Wie sieht man im Dunkeln seinen eigenen Schatten?
Das Theatertagebuch eines chinesischen Regisseurs
von Meng Jinghui
Erschienen in: Arbeitsbuch 2016: Castorf (07/2016)
6. April 1993, Berlin, bewölkt
Am Nachmittag, auf der Wiese vor der Volksbühne in Berlin streckt mir ein bettelnder Punk mit sanften Augen die Hand entgegen. Ich gebe ihm eine Mark.
Auf den Treppen des Theaters liegt ein bewusstloser Verletzter auf einer blutverschmierten Trage. Ist es nur ein Schauspieler oder ist wirklich etwas passiert? Das Blaulicht des Krankenwagens blinkt, eine nervöse Atmosphäre liegt in der Luft, ich kann sogar etwas Krankenhausgeruch wahrnehmen.
Auf der Bühne wird gerade Frank Castorfs Inszenierung von „Clockwork Orange“ gespielt. Rockmusik, ein heiserer Alex in grüner Unterhose, ein kriechender gelber Wurm, Nägel, Bücher und eine Waschmaschine, ein Rocksänger mit spitzen Eckzähnen, der deutsche Kanzler auf einem Fernsehschirm. Ich werde niemals Alex vergessen, wie er sich auf einem hohen Kran mit Benzin übergießt, in gefährlicher Verzweiflung, seelenruhig und wahnsinnig zugleich. Die Bühne voller Wut, Hemmungslosigkeit, gespielt in surrealer Übertreibung; grausame Subversion, eine Beleidigung der Zuschauerfreude und eine Vermischung von Dekadenz, Rauheit und Schärfe.
Castorf peitscht, sicher mit einem hinterlistigen und selbstzufriedenen Lächeln auf den Lippen, das Publikum ein ums andere Mal auf. Mit Live-Rockmusik bringt er die Hormone in Wallung, nur um einen dann mit einem plötzlichen Ende wieder in die Realität zurückzuwerfen.
Ich bin zum ersten...