Theater der Zeit

Auftritt

Schauspielhaus Bochum: Dostojewski-Dinner auf Höchstniveau

„Die Brüder Karamasow“ nach Fjodor M. Dostojewski, übersetzt von Swetlana Geier, bearbeitet von Angela Obst. Regie: Johan Simons, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüm: Katrin Aschendorf

von Stefan Keim

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Johan Simons Schauspielhaus Bochum

Jede Rolle ein Roman für sich: „Die Brüder Karamasow“ in der Regie von Johan Simons am Schauspielhaus Bochum. Foto Armin Smailovic
Jede Rolle ein Roman für sich: „Die Brüder Karamasow“ in der Regie von Johan Simons am Schauspielhaus BochumFoto: Armin Smailovic

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Sieben Stunden Theater. Normal für Frank-Castorf-Aficionados. Doch wenn nun Johan Simons zu seiner Fassung der „Brüder Karamasow“ ins Bochumer Schauspielhaus lädt, hat er anderes im Sinn. Einen gemeinsamen Spielrausch mit dem Publikum, ein Erlebnis, ein Event. Im Normalbetrieb ist die Auslastung des von der Kritik oft bejubelten Hauses ausbaufähig. Nun gibt es zwei Pausen, in der zweiten ein sehr leckeres Drei-Gang-Menü. Auch inhaltlich bietet Bochum ein Dostojewski-Dinner auf höchstem Niveau.

Die Krimihandlung deuten Johan Simons und Dramaturgin Angela Obst nur an. Es geht nicht im Kern darum, wer den alten Fjodor Pawlowitsch ermordet hat, das Gerichtsverfahren samt Fehlurteil ist komplett gestrichen. Und auch die eingeschobene Geschichte um den Großinquisitor wird nur kurz angedeutet, weil es draußen so angenehm nach Essen duftet. „Kommt!“ sagt Steven Scharf in der Rolle des Iwan Karamasow in Richtung Publikum.

Was bleibt? Eine Menge. So viel wie man an einem Abend aufnehmen kann. Ausgefeilte psychologische Menschenkunde, grundlegende Debatten um das Böse und das Gute, den Tod und das Leben, über die Existenz Gottes. Der erste Teil spielt im Kloster. Auf der großen Bühne des Schauspielhauses liegen die Kuppeln von Zwiebeltürmen verstreut, Holzscheite hängen an Ketten von den Decken wie ein großes Mobile, ganz hinten sieht man religiöse Bilder. Bühnenbildner Wolfgang Menardi hat einen großen, weißen Assoziationsraum entworfen, der mehr an eine Fabrik als an ein Kloster erinnert.

Stariza Sossima ist die Geschäftsführerin der Glaubensvermittlungs AG, eine seltsame Heilige. Elsie de Brauw erinnert mit weißen Haaren und schlabbrigen Kleidern ein bisschen an eine Hippie-Oma. Sie braucht ihre Autorität nicht zu beweisen, die Menschen glauben ihr. So auch Aljoscha, der jüngste der Brüder Karamasow. Dominik Dos-Reis hängt seinem weiblichen Guru an den Lippen, ist immer da, wenn sie mal eine Hand zur Hilfe braucht. Ein von tiefer Religiosität durchdrungener junger Mann, dessen Weltbild im Lauf der Aufführung tiefe Risse bekommt.

Die Brüder sind extrem verschieden. Victor Ijdens spielt mit leidenschaftlicher Hemmungslosigkeit Dimitrij, einen Mann zwischen zwei Frauen, der seine Triebe kaum unter Kontrolle bekommt. Steven Scharf ist Iwan, der zynische Intellektuelle, dem oft nur Laute aus dem Mund strömen. Vielleicht weil ihm die Formulierung ganzer Sätze manchmal einfach zu blöd ist. Oliver Möller überragt als vierter, unehelicher Bruder Smerdjakow, der als Diener in der Küche der Karamasows arbeitet. Ein unheimlicher Beobachter, ein ungerecht Behandelter, der sich manchmal in Krämpfen am Boden windet. Was aber auch nur Schauspielerei sein könnte.

Smerdjakow spielt erst im zweiten Teil der Aufführung mit. Da ist das Publikum zuvor über die Bühne und an den Garderoben vorbei in die Kammerspiele gewandert. Auf dem Weg sieht man einige Schauspieler in den Ecken sitzen, wie eine lebende Installation. In der Kammer wechselt der Stil des Bühnenbilds. Hier hat Wolfgang Menardi eine bis in die kleinsten Details realistische Küche aufbauen lassen. Darin spielt das großartige Ensemble so fein, wie man es kaum noch auf deutschen Bühnen sieht. Da rückt der gläubige Aljoscha zum Beispiel nebenbei eine Kognakfasche ein bisschen hinter eine Jesusskulptur, damit die Säufer sie nicht so schnell entdecken. Johan Simons durchbricht den Psychorealismus. Wenn jemand die Tür des Kühlschranks öffnet, gibt es einen schockartigen Lichtwechsel mit lautem Musikeinsatz wie in einem Horrorfilm. Nach einigen Sekunden wird alles wieder normal, und die Aufführung läuft weiter, als wäre nichts passiert. Aber das Publikum hat kurz in einen Abgrund des Grauens geblickt

Dann kommt das Essen. Und dann – zurück im Schauspielhaus – die Hölle, ein eiskaltes Inferno. Pierre Bokma liegt als Vater Fjodor tot im Schnee. Bis er irgendwann aufsteht, sich auf einen Stuhl setzt und das Geschehen betrachtet. Er war eine Plage für seine Söhne, meist leicht alkoholisiert, manipulativ, demütigend, ein egozentrischer Patriarch. Auch in der Hölle gehen die Debatten weiter, die verzweifelte, an die Grundlagen des Seines gehende Sinnsuche findet kein Ende.

Es wäre eine Schande, nicht auch Anna Rietmeijer, Jele Brückner, Konstantin Bühler und das Kind Davin Cakmak zu erwähnen. Jede Rolle ist ein Roman für sich, genau ausgearbeitet, aber im Rahmen einer Theaterkritik nicht hinreichend zu würdigen. Besonders ist mir noch Danai Chatzipetrou aufgefallen. Sie spielt die junge, in Aljoscha verliebte Lise. Das Wort „verliebt“ ist allerdings viel zu schwach. Lise ist eine glasklar argumentierende und kämpfende Aktivistin der Liebe, die mit großer Radikalität um ihren Lebensentwurf kämpft, in dem Aljoscha nun mal eine große Rolle spielt.

Diese Aufführung ist kein Projekt nach Dostojewski, keine Überschreibung. Aber auch alles andere als ein Nachbeten der Handlung. Johan Simons schafft Menschentheater, in dem es keine kleinen Rollen gibt, alle Charaktere bekommen Raum. Das ist gelebte Diversität, eingebettet in die großen Sinnfragen. Hier wird kein Klassiker mundgerecht gehäckselt – und damit mundtot gemacht. Die Assoziationsräume sind riesig, nicht nur wegen der Ausstattung, sondern vor allem wegen der Feinheit des Schauspiels. Ohne Mikroports zeigt das Ensemble auch großartige Sprechkultur, die viele im Bochumer Publikum oft vermissen. Altmeisterlich? Unbedingt. Blödes Kriterium. Theater auf der Höhe der Zeit. Großartig.

Erschienen am 17.10.2023

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