dramaturgie Dramatik Europa Dossier: Spanien

„Atlántida“, Text und Regie von Los Bárbaros am Matadero Madrid 2018. Foto Los Bárbaros
„Atlántida“, Text und Regie von Los Bárbaros am Matadero Madrid 2018Foto: Los Bárbaros

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Ein Theaterstück hinterlässt ein Meer und einen Berg. Wenn wir das Meer sehen könnten, sähen wir den dazugehörenden Rhythmus, durchdringend, der weit über die Worte hinausgeht. Wenn wir den Berg sehen und in der Mitte durchschneiden könnten, sähen wir die Schichten und Sedimente, die das Stück in sich selbst hinterlassen hat. Die Dramatik als Meer denken und als Berg. Beim Denken an das dramatische Schreiben nicht nur an die Worte denken. Das Gleichgewicht zwischen Eindeutigkeit, Verwunderung, Weite und Dichte, Stein, Stütze suchen. Das Stück denken als alles, was innerhalb und außerhalb desselben passiert, in dem Moment, in dem es beginnt.

Vom Unbequemen her denken, dabei wissen, dass die Aktualität der Feind ist, dass es immer einen unvorhergesehenen Konflikt gibt. Wissen, dass alles voller Gespenster ist, mit ihnen sprechen. Dass man nie erzählt, was man schreibt. Ein einzelner Satz sei immer klarer, sagte Canetti, der folgende verunklare ihn schon wieder. Wissen, wie Erzählungen konstruiert sind, um sie wieder neu erzählen zu können. Die Einbildung ausweiten. Die Dinge zusammenbringen, dabei verschiedene Positionen respektieren und nicht den Konsens suchen. Zum Unmöglichen gehen. Das Licht ­suchen. Keine Angst vor dem Scheitern haben, weil das Scheitern dir Vater und Mutter ist. Der Blick sollte wie Lesen sein und das Bild wie ein Buch. Wissen, dass ein Wort verschiedene Synonyme hat, aber ein Gesicht kein Äquivalent. Dass die Bühne eine Welt sein soll. Die Imagination eine Brücke zwischen der Realität und einem selbst. Dass die Zeit ein anderer Ort ist. Weder Worte klauen noch ihren Sinn verdrehen. Wissen, dass nichts andauert, dass man selbst die Ewigkeit ist und in dem überlebt, was man hinterlässt. Dass „unsere schärfste politische Waffe“, wie Edmond Jabès schrieb, „immer die Frage war, ist und sein wird.“ Lange ­Gespräche haben und Theaterstücke schreiben wie Gespräche, die nie enden. Dreck unter den Fingernägeln haben.

Wissen, dass die Dramaturgie die Techniken ­organisiert, mit denen Sinn hergestellt wird, dass aber der Sinn nicht das Stück herstellt. Dass das Stück spricht, aber nicht bedeutet. Dass es im Ganzen bedeutsam ist. Dass der Sinn eine Bewegung ist, die den Zuschauer auffordert, am Stück teilzunehmen, es auf eigene Weise zu dechiffrieren. Wissen, dass dramatisches Schreiben Lesen lenkt, aber kein Akt des Lesens ist. Dass dieser Vorgang, der Vorgang, der Sinn pro­duziert, dem Zuschauer gehört, und dass dieser beim Lesen dem Stück seinen lebendigen und intellektuellen Kontext verleiht.

Dass die Dramatik öffnet und der Zuschauer durch diese Öffnung in das Stück eindringen kann, um seinen Raum zu bewohnen. Dass die Dramatik eine Begegnung anbietet, deren Resultat, wenn alles gut geht, der Sinn ist. Ein durchsichtiger Faden, der mindestens zwei Personen verbindet. Und dadurch die Macht des Erschaffers in Verantwortung verwandelt, die Tyrannei der Vorgabe in die Bewegung eines Vorschlags. Uns von den Dingen durchdrungen wissen.

Dass wir die Dramatik nur in ihrer Auflösung erkennen. Wenn sich nichts mehr einzeln betrachten lässt, ohne dass dadurch ein irreparabler Schaden entstehen würde. Mit unsichtbaren Linien arbeiten, mit großen Gesten, die eine Architektur hervorbringen. Dass die ständig anwesenden Unsichtbarkeiten sich in den Momenten besonderer Intensität verdichten, in denen Raum und Zeit zusammenfließen. Dass unsere Aufgabe der von Totengräbern gleicht: Löcher öffnen und schließen, Sachen drinnen lassen. Und dass die Aufgabe des Zuschauenden die des Paläontologen sein sollte: den Knochen heben, seinen Niedergang ent­rätseln. Beides auch Aufgaben des Hundes. Sich an den Prolog von „Der letzte Leser“ von Piglia erinnern, wo die Geschichte eines Bewohners von Buenos Aires erzählt wird, der in seinem Haus eine Nachbildung der Stadt baut, deren Maßstab so klein ist, dass es unmöglich wird, sie mit nur einem Blick zu erfassen. Als er fertig ist, zeigen sich in dem Nachbau die kleinen Abnutzungserscheinungen der Stadt, die er regelmäßig reparieren muss, und gleichzeitig werden die Veränderungen am Modell auch in den Straßen von Buenos Aires wahr. Die Bühne nicht als Spiegel denken, sondern als Realität, die mit einer anderen einen Pakt schließt.

Beim Nachdenken über Theaterstücke am Anfang immer über Gedichte sprechen. Weil die Dichtung eine Form von andersgedachtem Wissen ist, aufsässig, die nichts herleitet und Dinge in Zusammenhang bringt, die zuvor nicht zusammengebracht werden konnten. Eine Kette aus Augen, die nach innen und außen sehen, um unseren Kopf herumhaben. Oder wenigstens wissen, dass das, was wir sehen, auch gleichzeitig das ist, was wir nicht ­sehen, was uns entkommt und das, was draußen bleibt. Mit der nötigen Distanz arbeiten, um die Dinge gut zu beherrschen. Sich nicht bemühen zu zeigen, dass etwas Bedeutung hat, oder so viel Inhalt wie möglich zusammenzukriegen, sondern, wie Susan Sontag schrieb, lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören, mehr zu fühlen.

Eine Haltung haben. Tim Etchells sagte in einem Interview, dass seine Arbeit deshalb politisch sei, weil sie Räume in anderen Menschen öffne. Versuchen, Zonen zu schaffen, in denen der Andere für sich selbst reagiert, imaginiert und denkt. Nicht so viel Interesse daran haben, „etwas zu sagen“, wie daran, Räume zu schaffen, damit andere ernsthaft nachdenken, indem eine Spannung geschaffen wird, ein Raum, in dem Ideen in all ­ihren Aspekten zirkulieren können. Einverstanden sein mit René Char, wenn er schreibt: „Im Gewebe eines Gedichts sollten in gleicher Anzahl geheime Gänge liegen, Räume der Harmonie und zugleich Teile der Zukunft, Sonnenhäfen, verfängliche Bahnen und Wesen, die einander rufen. Der Dichter ist der Kurier für all diese Dinge, die eine Ordnung bilden. Eine aufständische Ordnung“.

Wissen, dass das Problem der Kunst und folglich dessen, worum sie sich kümmern muss, folglich das Problem des Theaters, und worum das Theater sich kümmern muss, ein Problem der Distanzen ist. Weil eine Distanz die Dinge von den Worten trennt, die ­Erzählungen von den Wirklichkeiten, die Bilder von ihren Repräsentationen, ein Pronomen vom anderen, den Zuschauerraum von der Bühne. Eine Grenze erreichen und sie mit einer anderen in Dialog bringen. Mit José Luis Brea einig sein, wenn er sagt, dass die Arbeit der Kunst darin besteht, die Repräsentation zu enttarnen, und dass die Kunst nichts anderes ist als eine Praxis der Repräsentation ist. Diese Spannung verstehen. Und mit Joseph Beuys, der sagt, dass die ­demokratische Kreativität die Vernunft der Dinge entdecken muss. An Glenn Gould denken, als er aufhörte, Konzerte zu geben, weil die Säle ihm wegen der Anwesenheit von Bildern nicht mehr als der angemessene Ort erschienen, um Musik zu hören. Weil das Konzert, wie Gott, kein Bild von sich duldet. Die Distanz kennen, ihre Widersprüche annehmen. Wissen, dass die Bühne ein so dunkler Ort ist wie die Nacht von San Juan de la Cruz.

Mit mehr Unmittelbarkeit experimentieren. Keine Komplizen der Betäubung werden. Wissen, dass der Humor Distanz schafft, und dass jede Distanz ein Raum der kritischen Möglichkeiten ist. Bis zum Ende der Landschaft gehen, auf der anderen Seite ankommen. Überzeugt sein, dass die Imagination Möglichkeiten eröffnet. Dass „die Wahrheit aus der Imagination geboren wird“, wie eine Figur von Ursula K. Le Guin in „La mano izquierda de la oscuridad“ sagt. Um die Problematik der Erzählungen wissen und die Vorstellungskraft als Werkzeug benutzen, um das Unmögliche in Angriff zu nehmen. Die Kindergeschichte von Ionesco noch mal lesen, in der ein Vater und seine Tochter bis zur Sonne reisen, ohne auch nur aus dem Bett aufzustehen. Begreifen, dass, ­damit etwas präsent sein kann, um denken zu können, dass man etwas vor sich hat, vorher Leeren und Lücken existieren müssen.

Klarheit ersehnen und verfolgen. Wie San Juan wissen, dass das Licht purer ist, je unsichtbarer es ist, ohne Partikel und Staubkörnchen. Eine widersprüch­liche Beziehung haben zu dem, was man tut.

Kafka schrieb in einem Brief an seinen Freund ­Oskar Pollak: „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? (…) Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod ­eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in ­Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Einen unsichtbaren Berg hochsteigen. Ein Meer überqueren, das es nicht gibt. Sich der Welt mit Staunen nähern, mit Fragen und aus den Wundern des Alltags heraus. Theater machen wie jemand, der Brot backt. Ein Feld voll wildwachsender Blumen düngen. Ein wildes Denken behalten, das, wie Levi-Strauss es definierte, nicht das Denken von „Wilden" meint, sondern ein Denken, das sich vom kultivierten, nur auf Profit ausgerichteten Blick unterscheidet. Materie und frische Luft auf die Bühne! Sich zu Hause fühlen beim Lesen des Gedichts „Vermeer“ von Wisława Szymborska, in dem es heißt: „Solange diese Frau im Rijksmuseum / in gemalter Hingabe und Stille / Tag für Tag die Milch aus dem Krug in die Schüssel gießt / so lange hat unsere Welt / keinen Weltuntergang verdient.“ Und sich beim Nachdenken darüber, was eigentlich Dramatik ist, an das Gedicht von José Hierro erinnern: „Ich rufe Alles!, und das Echo sagt Nichts! / Ich rufe Nichts!, und das Echo sagt Alles! / Ich weiss jetzt, dass das Nichts alles gewesen ist / und alles war Asche aus dem Nichts.“ Und an diese „Verse vom Berg der Perfektion“: „Um zu erlangen, alles zu wissen, suche in nichts ­etwas zu wissen. Um zu erlangen, alles zu besitzen, suche in nichts Besitz.“ //

Aus dem Spanischen von Charlotte Roos

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