Theater der Zeit

II. Schauspielen als Beruf. Die Erfindung des bürgerlichen Schauspielers im 18. Jahrhundert

Schauspielen als Beruf. Die Erfindung des bürgerlichen Schauspielers im 18. Jahrhundert

von Bernd Stegemann

Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)

Assoziationen: Schauspiel Theatergeschichte

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„Die Schauspielkunst war [am Anfang des 18. Jahrhunderts in Deutschland] zur bloßen Pöbelbelustigung, zum Hohn der guten Gesellschaft herabgekommen. Sie war nichts als der Hans Wurst der Nation, ein Verdauungsmittel, eine Medizin für kranke Magen geworden. Im Bettelsacke ihrer Herrlichkeit von Ort zu Ort schleppend, mit den Genossen um den zugeworfenen Bissen ringend, wie der Aussatz der Gesellschaft gemieden, in Aberwitz und Schmach versunken, verzweifelnd endlich an der eigenen Kraft und an irgendeiner andern Rettung – als so ihr klägliches Geschick vollendet war, da erst reichte sie die Hände den französischen Fesseln hin, an denen sie denn auch glücklich aus dem Schlamm gezogen wurde.“

Eduard Devrient1

I.

Der Beruf des Schauspielers als Menschendarsteller beginnt sich im 18. Jahrhundert zu entwickeln. Mit der Emanzipation der bürgerlichen Lebensweise von der bisherigen Dominanz des adeligen Verhaltenskodexes steht das alltägliche Empfindungs- und Verhaltensleben vor einer Revolution. Galten bisher die Kleidung des Adels, seine codierte Sprache, einstudierten Bewegungen und Zeremonien als unhinterfragtes Vorbild für die höchste Entwicklungsstufe des Menschseins, so entsteht mit dem bürgerlichen Leben eine Gegenposition der Aufrichtigkeit. In aller Verkürzung gesagt, stehen sich in diesem historischen Konflikt äußerliche Etikette und innerliche Wahrheit entgegen.2

Der Höfling spielte eine Rolle bei Hofe, dessen Kostüm, Sprechweise und Gesten durch Tradition und Mode vorgegeben waren. Er hatte in jeder Lebensäußerung darauf zu achten, dass er im Rahmen des Schicklichen blieb |69|und zugleich den letzten modischen Dreh nicht verpasste. Dass diese Rollen gespielt wurden, war so allgemein bekannt, dass diese Tatsache in der sekundären Realität des höfischen Verhaltens ausgeblendet blieb. So war ein hochartifizielles Alltagstheater entstanden, dessen Grenzen zum Schauspielen und Theater fließend waren. Die Beschreibungen, dass Zuschauer aus der Provinz, die das erste Mal ein Pariser Theater besuchten, nicht unterscheiden konnten, wer Schauspieler und wer Zuschauer ist, scheinen überzeugend.

Das bürgerliche Leben entwickelt sich in einer komplizierten Emanzipation von dieser Vorherrschaft der theatralischen Selbstdarstellung. Es verlagert den Fokus seiner Selbstbeschreibung und Selbstdarstellung weg von den äußerlichen Anzeichen hin zu den inneren Werten. Die Ausgestaltung der menschlichen Psyche tritt in den Vordergrund und erzeugt ein neues, kompliziertes Problem. Gegen die Verabredungen des höfischen Theaters mit seinen Intrigen, manierierten Verhaltensweisen und schwer erlernbaren feinen Unterschieden wendet sich ein Bild vom Menschen, dessen Wert in der Authentizität liegt. Denken und Handeln sollen sich glaubwürdig zueinander verhalten. Das Innerste des Menschen, seine Seele, soll vor Gott integer erscheinen; das Innere des Alltags, das private Familienleben, wird emotionales Zentrum; und das Innere der Häuser, ihr Interieur, wird zum Lebensmittelpunkt der bürgerlichen Emanzipation. Erklärt sich das Innenleben auf diese dreifache Weise zum Fundament des gelungenen bürgerlichen Daseins, entsteht zugleich das Problem seiner Kommunizierbarkeit.

Wie ist Kommunikation mit Gott möglich, wenn die Gemeinde und ihr christliches Ritual zugunsten des privaten Zugangs zu einem immer schweigsamer werdenden Gott entwertet werden? Die Gnadenwahl und ihre prinzipielle Ungewissheit werden zum ewigen Ansporn, das „gute“ Leben noch inniger erringen zu wollen. Eine wichtige Quelle des Kapitalismus, die nicht enden wollende Arbeit, entsteht.3

Wie ist das Familienleben intakt zu halten, wenn jeder Nachwuchs mit Impulsen und Gefühlen eine anarchische Unruhe in die austarierte Ordnung bringt? Die Erziehung und Bildung zum bürgerlichen Dasein wird zur immer wieder neu zu bewältigenden Aufgabe.

|70|Und schließlich, wie ist das häusliche Interieur abzuschirmen vor der Öffentlichkeit und wie ist in der Öffentlichkeit überhaupt ein Überleben des kostbaren Inneren möglich? Die Unantastbarkeit der Wohnung wird zum bürgerlichen Grundrecht.

Die Grenze zwischen dem Seelenleben in der Privatheit und den Zwängen des Auftretens in der Öffentlichkeit führt zu dem Problem, wie das eigene Dasein auch fremden Menschen gegenüber integer erscheinen kann. Pointiert lässt sich das bürgerliche Dasein auf drei Fragen bringen: Wie lasse ich mir in der Öffentlichkeit Gott anmerken? Wie lasse ich mein Inneres in seiner ganzen moralischen Pracht bescheiden erscheinen? Wie zeige ich meinen Wert als Familienvater, Mutter oder Kind, wenn ich nicht zu Hause bin?

Das Paradox, das sich daraus für die Kommunikation ergibt, ist fundamental: Wie lasse ich etwas an mir erscheinen, das zentral für meinen Wert ist, ohne selbst auf diese Qualitäten hinweisen zu müssen? Im Falle des Selbstlobs wäre der Gegenstand des Lobs im gleichen Atemzug vernichtet. Wer sich besonderer Bescheidenheit rühmt, ist wohl unbescheiden. Wer seine Zuverlässigkeit betonen muss, hat es wohl nötig. Und schließlich: Wer von Gott als glückswürdige Seele erkannt werden möchte, versucht wohl, Gott zu bestechen in seiner unergründlichen Gnadenwahl.

II.

Die Tätigkeit des Schauspielens ist von ihrer Abstammung her ein entfernter Nachfahre der Rhetorik. So wie hier die Gesten, Betonungen und Redewendungen für die jeweiligen Absichten der Rede kanonisiert wurden, gab es im Schauspiel Bemühungen, das Ausdrucksvokabular zu fixieren. Johann Jakob Engels Schriften4 bilden ein Kompendium solcher Ausdrucks- und Gestenvokabeln. Der schauspielerische Ausdruck wurde hier wie in den Rhetorik-Schulen5 durch eine Mischung aus erlernbaren und zu kopierenden„allgemeingültigen“ Gesten und Bewegungen und einer Art der Selbstbegeisterung erzeugt. Durch das laute und bedeutungsvolle Aussprechen wirkungsvoll formulierter Texte geriet der Sprecher selbst in einen |71|Furor der Rede. Diese Begeisterung sollte sich auf die Hörer übertragen. Eine vergleichbare Selbstentzündung durch die Emphase des Sprechens und die begleitenden Gesten und Bewegungen erzeugte die Spielenergie bei dieser Art des Schauspielens. Die Leidenschaft, die in der Sprache vorgedacht ist und der Figur als Rede zur Verfügung steht, überträgt sich auf den Spieler, indem er diese Leidenschaft wiederholt. Die Schillerschen Dramen bilden den Höhepunkt dieser Sprachform, die schon bei stummer Lektüre zu einer pathetischen Emphase verführt.

Die wesentliche andere Quelle, aus der sich das Schauspielen vom Mittelalter bis in die Neuzeit gespeist hatte, war das Stegreifspiel. Hier traten die Archetypen der Komödie auf, um improvisierend im „buntscheckigen“ Kleid des Narren das Publikum mit burlesken Späßen und Zügellosigkeiten zu unterhalten. Die Vertreibung des Harlekins, wie ihn die Truppe der Neuber und des Dichters Gottsched 1737 vollzogen, war der symbolhafte Beginn der Neuerfindung eines ernsthaften Schauspielergewerbes.6

Die aus der Sprechbegeisterung und komödiantischen Improvisation entstandenen schauspielerischen Impulse unterscheiden sich grundlegend von dem neuen Ideal des Schauspielers als einem glaubhaften Darsteller menschlicher Individualität. Die paradoxe Anforderung, die nun an das Darstellungsvermögen gestellt wird, besteht in dem Ideal eines Ausdrucks, der eben nicht als künstlich erzeugt erscheinen darf. Hiermit wird der schauspielerische Ausdruck in der gleichen Paradoxie gedacht wie die bürgerliche Kommunikation und Selbstdarstellung.

Der Ausweg, der aus dieser Paradoxie gesucht wurde, erscheint auf den ersten Blick nicht weniger paradox: Authentizität wird zur Letztversicherung des Ausdrucks. Doch wie sieht ein authentischer Ausdruck aus, dem doch |72|immer eine Absicht – eben die des Ausdrückens – unterstellt werden kann? Die Lösung besteht in der Entwicklung einer besonderen Form der Kommunikation, in der Authentizität zu einem Kommunikationseffekt werden kann. Als authentisch gilt, was kommunikativ nicht der Absicht des Kommunizierenden zugerechnet werden kann. Als authentisch wird empfunden, was sich ohne kommunikative Absicht ereignet. In einem Ereignis, das passiert, statt produziert zu sein, erscheint das Verborgene und wird wahrnehmbar. Ein leichtes Erröten, während von einem Gefühl gesprochen wird, lässt dieses glaubwürdig erscheinen. Ein unwillkürlicher Seufzer, ein Zittern der Stimme, ein sanfter Blick, ein Zucken der Mundwinkel, ein Stocken des Atems, alle diese unwillkürlichen körperlichen und mimischen Regungen werden zu Garanten der Glaubwürdigkeit. In einer höfischen Kultur wären sie als Anzeichen eines Verlusts der Contenance und damit der Souveränität sofort als Waffen gegen denjenigen verwendet worden, der sich so wenig im Griff hat. Im bürgerlichen Leben sind sie die glaubwürdige Versicherung, dass das Gegenüber tatsächlich so fühlt, wie es sich den Anschein gibt. Die Verblüffung besteht nun darin, dass die Virtuosen dieses Erscheinenlassens von etwas, das doch nicht gesagt wurde, die Meister des emotionalen Ausdrucks, der mehr verrät als dem Agierenden bewusst ist, die Schauspieler sind. Sie verfügen über die Fähigkeit, ein Gefühl jenseits der Sprache ganzkörperlich ablesbar zu machen. Der Schauspieler wird zum Paradigma des bürgerlichen Menschen und zugleich wird diese bürgerliche Fähigkeit zum Maßstab für den Beruf des Schauspielers. Diese Befähigung, absichtlich Unabsichtliches ausdrücken zu können, bestimmt das Bild des Schauspielers, wie es bis in die Gegenwart hinein prägend ist. Der Schauspieler ist der Mensch, der in der Doppelrolle als äußerlich Handelnder und innerlich Fühlender so auftritt, dass diese Widersprüche als authentische Einheit zu erlebbaren emotionalen Ereignissen werden.

In der philosophischen Beschreibung des Menschen wurde diese Unterscheidung vorgedacht. Die Epoche der Aufklärung charakterisiert ihn als empirisch-transzendentale Dublette.7 Mit seinem Körper ist der Mensch in den Kausalitäten der Naturgesetze gefangen, sein Geist hingegen ist frei, |73|sich spontan und unbedingt neue und in der Wirklichkeit unmögliche Welten auszudenken. Die Folgen dieser unbedingten Freiheit für das gesellschaftliche Zusammenleben versucht die Moral einzudämmen, und Kants „kategorischer Imperativ“ ist eine klassische Folgeerfindung dieser Beschreibung des Menschen als tierische und göttliche Existenz zugleich. Für die Beobachtung des menschlichen Ausdrucks entsteht hieraus eine neue Differenz. „Zwischen dem, was ein Zeichen sagt, schiebt sich, was sich an ihm zeigt“.8 Das Bewusstsein versucht, die Anzeichen des Körpers intentionalseinem Willen zu unterwerfen, doch am Körper zeigen sich unvermeidliche Anzeichen seiner Unverfügbarkeit. Die Unterscheidung zwischen dem bewussten Zeigen und dem, was sich zeigt, bildet die Differenz zwischen der Intentionalität und der Nichtintentionalität, zwischen dem Sinn und der körperlichen Präsenz ab. Alles menschliche Zeigen basiert auf dieser unhintergehbaren Paradoxie. Diese paradoxe Seinsweise kann vom Schauspieler nun in zwei unterschiedlichen Richtungen aufgelöst werden. Er kann, wie im Volkstheater und seinen Nachfolgern, seine Freiheit gegenüber den geschriebenen Handlungen und Verhaltensweisen der Figur ausspielen. Er bringt hierdurch ein anarchisches Moment in die Darstellung. Sein Vorführungshandeln überlagert dabei die darin vorgeführten Handlungen seiner Figur. Oder er kann versuchen, sein schauspielerisches Handeln in den Dienst des geschriebenen Textes zu stellen. Dabei versucht er, sich selbst quasi unsichtbar zu machen, um dem Erscheinen der Figur die größtmögliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Ein solches Spiel der Verkörperung wird ab dem 18. Jahrhundert zum Ziel der Schauspielkunst.9 Die zahlreichen theoretischen und praktischen Nachfolger arbeiten sich alle an dem Paradox ab, dass dieser Wunsch eine permanente Störung durch die Präsenz des Körpers und der Stimme erfährt. Hinter dem Rücken des Schauspielers entsteht eine andere Realität auf der Bühne, die sich seiner Gestaltung entzieht.10 Die großen Richtungen im Verständnis der Arbeit des Schauspielers orientieren sich an diesem Paradox und seinen zwei Möglichkeiten der Auflösung.

|74|In der Neuerfindung der bürgerlichen Existenz wird die doppelte Seinsweise des Menschen zum Fundament. Das Theater und die Schauspieler werden zum besonders geeigneten künstlerischen Medium, diese Differenz immer wieder erfahrbar zu machen. Die unregierbare Eigenart des Körpers und die Anstrengungen des Geistes wie der Gesellschaft, ihn in das Korsett seiner Diskurse zwängen zu wollen, werden im Spiel des Schauspielers erlebbar. Der ewige Verlust an kontrollierbarem Sinn durch die Notwendigkeit, ihn durch die Mittel des Körpers, der Stimme, der Mimik und Gestik ausdrücken zu müssen, bleibt Motor der Arbeit am menschlichen Ausdruck. Das Mienenspiel, die Bewegung der Hände, das Zucken der Mundwinkel beim Sprechen, all das verrät über den Sprechenden mehr, als dieser preiszugeben bereit ist. Die Schule der Wahrnehmung, um diese Differenz zwischen dem Leben des Körpers und den Intentionen des Menschen zu begreifen, übernimmt auch das Schauspiel.

Die verlustreiche Übersetzung des Seelenlebens in den Ausdruck brachte Friedrich Schiller in seinem berühmten Distichon in die kürzestmögliche Form: „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.“ Beginnt das Innere des Menschen sich formulieren zu wollen, muss es auf Zeichen, Sprache und Mitteilungsmedien zurückgreifen, die gesellschaftlich verabredet sind, um überhaupt als Sprache funktionieren zu können. Wird nun das individuelle Empfinden in diese allgemeingültigen Schablonen übersetzt, verschwindet gerade das Einzigartige der Empfindung und wird zu einer verständlichen Mitteilung. Sobald das Unsagbare aber sagbar geworden ist, hat es seine Einzigartigkeit eingebüßt und wird zur austauschbaren Seelenregung im Getriebe der Welt. Der Mitteilungsdruck des originären und darum einzigartigen Individuums, genau in dieser Besonderheit wahrgenommen zu werden, wächst im gleichen Maße, wie das |75|Konzept des Menschen als Doppelwesen sich ausbreitet. Die Antworten der Kommunikation und der Kunst sind bis in die Gegenwart hinein gleich geblieben. Die Grenze der Kommunikation wird zum Ereignisraum, in dem sich das Originale, das Authentische, das Wahre zeigen kann, ohne sich doch formuliert zu haben. Das „ach“ im Schillerschen Distichon markiert diese Grenze des Sagbaren. Der Seufzer ist schon verständliches Zeichen und noch unmittelbarer Ausdruck der Empfindung, so wie der Schmerzensschrei, das Verstummen, die Träne, die Ohnmacht. Hier entsteht ein Riss in der kommunikativen Oberfläche, durch den das Innere des Menschen authentisch erscheinen kann. Dass diese Anzeichen von Authentizität als Stilmittel in der Rhetorik Verwendung finden, ist dann ein weiteres Folgeproblem des modernen Menschen, der auf die Erzeugung immer neuer Authentizitäts-Effekte große Mühen und Erfindungskraft verwendet. (Siehe Kapitel 5)

Die Erfindung des bürgerlichen Berufs „Schauspieler“ ereignet sich an dieser Bruchlinie, durch die der Mensch erstmalig dialektisch als empirisch-transzendentales Doppelwesen gedacht wird. Die Probleme und Möglichkeiten, die dieses dialektische Bild vom Menschsein eröffnet, finden in der schon immer bewunderten und gefürchteten Doppelexistenz des schauspielernden Menschen eine verblüffende Entsprechung. Die Frage nach der inneren Befindlichkeit des Spielers, während sein äußerlich wahrnehmbarer Ausdruck deutliche Emotionen verkörpert, entfachte schon im 18. Jahrhundert komplexe Debatten. Die Positionen waren klar geschieden in die Anhänger des „kalten“ und des „heißen“ Schauspielers. Pierre Rémond de Sainte Albine plädierte für ein reiches inneres Erleben, das sich dann in Spiel und Mimik des Schauspielers ablesen ließe. G. E. Lessing und Francesco Riccoboni hingegen betonen das artistische und bewusste Moment, dass der Schauspieler benötigt, um jeden Abend erneut in unterschiedlichen Rollen dennoch die Wirkung einer überzeugenden Emotion herstellen zu können. Lessings Ausführungen in der Hamburgischen Dramaturgie geben jedoch Hinweise auf die Dialektik der Wechselwirkung zwischen dem Innen und dem Außen. Einerseits kommt „alle Moral aus der Fülle des Herzens“. Andererseits kann ein kalter Schauspieler über das Talent verfügen, mit seinem Körper und seiner Mimik jede menschliche Regung |76|überzeugend nachzuahmen. Und dieser Schauspieler ist „auf dem Theater weit brauchbarer, als jener“. Denn „wenn er nur die allergröbsten Äußerungen des Zorns einem Akteur von ursprünglicher Empfindung abgelernet hat und getreu nachzumachen weiß – den hastigen Gang, den stampfenden Fuß, den rauhen, bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbrauen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zähne usw. – wenn er, sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will, gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefühl von Zorn befallen, welches wiederum in den Körper zurückwirkt, und da auch diejenigen Veränderungen hervorbringt, die nicht bloß von unserm Willen abhangen; sein Gesicht wird glühen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen, ohne es zu sein, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es sein sollte.“11

Denis Diderot schließlich verwickelt in seinem Paradox über den Schauspieler (Quelle 6) diese beiden Positionen in einen Dialog, wobei seine Präferenz eindeutig auf dem artistischen, „kalten“ Vermögen liegt. Dass dieses Verhältnis, das aus heutiger Perspektive als dialektische Bewegung denkbar ist, so sehr die Gemüter erhitzen konnte, zeigt, wie neu und unheimlich die menschliche Möglichkeit erschien, mit wahren Gefühlen lügen zu können und mit vorgetäuschten Gefühlen glaubwürdige Emotionen darstellen zu können. Die Ahnung, dass der Schauspieler in seinem doppelten Bewusstsein, das für sein Spiel auf der Bühne erforderlich ist und durch dieses erzeugt wird, souverän agieren kann zwischen Blindheit und Sehen, ließ sich erst später als menschliche Existenzweise erklären. Eine der besten Beschreibungen dieses doppelten Bewusstseins gibt Friedrich Kayßler in seinen „Schauspielernotizen“: „Es gibt selbst in dem seiner Rolle hingegebendsten Schauspieler über der völligsten Konzentration immer noch ein winziges, waches Auge im Gehirn, einen auf der Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem mit souveräner Sicherheit balancierenden eisern angespannten kleinen Willen, in den der spielende Künstler sich verwandelt hat, der jedes Wort, jede Bewegung des in der Rolle befangenen, gleichsam schlafwandelnden Menschen peinlich überwacht, der das Maß des Ausdrucks |77|bestimmt, das Stimmmaterial ökonomisch verteilt, – kurz, einen Beherrscher der Situation. Es ist also etwas da, was nicht mitspielt, was nicht aufgegangen ist in der Rolle, ein Rest waches Gehirn.“12

III.

Die Schauspieltheoretiker und Praktiker des 18. Jahrhunderts entzündeten sich an der Frage, wie sich auf der Bühne eine glaubwürdige Menschendarstellung erzeugen ließe. Nach dem emblematischen Theater des Feudalismus, das im barocken Fest mit seinen Allegorien der Adelshierarchien seine Form der Repräsentation gefunden hatte, und dem Jahrmarktstheater der Harlekine und Commedia-Spieler, suchte die bürgerliche Kultur nach einer ihr gemäßen theatralischen Form. Das bürgerliche Trauerspiel war die dramatische Form, in der die Familie mit ihren Sorgen, die aus dem Konflikt mit einem unmoralischen Adel entstehen, verhandelt werden konnte. Für die Schauspieler stellte die Darstellung von Zeitgenossen auf der Bühne eine schwierige Herausforderung dar. Denn weder konnten sie ihr Spiel auf Phantasie- und Karikaturgestalten gründen, noch konnten sie die Alltagstheatralisierungen des Adels kopieren. Sie mussten, um den bürgerlichen Menschen darstellen zu können, eine Spielweise erfinden, die bühnentauglich ist und zugleich als Spielweise selbst nicht in Erscheinung tritt. Es sollte nicht wie Theater aussehen, und dennoch auf einer Bühne die Masse der Zuschauer erreichen, überzeugen und berühren. Dieses Paradox einer hergestellten Natürlichkeit wurde im 18. Jahrhundert, in der Geburtsstunde des bürgerlichen Schauspielers, in das Paradox des „heißen“ und des „kalten“ Schauspielers gefasst, ohne seine Aufhebung durch die Psychologie des 19. Jahrhunderts schon denken zu können. Der Widerspruch, der in einer hergestellten, glaubwürdigen Darstellung der Realität liegt, beschäftigt die Schauspieltheorien bis in unsere Gegenwart. Die Lösungsversuche sind alle bedingt durch die Art der Beschreibung des Menschen, die Moden des Theaters und die Entwicklung des schauspielerischen Handwerks. Der kalte oder der heiße Schauspieler sind heute keine zutreffende Beschreibung mehr, so wie der Mensch weder Tier noch Gott ist, sondern |78|eine dialektische Konstruktion dieser zwei unvereinbar scheinenden Möglichkeiten.

Im 18. Jahrhundert beginnt die Suche nach einem theatralischen Realismus, durch den das Spiel des Schauspielers zum Spiegel einer Gegenwart werden kann, deren Alltagsschauspiel sein Gespieltsein selbst nicht zeigt.13 Die besonders faszinierende Begabung des Schauspielers liegt in seiner Fähigkeit, professionell, d. h. absichtlich menschliches Verhalten so darstellen zu können, dass es unabsichtlich und darum glaubwürdig wirkt. Er verfügt damit über eine Begabung, die im Alltagstheater großen Nutzen bringen würde. Er kann ein Gefühl glaubwürdig darstellen, ohne es tatsächlich zu haben. Er kann verliebt schauen, auch wenn er es nicht ist, er kann böse jemanden zurechtweisen, schrill etwas fordern und eindringlich vor etwas warnen, auch wenn all das nicht seine wirklichen Gefühle sind. Er vermag zwischen seinem Inneren und einem Vermögen zur Darstellung souverän zu spielen. Verblüffenderweise ist der Anschein eines Gefühls, das sich in Mimik und Körper ausdrückt, authentischer als die Selbstbeschreibung des Gefühls in Worten. Dieses gilt sogar dann, wenn im ersten Fall das Gefühl schauspielerisch hergestellt wurde, und im zweiten ein echtes Gefühl den Worten zugrunde liegt, aber eben nicht selbst in Erscheinung tritt. „Das Geheimnis der schauspielerischen Leistung besteht also im höchsten Gegensatz zu jenem Wahn, daß es sich um Nachahmung in einen Anderen, um Verstellung in ein Fremdes hinein handle, darin, daß beim genialen Schauspieler sein Körper transparent für seelisches Erleben wird, daß bei ihm in einem ganz anderen und stärkeren Grade als bei gewöhnlichen Menschen sich innere Vorgänge in der Tonfarbe seiner Stimme, in der Bewegung seines Gesichtes, in der Haltung des Körpers, im Schwung seiner Glieder ausdrücken. In Wirklichkeit ist also der Schauspieler ein Mensch, der sich schlechter als alle anderen verstellen kann, weil ihm jede Regung sofort sehr sichtbar in den Körper fährt, und in diesem Sinne ist er wahrhafter als alle anderen Menschen.“14

|79|Im Nachteil sind nun alle schauspielerisch Minderbegabten, worunter diejenigen fallen, die sagen müssen: „Jetzt bin ich aber wirklich böse“, ohne dass man es ihnen auch ansieht. Das Aussprechen des Gefühls wirkt wie ein Verrat an dessen Wahrheit, die nur hinter den Worten wie nebenbei erscheinen darf, um echt zu wirken. In welchem Zustand das Innere bei diesem „Bemerkenlassen“ in Wahrheit ist, bleibt nebensächlich und im schauspielerisch gelungenen Fall auch unerkennbar. Die schauspielerische Begabung liegt auf zwei Ebenen zugleich: Zum einen muss das Innere unverstellt in Körper und Mimik sichtbar werden, und zum anderen muss sein Empfindungsvermögen so reich und empfänglich sein, dass es schnell zu den unterschiedlichsten Gefühlen fähig wird. Das Erlernen der Beeinflussungsmöglichkeiten dieser inneren Stimmungen und Gefühle wird zur zentralen Aufgabe der Schauspielausbildung.

IV.

Die schauspielerische Erzeugung von Gefühlen nutzt die Wechselwirkung von Handeln und Erleben, von Aktion und Passion15, indem sie den Ausdruck über dessen Vermeidung herstellt. Wer glaubwürdig weinen will, unterdrückt die Tränen. Wer glaubwürdig betrunken sein will, versucht zu kaschieren, dass er betrunken ist. Wer Liebe überzeugend gestehen will, dem sollte die Stimme versagen. Dieses Verfahren ist darum besonders wirkungsvoll, weil der Aufwand, der das Gefühl unterdrücken soll, absichtlich hergestellt sein darf und die Stärke seines Bemühens einen Rückschluss auf die Vehemenz des zu unterdrückenden Gefühls zulässt. Die dialektische Beziehung von Innen und Außen hat also auch hier einen doppelten Boden: Zum einen kann eine Handlung ein Gefühl auslösen und ein Gefühl kann eine Handlung auslösen. Wie glaubwürdig das dargestellte Gefühl jedoch ist, hängt von der paradoxen Verwendung der Ausdrucksmittel ab. Der Anschein von „Authentizität“ ist den unterschiedlichen Moden der Glaubwürdigkeit unterworfen. Wer das Schauspiel in alten Filmen, auf alten Tonaufnahmen sieht und hört, ist zutiefst verwundert, wie manieriert, formal und künstlich |80|dort gesprochen und agiert wird. Wer heute auf die Spitzenleistungen der „authentischen“ Menschdarstellung im Hollywoodkino schaut, muss sich schon mehr anstrengen, die Glaubwürdigkeitsstrategien zu durchschauen. Doch diese sind nicht weniger künstlich als das Spiel im Stummfilm. Nur sind uns die Darstellungstechniken des psychologischen Realismus und der Wiederholung der Alltagstheatralität die gegenwärtig vertraute Mode.

Da es sich in jedem Fall um eine schauspielerische Technik handelt, kann diese auch zum Selbstzweck werden und durch eine virtuose Beherrschung zu einer eigenen Form finden. Innerhalb der Ästhetik der glaubwürdigen Menschendarstellung entstehen hierdurch jedoch ungewollte Effekte, da bei einer virtuosen Handhabung der Anschein der Authentizität so weit gesteigert wird, dass er selbst wieder als Effekt bemerkbar ist. Die Fähigkeit zum schnellen Wechsel der Gefühle und ihres Ausdrucks und die hierdurch gesteigerte Kraft des Ausdrucks bringen die Komponente des Artistischen wieder ins Spiel. Die Darstellung wird weniger glaubwürdig, sie ist aber auch besonders, schön, originell oder monströs. Der Applaus für die Darstellung einer Figur setzt sich – zumindest im Theater – aus einer Anerkennung für die realistische und die artistische Komponente der Darstellung zusammen.

Die Beurteilung des bürgerlichen Schauspielers wie des interagierenden Bürgers beruht also primär auf seiner Befähigung, diesen Authentizitätseffekt herstellen zu können. Die Anerkennung des Schauspielers zieht jedoch seine theatralischen Mittel der Vergrößerung hinzu, die im bürgerlichen Alltag als Nachteil erscheinen würden. Der alltägliche Vorgang des Gefühlsausdrucks kennt nur die Unterscheidung zwischen dem Vorder- und Hinterbühnengeschehen (siehe Quelle 5), zwischen dem offiziellen, öffentlichen Verhalten in einer Rolle und dem privaten, nicht öffentlichen Verhalten. In der Rolle des Polizisten verhält man sich anders als zu Hause, ohne Uniform, es sei denn, man zweckentfremdet diese für ganz andere Spiele. Die Unterscheidung der Schauspielschulen verschärft diesen Gegensatz. Das alltägliche Schauspielen wird zum problematischen Ausgangspunkt einer künstlerischen Absicht, etwas in Szene setzen zu wollen. Die menschlichen Eigenschaften des Imitierenkönnens und der originären Hervorbringung werden hier in ein Verhältnis gesetzt. Die reine Nachahmung |81|im Sinne des Kopierens einer anderen Person, ihres Dialekts, ihrer Körperhaltung, ihres Verhaltens ist dabei die eine Seite des Schauspielens. Im Scharadenspiel, in der Pantomime oder im Kabarett kommt es zur Anwendung. Die Hervorbringung einer Figur, die nicht einen realen Menschen nachahmt, sondern auf der Grundlage des dramatischen Textes einen möglichen, realen Menschen erfindet, stellt den anderen wesentlichen Pol des Schauspiels dar. In der spielerischen Nachahmung einer vorgefundenen Realität treffen sich der Spielimpuls und die Wahrnehmung des Zuschauers im Erkennen, was nachgeahmt werden sollte und wie gelungen diese Nachahmung ist. Hierbei kann die Erkenntnis von einer verblüffenden Kopie bis zu einer erkenntnisstiftenden Karikatur reichen. Es bleibt jedoch in allen Fällen der Vergleich zwischen der mimetischen Verdopplung und ihrem Vorbild Basis des theatralischen Geschehens. In der Entwicklung des Schauspielers zum bürgerlichen Darsteller verschwindet diese Befähigung zur Nachahmung. Im Alltag wie auf der Bühne wächst die Anforderung an die glaubwürdige Originalität des Ausdrucks. Die Kopie eines verliebten Menschen verführt niemanden mehr. An die Stelle des nachahmenden Spiels tritt die spielerische Hervorbringung des inneren Erlebens.

Mit der Erfindung der „Vierten Wand“ im Theater beginnt diese Revolution des Darstellungsvermögens. In einer berühmten Anekdote führt Diderot einen Freund mit verbundenen Augen in die Loge eines Theater.16 Dort erzählt er ihm, dass sie hier in einer Kammer wären, von der aus sie dem Treiben einer Familie zuschauen könnten, ohne selbst gesehen zu werden. Sie befänden sich also in einer privilegierten Voyeurposition. Dann nimmt er dem Freund die Augenbinde ab und fragt nun den Leser: Wird der Freund auch nur einen Augenblick lang glauben, dass er einem realen Familienleben beiwohnt? Natürlich wird er dieses nicht glauben, das Spiel der Schauspieler ist zu theatralisch, sie laufen unnatürlich, schauen den anderen nicht an, wenn sie mit ihm sprechen, sondern scheinen ihre Worte immer an eine große Menge zu richten, auch sprechen sie viel zu laut. Wenn das Theater über das neu entstehende bürgerliche Zusammenleben etwas aussagen will, folgert Diderot, müsste es doch eine Realität der Darstellung |82|bekommen, durch die ein Zuschauer glauben könnte, er wohne einer echten Familiengeschichte bei.

Ein weiteres Experiment beschreibt, wie Diderot sich die Veränderung des Theaters von einer unglaubwürdigen Veranstaltung übertriebener Gesten, Gefühle und Worte zu einer Darstellung menschlichen Miteinanders vorstellt: Sein Alter Ego macht eine Reise und trifft dort auf eine Familie, die durch eine rührende Begebenheit aneinander gebunden ist. Um die Erinnerung an dieses Ereignis lebendig zu erhalten, bittet der Vater seine Kinder und Verwandten, in die je eigene Rolle zu schlüpfen und diese wundersame Begebenheit im Spiel zu wiederholen. So soll ein lebendiges Familiengemälde entstehen, in dem der identitätsstiftende Moment in einer jährlichen Wiederholung festgehalten wird. Das Spiel wird vorbereitet, doch bevor es beginnen kann, stirbt der Vater. Dennoch ziehen sich alle Familienmitglieder zu dem festgelegten Zeitpunkt die Kleider des vergangenen Geschehens an und beginnen mit der Wiederholung. Kurz vor dem Ende, als der Vater auftreten soll, werden sie jedoch von der Rührung überwältigt und müssen das Spiel abbrechen. Denn für die Rolle des inzwischen verstorbenen Vaters hatten sie einen Schauspieler engagiert, der, als er in dem Kostüm des Verstorbenen auftrat, ihre Empfindung so berührte, dass das reale Spiel durch das Auftreten des Schauspielers implodierte. Das Drama, das in diesem Gedankenexperiment aufgeführt werden sollte, hat Diderot gleich mitgeschrieben und heißt Der natürliche Sohn.

Die Vierte Wand, die hier erzeugt und für die Darstellung benötigt wird, ist eine besondere Konstruktion. Sie ist nicht einfach die gedachte vierte Zimmerwand, die das Portal zum Zuschauerraum abschließt, hinter der die Schauspieler agieren, als wüssten sie nicht, dass sie angeschaut würden. Die Vierte Wand in der theatralischen Anordnung des natürlichen Sohns wird in jeder Figur hergestellt und verkörpert. Sie agieren in der realen Umgebung, tragen die echten Kostüme, spielen sich selbst und es sind keine Zuschauer außer dem Diderotschen Beobachter anwesend. Und dennoch spielen sie Theater, denn sie folgen einem Drama, sie sprechen die Sätze, die sie ehemals gesagt haben und die nun aufgeschrieben sind, und sie erleben die Situationen und ihre Handlungen erneut. Sie begeben sich in die sekundäre Realität des Dramas und spielen in ihr Figuren, die aufgrund |83|von dramatischen Situationen bestimmte Erlebnisse haben und bestimmte Handlungen vollziehen. Sie erzeugen durch dieses Spiel eine Differenz zwischen sich als Schauspieler und der schauspielerisch hervorgebrachten Figur, und diese Figur erlebt und handelt in der so hervorgebrachten Situation ebenso real und glaubwürdig, wie sie dieses einst als Menschen im Alltag getan haben. Die in ihnen selbst erzeugte Vierte Wand entsteht aus einer gedanklichen Unterscheidung zwischen einem schauspielerischen Handeln und einem alltäglichen Tun. Die Vierte Wand ist kein Element des Bühnenbildes, sondern die Folge und Voraussetzung eines bestimmten Schauspielens. Die Vierte Wand trennt die Produktion der sekundären Realität des dramatischen Geschehens von der Realität des Zuschauers. Die Figuren des Dramas agieren aufgrund der Vierten Wand so, als gäbe es keine Zuschauer und als gäbe es kein Darstellungsinteresse. Hierdurch ist das schauspielerische Handeln ganz in der dramatischen Situation konzentriert. Der Schauspieler interessiert sich hinter der Vierten Wand nur für seine Figur und ihr Erleben und Handeln. Er vergisst im Gedankenexperiment von Diderot, dass das Schauspielen einen Zweck über sein Handeln in der dramatischen Situation hinaus hat. Er vergisst die Zuschauer, er vergisst, dass er Theater spielt. Der Zuschauer vergisst, dass er Zuschauer ist, und folgt dem Geschehen mit seiner eigenen Imagination.17 Er wohnt keinem Theaterspiel bei, sondern dem Handeln und Erleben spielender Menschen. Dieses schauspielerische Vermögen zur Erfindung im Spiel, zur Gestaltung in der Illusion, zum Spiel in der sekundären Realität des Theaters und zum realen Erleben und Handeln in der dramatischen Situation stellen die Methoden der Schauspielausbildung vor neue und komplexe Aufgaben, die erst Stanislawski in seinem „System“ vollständig bearbeiten wird.

    1

Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst Band I, Berlin 1967 (Erstveröffentlichung 1848), S. 239.

2

Hierzu noch immer grundlegend Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main 1983, und Wolfgang Engler: Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus, Berlin 2009.

3

Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1970 (Erstauflage 1920).

4

Zum Beispiel Ideen zu einer Mimik.

5

Für einen Überblick siehe Gert Ueding: Klassische Rhetorik, München 1995.

6

„Gottsched, dem die Abschaffung der Stegreifstücke zu langsam vor sich ging, hatte sie [die Neuber] dazu bewogen. Er erkannte sehr richtig in der lustigen Person, dem Harlekin, den Mittelpunkt und Lebensnerv des ganzen alten Komödienwesens und daß mit der Verbannung des maskenhaften Spaßmachers auch die Regellosigkeit und Willkür aufhören werde. Er veranlasste daher die Neuber, den Harlekin auf ihrer Bühne mit einem Streiche abzuschaffen, und diese beschloß, den Schritt durch eine feierliche theatralische Demonstration zu bezeichnen. Es war im Oktober 1737, in ihrer Theaterbude bei Boses Garten, wo ein eigens von ihr dazu verfaßtes Vorspiel aufgeführt wurde, in welchem dem Harlekin wegen seines theatralischen Unfugs förmlich der Prozeß gemacht, einen Puppe in seinem buntscheckigen Kleide auf einem Scheiterhaufen feierlich verbrannt und sein Name von der Bühne verbannt wurde.

Der Vorgang ist vielfach verhöhnt worden, Lessing nannte ihn ‚selbst die größte Harlekinade’; dennoch hat er einen ernsten Sinn.“ Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, a.a.O., S. 297 f.

7

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974, S. 384.

8

Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 60.

9

Siehe hierzu Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, Frankfurt am Main und Basel 2000.

10

Siehe hierzu auch Robert Weimann: Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, Berlin 1967 und Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie, Frankfurt am Main 2005, S. 127 ff. Menke führt noch eine zweite Freiheit des Schauspielers ein, die er gegenüber der Bestimmungsmacht von Text und Autor sieht. Eine dramatische Figur ist seiner Meinung nach dadurch bestimmt, dass ihr Handeln und Sprechen immer ein nachzuhandeln und nachzusprechen dessen ist, was von einem dramatischen Text vorgeschrieben worden ist. Dieses ist jedoch eine ungewöhnliche Feststellung, da sie davon ausgeht, dass die Figur in einem Drama ein Wissen davon hat, dass sie nur eine Figur in einem Drama ist. Wenn sie dieses Wissen nicht hat, wovon in den meisten Fällen auszugehen ist, können ihre Handlungen nicht Nachahmungen von Handlungen sein. Insofern ist die zweite Freiheit des Schauspielers eher in der ersten aufgehoben und äußert sich nur in den unterschiedlichen Spielweisen von Volkstheater und epischem Theater.

11

Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, Drittes Stück, Den 8. Mai 1767.

12

Friedrich Kayßler: Schauspielernotizen, o. O. 1910.

13

Die Theaterfeindlichkeit großer Teile des neu entstehenden Bürgertums begründet sich genau im diesem blinden Fleck. Das eigene Verhalten sollte in scharfer Abgrenzung zum Adel keine theatralischen Komponenten enthalten. Dass es diese schauspielerischen Mittel nur auf eine höhere, dialektische Stufe entwickelt hatte, wollte oder konnte noch nicht gedacht werden. Um sich das „reine“ und „authentische“ Selbstbild zu erhalten, musste jede Form der Verstellung und Schauspielerei besonders vehement ausgegrenzt werden. Siehe hierzu besonders J. J. Rousseau und die Untersuchung von Patrick Primavesi: Das andere Fest, Frankfurt am Main 2008.

14

Julius Bab: „Vom Schaffen des Schauspielers“, in ders.: Über den Tag hinaus. Betrachtungen, Heidelberg, Darmstadt 1960, S. 265f.

15

Hierzu unerlässlich Niklas Luhmann: Liebe als Passion, Frankfurt am Main 1982.

16

Das Theater des Herrn Diderot, herausgegeben und übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing, Leipzig 1981.

17

Hierzu aufschlussreich Doris Kolesch: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt am Main 2006: „Nur wenn der Autor sich ausschließlich für seine Figuren interessiert, nur wenn der Schauspieler sich ausschließlich für seine Rollenfigur interessiert – und nicht für die Zuschauer –, interessiere sich das Publikum für die dargestellten Bühnenfiguren. Denn erst dann wird das entscheidende Vermögen des Zuschauers aktiviert: seine Imagination. […] Indem die Vierte Wand dem Zuschauer die Doppelseitigkeit der menschlichen Existenz, seine komplexe, nie gänzlich auflösbare Position als Subjekt und zugleich Objekt sowie die damit verbundenen Asymmetrien von Macht, Wissen und Begehren einsichtig macht, kann sie mit gutem Recht als ein Medium der Aufklärung bezeichnet werden, da sie den Menschen mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert.“ (S. 247).

 

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