Theater der Zeit

Auftritt

Theater Ulm: Wie die Wespe im Honigtopf

„Geister sind auch nur Menschen“ von Katja Brunner – Regie Karin Drechsel, Ausstattung Christine Grimm

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Katja Brunner Karin Drechsel Theater Ulm

Das Ensemble in „Geister sind auch nur Menschen“ von Katja Brunner in einer Inszenierung von Karin Drechsel am Theater Ulm.
Das Ensemble in „Geister sind auch nur Menschen“ von Katja Brunner in einer Inszenierung von Karin Drechsel am Theater Ulm. Foto: Jochen Klenk

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Sie verlieren ihre Sprache. Über die Körper haben sie keine Kontrolle mehr.  In ihrem Stück „Geister sind auch nur Menschen“ gibt die Autorin Katja Brunner den greisen Menschen eine Stimme, die im gesellschaftlichen Teilhabe-Diskurs immer weniger eine Rolle spielen. In Pflegeheimen verschwinden sie wie Geister. Und mit ihnen ihre Lebensgeschichten. Was am Ende von ihnen bleibt, sind Traueranzeigen. In ihrer tiefenscharfen, poetischen Sprache zeigt die Dramatikerin aus der Schweiz den Schmerz, den der Verlust des Lebens mit sich bringt. Den sprachgewaltigen Text hat Karin Drechsel am Theater Ulm in Szene gesetzt.  

Mit ihrem neuen Stück „Die Kunst der Wunde“ ist die 32-Jährige Katja Brunner in diesem Jahr wieder bei den Mülheimer Dramatiker:innentagen vertreten. 2013 gewann sie den wichtigsten deutschsprachigen Wettbewerb mit ihrem Stück „Von den Beinen zu kurz“. „Geister sind auch nur Menschen“ hat Heike M. Goetze 2015 am Theater Luzern zur Uraufführung gebracht. Die Konsequenz, mit der sich die junge Autorin in die Lebenswelt der Todgeweihten hineindachte, rüttelte das Publikum damals wie heute auf. Das Stück wird immer wieder nachgespielt, sogar in Shanghai kam eine Werkstattinszenierung auf die Bühne.  

In Ulm verortet die Regisseurin Drechsel den Stoff in einem namenlosen Altenheim. An der Wand tickt die Uhr. Mit steril lackierten Metallbetten, Rollatoren und kalkweißen Wänden schafft die Ausstatterin Christine Grimm eine Umgebung, die sich ganz an den Pflegealltag im 21. Jahrhundert anlehnt. Die Senior:innen tragen flauschige Morgenmäntel und beige Westen. Wenn einer den vielleicht letzten Geburtstag feiert, wird mit Hütchen getanzt und gefeiert. Zwei Schauspieler liegen sich eng umschlungen in den Armen. Sie spielen die Greise, die sich kaum bewegen können. Daneben macht sich ein Pfleger lustig über sie. Den ganzen Frust über den harten Pflegealltag und seine prekären Arbeitsverhältnisse schreit er da hinaus. Die alten Menschen, die früher Lehrerinnen oder Mütter waren, dürfen nur noch von früher träumen. Ernst nimmt sie keiner mehr. Freddy Quinns Schlager “Wenn ein Gaukler Tränen weint” trällert aus dem Radio. In dieser abgeschlossenen Welt bleibt die Würde der Greise wie die der Pflegekräfte auf der Strecke. 

Die gesellschaftliche Ausgrenzung zeigt das Schauspielensemble in dem Pflege-Gefängnis, das Drechsel im Podium des Ulmer Theaters kreiert. Als Schlaganfall-Patientin, die zunehmend die Kontrolle über ihr Leben verliert, wächst Christel Mayr über sich hinaus. Die Schauspielerin sitzt im Rollstuhl. Sie zeigt, wie die Sprache in ihrer Figur stirbt. Da sind nur noch Wortfetzen übrig: “Ich, ich, ich” - am Ende bleibt nur die Einsamkeit. Dazu schmiert sie Kot an die Wände. Mit orangefarbenen Bällen zeigt die Regie die Exkremente.  Frank Röder gelingt im Frauenkostüm der Spagat, sich in die verwirrte Welt einer demenzkranken Seniorin hineinzudenken.  

Dass Katja Brunner die Arbeitswelt der jungen Pflegekräfte in ihrer literarischen Sprache reflektiert, macht einen großen Reiz des Abends aus. Rasmus Friedrich, Henning Mittwollen, Emma Lotta Wagner und Vincent Furrer zeigen Menschen, bei denen die fehlende Wertschätzung in der Gesellschaft tiefe Spuren hinterlässt. Der Schmerz derer, für die viele Menschen in der Corona-Zeit klatschten, und die jetzt wieder vergessen werden, kommt da schön zum Tragen. In ihren klugen Menschenporträts zeigt sich die Zeitlosigkeit von Katja Brunners Texten. Darin legt die Sprachkünstlerin Wunden in der Gesellschaft offen, die nicht heilen. Mit Desinfektionssprays stürmen die jungen Pflegekräfte über die Bühne, um den Uringestank loszuwerden. Ihr Job im Pflegeheim drängt sie an den Rand der Gesellschaft. Augenblicke später sitzen sie in einer Ecke, rauchen und fluchen über ihren Alltag: “Kotzlachen, diese Blutergüsse der Seele.” Was es bedeutet, sich für die Alten aufzuopfern, die einst angesehene Bürgerinnen und Bürger waren, zeigen die jungen Spieler:innen in abfälligen Bemerkungen oder in verbalen Angriffen. Wie sehr die soziale Ungerechtigkeit schmerzt, bringt Brunner gerade in den Szenen ohne Worte auf den Punkt. Momente des strafenden Schweigens setzt die Regie großartig um. 

Durch den klugen Blick auf die subtile Gewalt im Pflegesystem weist Katja Brunners Dramatik über die Gegenwart hinaus. Dass alte Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, ist für sie ein körperlicher Prozess. „Sie sind angealtert. Sie sind angekrankt von der Zeit. Sie können sich kaum wehren. Sie sind in die Gebrechlichkeit und ins Alter hineingefallen wie eine Wespe in einen Honigtopf.“ Mit großen Sprachbildern wie diesen entwirft Katja Brunner das Bild einer Zeit, die vom Jugendwahn geprägt ist. Die Alten werden nicht mehr gehört, sie flüchten in eine Welt der Bequemlichkeit. Die Melodie, die der Text entfaltet, bringt das Ensemble in Drechsels Regie sehr schön zum Klingen. Sensibel und respektvoll setzt die Regisseurin den Text in Szene, der von Tiefenschärfe und sinnlicher Kraft lebt.  

Dass Karin Drechsel bei den Bildern allerdings sehr auf der Ebene des Realen verhaftet bleibt, schwächt die Strahlkraft des Abends. Denn Katja Brunners Theatersprache wächst weit über die Wirklichkeit hinaus. Dem Ensemble gelang es dennoch das Publikum im besten Sinn zu berühren. Da die Spieler:innen alle das Seniorenalter noch nicht erreicht haben, interpretierten sie ihre Rollen aus großer Distanz. Wenn das Ensemble im Pflegebett zur Kuschelstunde bittet, lässt der Anblick ihre entsetzliche Sehnsucht nach Nähe spüren. Gerade in diesen Momenten der Stille überzeugt Drechsels Regiearbeit. So fordert der Abend heraus, den Diskurs weiterzudenken. 

Erschienen am 16.5.2023

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