Die Materialität der Stimme
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
Ein kleiner Exkurs zur historischen Entwicklung der Betrachtungsweisen des Phänomens Stimme sei an dieser Stelle gestattet. In jeder Gesellschaft findet sich ein vorherrschendes Verständnis davon, welche Verhaltensweisen angemessen sind. Bezogen auf die menschliche Stimme betrifft das zunächst ihre Funktion und ihre ästhetische Wirkung. Für Platon war die Stimme in erster Linie Träger von Wortbedeutungen. Eine Stimme, die außerhalb dieser Funktion erklang, hatte für ihn keinen Anteil am Menschsein. Das Menschsein sei an Sprache gebunden, es unterscheide den Menschen vom Tier, der Stimme komme lediglich die Funktion eines Vehikels zu, das Denken in die Welt zu tragen. Diese Auffassung dominierte die Betrachtungsweise der Stimme lange Zeit.
Johann Gottfried Herder vertrat in seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ aus dem Jahr 1772 die Überzeugung, dass es eine Sprache gebe, die der Sprache vorausgehe. Sie komme ohne Worte aus und bestehe aus stimmlichen Äußerungen, wie wir sie auch im Tierreich vorfinden. Schreien, Wimmern, Ächzen, Stöhnen, unartikulierte Laute bringen die seelischen und körperlichen Empfindungen des Menschen zum Ausdruck. „Da unsre Töne der Natur zum Ausdrucke der Leidenschaft bestimmt sind, so ists natürlich, daß sie auch die Elemente aller Rührung werden! Wer ists, dem bei einem zuckenden, wimmernden Gequälten, bei einem ächzenden Sterbenden, auch...