Vorwort
Erschienen in: Dialog 18: Eisbilder – Neue Theaterstücke aus Finnland (04/2014)
„Mein Hauptthema scheint zu sein, dass sich die Katastrophe bereits abzeichnet, doch der Weg dorthin extrem langsam, aber unausweichlich ist. Ich halte mich für unpolitisch. Meine Kunst hat ihren Ausgangspunkt in meiner Weltbetrachtung.“ Mit diesen drei Sätzen umreißt Pipsa Lonka den zentralen Kern ihrer künstlerischen Arbeit. Nichts Geringeres als Gott, Natur und die Seele des Menschen sind die Themen ihres jüngsten Stücks These little town blues are melting away. Lieder vom Ufer des grauen Meeres.
Eigenbrötler – Dichter, Maler, Trinker und eine Eisschwimmerin – leben hier in der Weite der finnischen Landschaft am Ufer des Meeres. Seltsam kindliche Menschen sind es, ganz gleich, ob sie jung oder alt sind, und selbst Gott erscheint selbstvergessen in seiner – im wahrsten Sinne des Wortes – eigenen Welt. Sie folgen unaufgeregt ihrem Weg, obwohl das Meer unaufhaltsam steigt und am Ende alle ihre Häuser verlassen müssen, um sich gemeinsam in einem Senioren- und Einkaufszentrum namens „Glück“ wiederzufinden. Alle, bis auf die Eisschwimmerin, die es ins Meer hinauszieht. Dass wir uns diesen kleinen Leuten so nahe fühlen, liegt an der Freundlichkeit, mit der sie einander begegnen. Vor allem aber liegt es an der Figur des Erzählers, sagen wir lieber der Erzählerin. Sie gibt der Einsamkeit und der Suche nach menschlicher Wärme eine Stimme und nimmt uns bei der Hand, so wie die Figuren des Stückes sich oft lieber bei der Hand nehmen, als einander durch Sprechen zu erschrecken.
Bei Juha Jokela treten die Konflikte deutlich sichtbarer zutage. In Der Patriarch haben die Männer das Wort, Männer einer Generation, die sich eigentlich zur Ruhe setzen sollte, aber immer noch die Geschicke des Landes und der Familie bestimmen will. In Finnland ist das die Generation der geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge, die bis heute die Altersstruktur der Bevölkerung anführt. Sie ist mit der beginnenden Industrialisierung, die erst nach dem Krieg einsetzt, groß geworden und stellte die vielen finnischen Arbeitsmigranten, die auf dem Höhepunkt der Auswanderungswelle der Arbeitsmigration um 1970 in die Ferne zogen. Jokela zeigt uns eine Generation, in der die Männer die Ideale des Aufbruchs der 68er gegen Macht und Geld getauscht haben und ihren Weg gegangen sind, während ihre Frauen zurückstehen mussten. Und er zeigt uns die mittlere Generation ihrer Kinder als eine, die als Kinder von Aufbegehrern selbst nicht aufbegehrt hat und sich immer noch den Platz streitig machen lässt. In einprägsamen Dialogen verhandelt Jokela offene Konflikte der Geschlechter und Generationen, die durchaus nicht nur für die finnische Gesellschaft prägend sind.
Auch bei Sofi Oksanen ist die Frage nach dem Verhältnis von Mann und Frau, jung und alt angelegt, allerdings schaut sie mit einem ganz anderen Blick auf die jüngere Geschichte der beiden Länder, der von der eigenen Biografie als Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters gelenkt ist. Bereits in ihrem Debütroman Stalins Kühe ging es um eine junge Frau in Finnland, die an Bulimie erkrankt ist. Ihr Leben ist von Grenzen bestimmt: Ihre Mutter ist Estin, die das sowjetische Land verlassen hat und in jedem Esten einen Spitzel vermutet und in jedem Finnen jemanden, der sie für eine russische Hure hält. So ist die Tochter eine Fremde in Estland und in Finnland zugleich. Fegefeuer, Oksanens erstes Theaterstück, aus dem sie den gleichnamigen, international erfolgreichen Roman entwickelt hat, geht weiter zurück und zeigt, wie die Vergewaltigung und Misshandlung estnischer Frauen während der russischen Besatzung Ende der 1940er Jahre als verdrängte Geschichte fortlebt und im Schicksal der Enkelinnen wiederkehrt. Scham, Schutzbedürftigkeit und die Angst vor der Brutalität der Männer, aber auch Rivalität und Eifersucht sind die leitenden Handlungsmotive. Pudhistus, so der finnische Titel des Stücks, bedeutet wörtlich Reinigung. Und darin klingt nicht nur der Terror der stalinistischen Säuberungen an, sondern am Ende auch der Glaube an das kathartische Moment des Theaters.
Bei Mika Myllyaho sind es drei berufstätige Männer mittleren Alters in einer „Stadt im Hier und Jetzt“, die von Panik ergriffen sind. Schier überfordert von der Aufgabe seiner Freundin, über „bestimmte“ Dinge in seinem Leben nachzudenken, zieht Leo seine beiden engsten Freunde zurate. Sie beginnen schließlich, sich gegenseitig zu therapieren, um einen Zugang zu ihren Gefühlen zu finden und allerlei Überflüssiges in ihrem Leben beiseitezuräumen. Eine intelligente und unterhaltsame Komödie über echte und eingebildete Krisen des modernen Mannes, der erfolgreich und sensibel zugleich sein will.
Eisbilder von Kristian Smeds ist ein „Klassiker“ der modernen finnischen Theaterliteratur. Ein theatrales Familienalbum nennt der wohl bekannteste finnische Theatermacher sein Stück im Untertitel. Auch Smeds streift durch aufgesplitterte Lebensverhältnisse des modernen Großstadtnomaden, allerdings weit entfernt von allen Tröstungen des well made play. Sex, Gewalt gegen Frauen, Alkohol, Religion und zerrüttete Familienverhältnisse sind seine Themen. „Theater ist eine Volkssauna, wo der Ofen mitten auf der Bühne steht“, sagte Smeds einmal in einem Interview. „Es wird so lange Dampf gemacht, bis alle in Schweiß ausbrechen. Auch dies eine Form der finnischen Katharsis.
Eisbilder. Neue Theaterstücke aus Finnland ist das Ergebnis einer finnisch-deutschen Zusammenarbeit, bei der TINFO – Theatre Info Finland und Theater der Zeit gemeinsam angetreten sind, um zumindest einige wenige aus der großen Zahl der wichtigen Theaterstücke vorzustellen, die in diesem theaterbegeisterten Land hoch im Norden in den vergangenen Jahren geschrieben und uraufgeführt wurden. Auf finnischer Seite ist dem Übersetzer und Dramaturgen Jukka-Pekka Pajunen zu danken, der aus den Neuerscheinungen der vergangenen zehn Jahre eine Vorauswahl von etwa zwei Dutzend Stücken getroffen hat. Aus dieser Vielfalt von Sprachen und Themen galt es, die Stücke und Autoren auszusuchen, die finnische Gegenwart so widerspiegeln, dass darin universelle Themen sichtbar werden, die ihren Weg auch auf deutsche Bühnen finden können oder auch schon gefunden haben. Für seine kundige Beratung ist Jürgen Popig vom Heidelberger Stückemarkt zu danken. Zwei der Stücke, die in diesem Jahr in Heidelberg vorgestellt werden, These little town blues are melting away von Pipsa Lonka und Der Patriarch von Juha Jokela, haben ihren Weg auch in dieses Buch gefunden, was allein den schnellen und gelungenen Übersetzungen von Katja von der Ropp und Stefan Moster zu verdanken ist. Und nicht zuletzt ein herzlicher Dank an Hanna Helavuori von TINFO und Essi Syrén von Nordic Drama Corner, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre.
Nicole Gronemeyer
Berlin, im April 2014