Realismus
Realismus nach 2008 (Neuer Realismus #12)
Kunst und die Krise des Kapitalismus
von Jette Gindner
Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)
Assoziationen: Wissenschaft Akteure
Bertolt Brechts „Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus“ zeigt, wie die Bewohner eines Hauses – trotz schon angesengter Augenbrauen – eher das lodernde Feuer verdrängen, als den Schritt ins Freie zu wagen. 1937 im Exil verfasst, trifft Brechts Gedicht den Zeitgeist 2017 auf wirklich sonderbare Art. Das zeigt sich exemplarisch an der gegenwärtigen Realismusdebatte: Der Wiederaufstieg des Realismus in den letzten Jahren, heißt es da, sei eine Antwort auf die zunehmende Virtualisierung unserer Lebenswelt durch das Internet. Oder eine Reaktion auf die Postmoderne, insbesondere das postdramatische Theater. Die naheliegendste Erklärung für die Entstehung eines erneuerten Interesses am Realismus aber ist in der Debatte bisher abwesend geblieben: die wirtschaftliche und politische Krise der Gegenwart. Knapp ein Jahrzehnt nach der sogenannten Finanzkrise von 2007/08 leben wir in einer seltsamen Verdrängung, ganz ähnlich den Bewohnern des brennenden Hauses bei Brecht. Ja, mehr noch: Anders als in Brechts abschließendem Kommentar zu dem Gleichnis fragen die Leute heute nicht, „was aus ihren Sparbüchsen und Sonntagshosen werden soll nach einer Umwälzung“ – vielleicht, weil achtzig Jahre nach Brechts Gedicht die „Bombenflugzeuggeschwader des Kapitals“ meist unsichtbar und seit 1989 Revolutionen fast undenkbar geworden sind. Und dennoch, die allgemeine Kapitalismus- und Demokratiekrise hinterlässt Spuren: Wie Seismografen registrieren die neuen Realismen in der Kunst, wie sich die Krise im Alltag fortsetzt. In Aussparungen, stummem Verlangen und Momenten des Ausbruchs formen sie die Begierde nach einer anderen Zukunft – einer Zukunft jenseits der Krise, jenseits des Kapitals.
I.
Natürlich lässt sich einwenden, realistische Kunst habe es immer schon gegeben, lange vor und ganz unabhängig vom Kapitalismus. Erich Auerbachs Realismusklassiker „Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur“ (1946), zum Beispiel, beginnt mit Homers „Odyssee“. Und doch ist die Kunstform Realismus besonders eng verknüpft mit der sozialen Form, welche die westliche Welt seit wenigen Jahrhunderten dominiert: kapitalistische Produktionsweise plus legal-formale Freiheit des Individuums, später zumeist verbunden mit parlamentarischer Demokratie. Mit der Durchsetzung dieser Form im Zuge der ersten industriellen Revolution entsteht auch in Deutschland der Realismus – nicht zufällig stammen viele seiner interessantesten Werke aber aus der Zeit der ab 1873 folgenden Gründerkrise. Krisen schärfen den Blick für den gesellschaftlichen Zusammenhang: „Die Einheit, der objektive Zusammenhang aller Teile, trotz ihrer Verselbständigung, äußert sich am prägnantesten gerade in der Krise“, schreibt Georg Lukács 1938.
Es sind Lukács‘ Realismusessays der dreißiger Jahre, vielleicht mehr noch als Lukács‘ politisch unverfänglicheres Frühwerk „Die Theorie des Romans“, die sich zu lesen heute besonders lohnen. Denn in Texten wie „Es geht um den Realismus“ (1938) stellt Lukács via Marx eine für unsere Gegenwart zentrale Verbindung her: Kapitalismuskrisen sind epistemologische Schlüsselmomente für Realismus. Vor allem in Krisenzeiten lässt uns realistische Kunst die Einheit der gegeneinander verselbständigten Teile des Systems erkennen, die in Boomzeiten verborgen bleibt: die Einheit von Finanzwesen und Produktion, von Spekulation auf die Zukunft und vergangener Wertschöpfung, von fiktiver Möglichkeit und der konkreten Materialität, die sie begrenzt. Die gewaltsame Wiederherstellung dieser Einheit in der Krise, welche die meisten Menschen genau umgekehrt als Zerrissenheit erfahren, kann Realismus sicht- und verstehbar machen.
II.
Den systemischen Zusammenhang zu erkennen heißt auch, den Begriff Krise neu zu definieren. Die Rede ist hier nicht von Krisen im Plural, von der sogenannten Finanzkrise von 2007/08, der neoliberalen Prekarisierung aller Lebensbereiche und der zunehmenden Auflösung Europas. Langfristige Analysen führen Ökonomie und Politik zusammen und zeigen, dass die genannten Krisen nur einzelne Punkte eines Ganzen sind, das der Wirtschaftshistoriker Robert Brenner als „one long downturn“ führender Volkswirtschaften, der USA, Deutschlands und Japans, seit den frühen siebziger Jahren empirisch nachgezeichnet hat – ein Trend, der inzwischen auch für die gerade erst aufgestiegenen BRICS-Ökonomien wie Indien und China gilt. Das Gegenmittel, ein seit den Achtzigern mithilfe politischer Deregulierung expandierender Finanzsektor, erzeugte in den neunziger und nuller Jahren einen trügerischen Boom – als diese Blasen in New Economy und Immobilienmarkt im Jahr 2000 und 2007 jedoch platzten, machten die darauffolgenden Krisen die strukturelle Sackgasse kapitalistisch organisierter Volkswirtschaften sichtbar, deren gesamtgesellschaftliche Wertproduktion seit fast fünf Jahrzehnten stagniert oder gar zurückgeht. Maschinen ersetzen zunehmend menschliche Arbeit (und erhöhen die Produktivität), untergraben damit aber auch die Basis für Wertschöpfung – und drängen immer mehr Arbeitende in den Dienstleistungssektor, informelle Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosigkeit. Aus Perspektive des Krisengewinners Deutschland ist diese Dynamik weniger sichtbar, doch ein Blick auf die Peripherien der Eurozone vervollständigt das Bild.
Eine wachsende Anzahl von Menschen ist heute aus Sicht des Kapitals schlicht überflüssig. Und das zieht politische Folgen nach sich: In Ferguson und Baltimore haben die rassifizierten Surplus-Bevölkerungen der USA den Aufstand gegen Polizeigewalt, Masseninhaftierung und Zwangsarbeit für einen Stundenlohn von unter einem Dollar in der staatlich organisierten Gefängnisindustrie geprobt. Die Angst vor dem noch bevorstehenden Abstieg nützt jedoch vor allem der politischen Rechten, welche die allgemein unverstandene Kapitalismuskrise in eine Folge der Globalisierung umdichtet und damit einen neuen Nationalismus schürt. Große Teile der Linken stehen ratlos vor dem überfälligen Paradigmenwechsel: Ihr Kampf lässt sich in postindustriellen Zeiten nicht mehr mithilfe des Begriffs Arbeiterklasse organisieren. Das Proletariat wächst, aber es ist zersplittert wie noch nie: Trotz theoretischer Neubewertung von Lumpen und Pöbel und neuer Allianzen, die Hoffnung machen, lassen sich die grundverschiedenen Surplus-Bevölkerungen nicht einfach zum vereinten revolutionären Subjekt addieren. Was die Linke wirklich braucht, ist eine tiefgreifende Analyse der Krise und eine darauf aufbauende, grundlegend neue Politik.
III.
Um das spätestens seit 2008 sichtlich veränderte Verhältnis von Krise und Normalzustand begrifflich zu fassen, ist ein neues Vokabular notwendig. Was wir erleben, ist keine zyklische Krise, die selbstheilende Märkte oder die richtige Konjunkturpolitik auf den Pfad zum Boom zurückführen werden. Trotz langer wirtschaftlicher Stagnation ist die Krise aber auch nicht einfach Normalität geworden, sondern verschärft sich, vor allem in ihren politischen Auswirkungen, dem internationalen Aufstieg eines neuen Protofaschismus. Trotzdem brauchen wir bei aller Endzeitstimmung, wie Kathrin Röggla argumentiert hat, keine „Katastrophengrammatik“. Eine solche Sprache führt in die Irre, weil sie als Ausnahmefall erscheinen lässt, was ureigener Teil und gesetzmäßige Entwicklung des Systems selbst ist. Der Soziologe Giovanni Arrighi hat diese Entwicklung in „The Long Twentieth Century“ in ihrer longue durée dargestellt: Die Weltgeschichte des Kapitals als Produktions- und Gesellschaftsform lässt sich durch Akkumulationszyklen auf jeweils höherer Stufe beschreiben, die mit produktivem Wachstum und Expansion beginnen, jedoch mit Expansion des Finanzsektors und Abstieg der jeweils hegemonialen Nation enden – von den italienischen Stadtstaaten im 14. Jahrhundert bis zu den USA.
Heute ist kein neuer Hegemon in Sicht: China, Indien und die anderen BRICS-Staaten haben einen hohen Grad von Automatisierung erreicht und stecken bereits selbst in der Krise. Die Gegenwart mutet vielmehr so an, als ob die auf dem Gegensatz von Wert und konkretem Reichtum aufgebaute soziale Ordnung sich ihrer eigenen, historischen Grenze nähere – oder diese längst überschritten hat und sich, untot wie ein Zombie, auf zukünftige Wertproduktion vorgreifend, durch fiktives Kapital weiter am Leben erhält. Kapitalismus in der Krise ist ein Kannibale: Um die Wertform an sich aufrechtzuerhalten, verzehrt er immer rascher den in Boomzeiten erarbeiteten sozialen Reichtum. In seiner allerletzten Konsequenz, das heißt im Krisenmodus, ist Kapitalismus pure antisoziale Negativität – er zerstört nicht nur das Proletariat, sondern alles sozial organisierte Leben. Genau hier liegt die Chance seiner Überwindung: Der kritische Standpunkt für eine erneuerte Linke ist nicht Klasse, sondern vielmehr Krise – die Frage nach der Möglichkeit von Sozialität an sich.
IV.
Warum Realismus jetzt? Was vermag Kunst in der Krise? Realismus heißt mit Lukács Kunst, die den gesellschaftlichen Zusammenhang sichtbar zu machen sucht – das ist viel in Krisenzeiten. Dafür reicht es zum Beispiel nicht aus, die Bankenwelt unvermittelt-unmittelbar in ihrem Glitzer zu spiegeln wie in der nicht enden wollenden Reihe von Banker-Filmen, einschließlich Christoph Hochhäuslers „Unter dir die Stadt“ (2010) oder zuletzt Adam McKays (wenn auch im Detail smartem und sichtlich um Erklärung bemühtem Oscargewinner) „The Big Short“ (2015). All diese Erzählungen implodieren, weil sie systemische Zusammenhänge personalisieren: Kapitalismus ist eine abstrakte, unpersönliche Form von Herrschaft, nicht erfassbar durch Porträts vermeintlicher Inhaber von Macht. Auch obsessives Sammeln faktischer Details über Persönlichkeitsmuster und Sozialverhalten von Managern, wie Rainald Goetz‘ Roman „Johann Holtrop“ (2012) als Antwort auf den vom Autor richtig und wichtig erspürten „Wirklichkeitsdruck aus der Wirtschaft“, führt trotz polemischem „Abriss der Gesellschaft“ auf keine Spur zu ihrem inneren Zusammenhang. Realismus ist eben nicht „einfaches wahres Abschreiben der Welt“ (Goetz), weil Realität nicht problemlos zugänglich, transparent oder fertig zum Abbilden bereitsteht.
V.
Ein zeitgenössischer Realismusbegriff kann vielleicht durchaus an Aristoteles anknüpfen, indem er Mimesis jedoch gerade nicht auf Imitation reduziert – sondern Kunstwerke etwa als mimetische Objekte versteht, die als denkende Einheiten (Träumen ähnlich) auf nichttheoretische Weise dennoch Theorien über die Welt entwickeln. In einer verdinglichten Welt können Kunstwerke durch die auf ihren Inhalt nicht reduzierbare Form einen Gegenpol bilden: Realismus gegen Verdinglichung. Dieser Gedanke geht über reine Autonomie hinaus und konkretisiert sich gerade im Moment der Krise. Der zugrunde liegende Formbegriff ließe sich durchaus weit fassen, meint aber nicht ein Repertoire feststehender, sondern immer neu zu findender Formen als Ausdruck einer kontinuierlich sich verändernden historischen Wirklichkeit. Im gegenwärtigen Zeitalter des fiktiven Kapitals jedenfalls muss ein Realismusbegriff die Entstehung neuer Spielarten von Realismus wahrnehmen, welche die Simulation von Wirklichkeitsnähe durchbrechen – auch wenn die hier notwendige Vermittlung komplizierter ist, als es die Homologie von fiktiv und Fiktion vermuten ließe.
VI.
Vielleicht hat ein Beispiel aus dem Film auch für das Theater Erklärungskraft: Steven Soderberghs „Magic Mike“ (2012) zeigte über nackte Männermuskeln hinaus geschickt Zusammenhänge auf zwischen der 2008er Krise, fiktivem Kapital, Deindustrialisierung, Surplus-Bevölkerungen und neuen Arbeitsformen. Anhand eines Strippers, der trotz 13 000 Dollar Anzahlung in bar wegen niedriger credit scores keinen Kredit auf der Bank bekommt, denkt Soderberghs Film in Umkehrform über die (Im)Materialität des Geldes, seine fiktiven Möglichkeiten und materiellen Grenzen nach. Die Gleichzeitigkeit von Arbeitsformen drei verschiedener Epochen – Mike träumt von kunsthandwerklicher Sonderanfertigung von Möbeln (präindustriell), verdient sein Geld aber auf dem Bau (Fordismus) und vor allem mit der Dienstleistung Sex (Postfordismus) – kristallisiert die Geschichte der Arbeit sowie den Zerfall der Arbeiterbewegung. Ein überlappender Sound, der räumlich und inhaltlich getrennte Szenen immer mehr ineinander verschwimmen lässt, verdeutlicht mit spezifisch filmischen Mitteln, dass Mike nicht das Leben einer multitalentierten „creative class“ führt, sondern als „working poor“ seine unterschiedlichen prekären Jobs und dazugehörigen Identitäten kaum mehr zu jonglieren vermag. Die Krise des Kapitals wird in der Sexarbeit von Männern schließlich auch als Krise (weißer abstiegsgefährdeter) Männlichkeit erfahrbar. Gerade in seinen unterschwellig regressiven Tendenzen, in denen der Film diesen drohenden Abstieg am Ende mit der nostalgischen Wiederherstellung von Idealen wie eindeutiger Geschlechtsidentität, ehrlicher Arbeit und einem sicheren Zuhause als Zufluchtsort beantwortet, prophezeite „Magic Mike“ schon frühzeitig Trumps Amerika.
VII.
Um die neuen Realismen als solche zu erfassen, braucht es eine erneuerte Realismuskonzeption. Diese könnte beginnen mit Lukács‘ und Marx‘ Krisenanalyse und Betonung des in der Krise sichtbar werdenden systemischen Zusammenhangs – gelesen gegen Lukács‘ literarischen Antimodernismus, „Erbe“-Kanon, transhistorischen Humanismus, affirmativen Totalitätsbegriff und Vergötzung der Arbeiterklasse. Eine solche Lektüre ist nicht eklektizistisch, sondern konsequent: Sie nutzt, was von Marx in Lukács‘ Ästhetik steckt und nach 1989 bleibt, ja immer dringlicher wird – der rote Faden, der Verdinglichungskritik, Krisentheorie und materialistische Realismuskonzeption analytisch miteinander verknüpft. Vielleicht kann so das gelingen, was Brecht 1938, Lukács widersprechend, in jener „Expressionismusdebatte“ forderte, hinter oder vielmehr vor deren inhaltlichen Stand die zeitgenössische Realismusdebatte nicht zurückfallen darf: „einen viel weitherzigeren“ und gleichzeitig genaueren „Begriff des Realismus aufzustellen“ oder zumindest auf dessen Spur zu führen. Das wird Kunst und Geisteswissenschaften in ihrer heutigen Form vor der Krise nicht retten. Aber es kann ihnen eine Aufgabe geben alternativ zu atemloser Aktualität oder Selbstabschaffung in vorauseilendem Gehorsam. Dort, wo die Flammen zuerst lodern, sieht man jenseits eigener Sparbüchsen und Sonntagshosen vielleicht das ganze Haus, bricht „die Kunst des Duldens“ ab – und tritt als Erste raus ins Freie. //