Magazin
Ein Theaterphilosoph
Zum Tod des französischen Denkers Jean-Luc Nancy
von Erik Zielke
Erschienen in: Theater der Zeit: Angst und Widerstand – Thema Afghanistan (10/2021)
Heiner Müllers Miniatur „Herzstück“, die nur eine halbe Druckseite füllt, ist ein eigentlich großes Drama in, zugegeben, sehr wenigen Worten: Eins bietet Zwei sein Herz, es ist nur mittels Operation herauszubekommen und entpuppt sich als – Ziegelstein. Abgründigere Grotesken als in der Literatur findet man nur im „echten“ Leben. 1991, acht Jahre nach der Entstehung von „Herzstück“, wird das kranke Herz des Philosophen Jean-Luc Nancy mittels Transplantation durch ein funktionstüchtiges ersetzt. Dreißig weitere Jahre wandelt der Denker mit dem Ersatzorgan auf der Erde. Er, der von der Existenzphilosophie her kam, der vom Heidegger’schen „Dasein“ ausging, den Begriff des „Mitseins“ prägte und über das Leben, den Körper des Subjekts und das Fremde im Eigenen nachdachte. Am 23. August dieses Jahres ist er mit dem fremden Herzen im eigenen Leib in Straßburg gestorben.
Neidvoll kann man aus Deutschland nach Frankreich blicken, wo die Figur des öffentlichen Intellektuellen noch nicht gänzlich abgeschafft ist und wo es so etwas wie eine linke Intelligenz noch gibt, die bereit ist, sich in gesellschaftliche Diskurse einzubringen. Nancy, dem man zweifellos eine solche Rolle zuschreiben kann, interessierte sich auch für den deutschsprachigen Raum – und die hiesigen Denktraditionen. 1940 im heutigen Bordeaux geboren, promovierte er an der Universität...