Ist Dimitris Papaioannous Theater griechisch oder Simon McBurneys Arbeit britisch? – Nicht wirklich. Es mag nationale Zuschreibungen geben, aber sie sind, zumal bei hoher künstlerischer Qualität, nicht spürbar, sagt Marina Davydova. Die russische Journalistin, Festivalleiterin und diesjährige Schauspielkuratorin der Wiener Festwochen findet es müßig, über nationale Theaterkulturen nachzudenken. Ob sie das zeitgenössische Theater in Belgien oder in Israel finde, sei schließlich egal.
Demnach hat Davydova auch wenig Gefallen an den Begriffen „osteuropäisches“ und „westeuropäisches“ Theater. Schon bei der Antrittspressekonferenz verblüffte sie mit ihrem allerersten Satz: „Vergessen Sie, dass ich Russin bin!“ Und tatsächlich konnte man auch nichts „Sibirisches“ oder „Ungarisches“ bei dem fünfwöchigen Festival ausmachen. Die Theaterwelt wuchs, im Gegensatz zu geopolitischen Entwicklungen, in den letzten zwei Jahrzehnten mehr und mehr zusammen. Und deshalb könnte Timofej Kuljabins ausgezeichnete „Drei Schwestern“-Inszenierung aus Nowosibirsk auch aus Antwerpen oder Malmö stammen.
Timofej Kuljabin war Davydova ein besonderes Anliegen. Der 32-Jährige steht für die jüngste Aufbruchsstimmung in der russischen Kunst, die viele derzeit wieder verebben sehen. Kuljabin knickt vor Kontrollbehörden nicht ein (seine „Tannhäuser“-Inszenierung am Opernhaus von Nowosibirsk wurde 2015 aus religiösen Gründen abgesetzt), und er erwies sich sowohl als scharfsinniger Regisseur als auch als experimentierfreudiger Intendant; seit 2015 ist er künstlerischer Leiter des...