Theater der Zeit

Thema: Theater und Religion

Nüchterner Rausch

Warum tiefstapeln? Dem Müchner Schauspieler Steven Scharf geht es um alles

von Christoph Leibold

Erschienen in: Theater der Zeit: Nüchterner Rausch – Der Schauspieler Steven Scharf (04/2013)

Assoziationen: Akteure

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Mit Glauben kennt er sich aus. Mit Religion weniger. Es sei denn, man begreift den real existierenden Sozialismus als Staatsreligion der ehemaligen DDR. Als die zusammenbrach, war Steven Scharf, geboren in Vacha, einem Ort im Thüringischen, 14 Jahre alt, in einem Alter also, wo er, vorsichtig formuliert, „kurz davor war, Zweifel zu entwickeln“. Bis dahin aber, sagt Scharf, gab es für ihn keinen Grund dazu: „Ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich kannte ja nur Heldengeschichten und habe das alles bejaht.“ Wäre er ein paar Jahre älter gewesen, hätte die Sache vielleicht schon ganz anders ausgesehen. „Dann hätte die Armee angestanden. Wie hätte ich mich verhalten?“

Die Entwicklung zum Ketzer wider die Staatsmacht der DDR oder aber zum linientreuen Schäfchen ist Steven Scharf erspart geblieben. Dem kam die „Wende“ zuvor. Geprägt aber hat ihn das Erlebnis eines Glaubensverlustes: Was gestern noch als unumstößliche Wahrheit gepredigt wurde im Arbeiter-und-Bauern- Staat, galt anderntags im vereinten Deutschland als Irrlehre. Diese Erfahrung sitzt tief bei Steven Scharf, bis heute, obwohl er natürlich längst in der bundesrepublikanischen Gegenwart angekommen ist.

Die Schauspielschule besuchte er noch im Osten, in Rostock, das erste Engagement führte ihn heimatnah ans Theaterhaus Jena. Doch dann ging es über Köln und Basel nach München an die Kammerspiele, wo er seit bald sechs Jahren spielt, deutlich länger, als es ihn an den drei Häusern davor jeweils hielt. Früher dachte Steven Scharf, er müsse alle paar Jahre das Theater wechseln, um sich die Beweglichkeit im Kopf zu bewahren. Doch an den Kammerspielen spüre er immer noch diese „geheimnisvolle Atmosphäre. Das Haus ist in ständiger Verwandlung.“ Weshalb er es sich vorerst leisten kann, da zu bleiben.

Dass sich Steven Scharf auch ohne räumliche Veränderung die Neugier erhalten hat, das glaubt man sofort. Beim Gespräch blickt er sein Gegenüber aus intensiv funkelnden Augen aufmerksam an und hat erst mal selbst eine Menge Fragen, ehe das Interview beginnen kann. Dabei kommt die Rede dann schnell auf seine Herkunft. Wie viel Osten steckt in ihm? Scharfs prompte Antwort: „Immer mehr! Das arbeitet in jeder Rolle mit. Irgendein Aspekt dieses peinlichen Landes, in dem ich groß geworden bin. Die DDR war ja auch ein großer Witz. Und zugleich war da dieser ernste, wirkliche Glaube an eine Sache, der von vielen gelebt wurde. Mein ganzes Arbeiten ist durchtränkt von dieser Erfahrung.“

 

Der irdische Judas

 

Bestes Beispiel: Steven Scharfs jüngste Rolle, der Judas. Jener Jünger Jesu also, der seinen Meister den Pharisäern auslieferte, womit sein Name zum Synonym für Verrat wurde. Im Stück der niederländischen Dramatikerin Lot Vekemans, das so heißt wie die einzige Figur, die darin auftritt, wendet sich Judas direkt ans Publikum. Allerdings weniger, um sich zu verteidigen. Judas sucht nicht die Entlastung, indem er darauf verweist, dass es einen Sündenbock wie ihn brauchte, damit Jesus überhaupt erst zum Lamm Gottes werden konnte. Judas will sich nicht ent-schuldigen, also ganz wortwörtlich seiner Schuld entledigen. Wohl aber will er sich erklären. Sich und seine Überzeugung.

Dieser Judas nämlich hängt durchaus einem Glauben an, nur ist das keiner, der auf die Erlösung im Jenseits zielt. Er hat sich von Jesus den politischen Kampf gegen die römischen Besatzer erhofft – und sieht sich bitter enttäuscht. „Judas wäre der Kampf im Hier und Jetzt wichtig gewesen. Das kann ich nachvollziehen“, sagt Steven Scharf, der aufgewachsen ist mit Geschichten von Menschen, die sich mit Haut und Haar einer Sache verschrieben haben und an sie glaubten. Heldengeschichten eben. „Erzählungen von der Generation meiner Großeltern, die wirklich das Land mit der Schippe in der Hand aufgebaut haben.“

Interessanterweise hat Intendant Johan Simons, der die deutsche Erstaufführung von Lot Vekemans’ „Judas“ an den Münchner Kammerspielen besorgte, Steven Scharfs sehr irdischen Judas, diesen desillusionierten politischen Kämpfer, in einem eher sakral anmutenden Raum ausgesetzt. Eine Leiter lehnt am geschlossenen eisernen Vorhang, gut und gerne vier Meter hoch. Ganz oben hockt Steven Scharf als Judas, nur in mattem Kerzenschein, später in schummrigem Scheinwerferlicht. Richtig hell wird es nie. Scharf kauert dort mit dem Rücken zum Publikum, nackt wie der erste Mensch. Die seelische Entblößung von Judas in Vekemans’ Text ist damit übersetzt in die schutzlose Blöße des Schauspielerkörpers. Die Sprache wird ebenfalls transformiert: Steven Scharf zeigt keinen Seelenstriptease nach den Regeln des psychologischen Realismus; Vekemans’ in freie Verse gefassten, leicht rhythmisierten Alltagsjargon überhöht er zur emphatischen Rede. Ein Zittern, ja beinahe Tremolo liegt in Scharfs Stimme, das seinem Vortrag Druck und Dringlichkeit verleiht. Fast wirkt das so, als wolle sich Judas befreien aus einer Geschichte, die nicht die seine ist. Denn mit seinem politischen Anliegen steckt er definitiv im falschen Plot. Die Heilsgeschichte sieht für ihn nicht die anvisierte Rolle des freiheitskämpferischen Retters eines unterdrückten Volkes vor, sondern die des Verräters.

In der Inszenierung von Johan Simons spiegelt sich Judas’ Ohnmacht in der Bühnensituation: Der Titelheld findet sich in einem religiös anmutenden Setting wieder, „von dem er nicht weiß, wie er da reingeraten ist, und über das er keine Macht hat“. Es ist ein aussichtsloser Kampf gegen sein Image, den Judas hier kämpft. Und doch kämpft er ihn. Das verleiht der Figur Größe und Würde. Weil sie nicht klein beigibt und selbst auf verlorenem Posten Haltung zeigt.

Die Bereitschaft, sich Situationen auszusetzen, die nicht beherrschbar sind, gehört auch zu den Grundanforderungen des Schauspielerberufs. Und Steven Scharf, das bestätigen Regisseure, die mit ihm gearbeitet haben, gehört definitiv zu jenen Vertretern seiner Profession, die Unsicherheiten aushalten können und keine Angst haben, auch mal die Kontrolle zu verlieren. Auch über die eigene Wirkung. Immer wieder, erzählt Scharf, habe er die Erfahrung gemacht, dass sich das eigene Erleben beim Spielen nicht mit den Beschreibungen von Zuschauern deckt. Das hat auch mit seiner körperlichen Erscheinung zu tun. Steven Scharf ist groß und kräftig, das, was man gemeinhin einen Hünen nennt. Da landet man schnell in einer Schublade. Schon in der Schauspielschule hat Scharf das gemerkt. Und spielt seither an gegen das Klischee vom kräftigen Kerl. Doch es bleibt schwierig.

Als er sein Engagement in Basel antrat, habe Lars-Ole Walburg, der dort damals Schauspieldirektor war, gesagt, man wolle ihn für die „starken Rollen“. „Aber so fühle ich mich gar nicht!“, betont Scharf. Und dennoch: „Mit einer Statur wie der meinen ist es immer so, dass man, sobald man die Bühne betritt, bestimmte Assoziationen beim Zuschauer auslöst – noch ohne irgendetwas gespielt zu haben. Man meint noch gar nichts und meint doch schon was. Aber mittlerweile freunde ich mich damit an. Es ist ein lebenslanger Prozess, dies einzusetzen und zu benutzen.“

 

Der diabolische Herr Dresner

 

Inzwischen hat es Steven Scharf in diesem Prozess sehr weit gebracht. Als Johan Simons zum Auftakt seiner Intendanz an den Münchner Kammerspielen im Herbst 2010 „Hotel Savoy“ nach dem Roman von Joseph Roth inszenierte, verkörperte Steven Scharf den Kriegsheimkehrer Gabriel Dan. Rein äußerlich, vom Typ her, ein fescher K.-u.-k.-Soldat. Scharf aber spielte ihn nicht nur als erwartbar gebrochenen Helden, sondern weitgreifender: als tief verunsicherten, fast tumben Toren. Diese Unbeholfenheit in Verbindung mit Scharfs imposanter Erscheinung verlieh der Figur etwas Riesenbabyhaftes. Ein langer Lulatsch mit der Seele eines Kindes stand da sehr hoffnungs- und hilflos in der Welt. Was durchaus auch seine komischen Seiten hatte.

Auch Scharfs Kriminalbeamter Steffen Dresner im deutsch-englisch-estnischen Dreinationenprojekt „Three Kingdoms“ von Simon Stephens und Sebastian Nübling reizt zum Lachen; auch er macht zunächst einen eher ungelenken Eindruck. Bis allmählich deutlich wird, dass sich hinter dieser Schlichtheit eine Bauernschläue verbirgt, die sich am Ende zu knallharter Gerissenheit auswächst, mit der dieser diabolische Herr Dresner zwei englische Inspektorenkollegen bei ihren Investigationen in einem internationalen Menschenhandelskandal an der Nase herumführt. Und den Zuschauer gleich mit. Wie Scharf seiner Figur nach und nach Facetten erspielt, wie er sie entwickelt vom scheinbar unschuldigen Einfaltspinsel zur komplexen Persönlichkeit mit beträchtlicher krimineller Energie – das hält den Zuschauer in Atem. Vor allem weil Scharf ihm dabei immer einen Schritt voraus scheint. Wie ein guter Gangster den Ermittlern, der sich dabei ständig ins Fäustchen lacht. Steven Scharf zeigt als Steffen Dresner dann auch gern ein besonders breites Grinsen.

„Komik auf der Bühne“, sagt Steven Scharf, der beim Interview trotz aller Ernsthaftigkeit ähnlich gut gelaunt wirkt wie als Dresner, „darf nie Selbstzweck sein. Aber als Notwehr, als letzte Konsequenz, wenn in verzweifelter Lage gar nichts mehr hilft – wunderbar! Dann kann sie oft die letzte Rettung sein.“ Aber auch das Theaterspielen an sich scheint für Steven Scharf Teil einer (Über-)Lebensstrategie zu sein. Das Erlebnis, sich lebendig zu fühlen. „Aber keine Lebendigkeit im Sinne von Cabriofahren und bei offenem Verdeck ,yeah!‘ rufen. Sondern eher ein Stillstand. Ein Punkt, wo tausend Wege abgehen, wo alles möglich scheint. Ein seltsames Gleichgewicht. Es ist schwer zu beschreiben – ein nüchterner Rausch vielleicht?“

Das Theaterspielen als Vergötterung des Lebens also? Steven Scharf schürzt kurz die Lippen, als würde er gleich losprusten. Sagt dann aber: „Das ist ein ganz schön großes Wort. Aber warum sollte man tiefstapeln? Warum machen wir das denn, was wir machen, wenn nicht, weil es um etwas Unaussprechliches, ganz Großes geht. Ich denke wirklich, das hat etwas mit Glauben zu tun. Ich merke das an meiner Empörung, wenn ich im Fernsehen schlechte Serien sehe. Da frage ich mich: Warum schaltet man eine Kamera an, wenn es um nichts geht? Und denke mir: Ihr Gotteslästerer! Natürlich ist Schauspieler auch ein Beruf, um Geld zu verdienen. Aber am liebsten möchte ich nur Sachen machen, wo es um alles geht.“

Könnte es da in unserer säkularen Mediengesellschaft aber nicht sein, dass es dem Theater wie den Kirchen ergehen wird, denen ihre Schäfchen davonlaufen; und dass die Schar der Gläubigen immer kleiner wird? Davon will Steven Scharf nichts wissen: „Solange wir nicht elitär sind, sondern universelle Fragen stellen, die alle verstehen und angehen, wird es auch Menschen geben, die auf unserer Suche mitkommen.“ Seinen Glauben ans Theater lässt sich Steven Scharf nicht nehmen. //

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