Auftritt
Badisches Staatstheater Karlsruhe: Coming-out zwischen Müllbergen
„Hir“ von Taylor Mac (DSE) – Regie und Bühne Jakob Weiss, Kostüme Elena Gaus, Musikalische Leitung Ari Merten
von Elisabeth Maier
Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Baden-Württemberg Badisches Staatstheater Karlsruhe

Schaufensterpuppen mit ausgerissenen Gliedern türmen sich im Wohnzimmer. Die Sperrholzkonstruktion des Einfamilienhauses droht einzufallen. Auf dem Sofa sitzt der Vater, einst ein Macho wie aus dem Bilderbuch, mit grellroter Perücke und glitzernden Frauenkleidern. Er hat einen Schlaganfall erlitten. Nun demütigt ihn seine Frau mit den Frauenkleidern. Jetzt hat sie die Hosen an. In diese auf den Kopf gestellte Welt kehrt Isaac Connor aus dem Krieg in Afghanistan zurück. Die deutschsprachige Erstaufführung der absurden Komödie „Hir“ des US-amerikanischen Performers und Drag-Queen Taylor Mac, hat Jakob Weiss am Staatstheater Karlsruhe inszeniert. Er hat auch das Bühnenbild geschaffen. Das Familiendrama verortet er in einem trashigen Universum.
Doch das Stück hat mehr Tiefenschärfe, als es Weiss‘ Bühnenraum vermuten lässt. Geschlechterrollen und -identitäten hinterfragt der international gefeierte Taylor Mac in dem Stück „Hir“, das am 2. Februar 2014 im Magic Theatre in San Francisco uraufgeführt wurde. 2019 machte der queere Künstler bei den Berliner Festspielen mit dem 24-Stunden-Spektakel „A 24 Decade History of American Popular Music“, einer alternativen Geschichte der USA, Furore. Für sein literarisches Schaffen ist judy mit dem Ibsen-Preis ausgezeichnet worden. Auf Macs Achterbahnfahrt zwischen Humor und tragischen Momenten lässt sich die Übersetzerin Lisa Wegener in „Hir“ ein. Der Titel des Stücks zieht die englischen Personalpronomen „him“ und „her“ zusammen. Damit verweist Taylor Mac, der sich selbst „judy“ nennt, auf sein eigenes Leben in der nicht-binären Welt. Gender-Sternchen interessieren den 49-Jährigen nur am Rande. Judy geht es um Fragen der nackten Existenz.
Was macht den Mann zum Mann? Schwer traumatisiert kommt der verlorene Sohn Isaac von den Schlachtfeldern zurück. Sein Job war es, die Eingeweide der Toten aufzusammeln. Ängstlich sucht Jannik Görger Schutz zwischen Müllbergen, sobald ihn die kraftvolle Elektro-Musik von Ari Merten an das Schlachten in Afghanistan erinnert. Mit den ausgerissenen Gliedmaßen der Puppen reißt Weiss diese Ebene auch im Bühnenbild an. Wie ein Kind kauert der kahl geschorene Hüne dann auf dem Boden. Dass posttraumatischer Stress einen Menschen von innen zerfressen kann, legt der Schauspieler sensibel und sehr ehrlich offen. In diesen Momenten dringt Regisseur Jakob Weiss in die Tiefenschichten des Textes ein: „Nachdem ich drei Jahre in einem Kriegsgebiet war, weit weg von zu Hause, wollte ich ein Spruchband und Cookies und ein sauberes Zuhause und einen Vater, der ordentlich angezogen ist, und nicht wie ein abgedrehter Transen-Clown.“
Diesem entsetzlichen Schmerz des Sohnes steht die Ignoranz der Mutter Paige entgegen. Lisa Schlegel trägt Anzug und Krawatte. Sie hat das Ruder in dem Haus übernommen, in dem ihr Mann, Arnold, sie und die Kinder jahrelang quälte. Der sitzt jetzt auf der Couch oder lässt sich von ihr durch die schmutzige Wohnung schieben. Ihre gnadenlose Emanzipation um jeden Preis zelebriert die Schauspielerin großartig. Gunnar Schmidt zieht sich allzu sehr in die Opferrolle zurück. Er sabbert, glotzt ins Leere, giert nach den Shakes, die seine Frau mit weiblichen Hormonen versetzt. Das soll ihn gefügig machen. Die Dekonstruktion des starken weißen Mannes ist für den Schauspieler eine Show. Diesen Eindruck verstärken die Kostüme. Da setzt Elena Gaus zu sehr auf Klischees. So wirkt das Drag-Queen-Outfit für den schwer kranken Vater maßlos übertrieben, und damit wie pure Parodie.
Manche Zimmerschlachten katapultieren das Publikum in die 1990er-Jahre zurück, als die Serie „Eine schrecklich nette Familie“ mit Al Bundy Rekord-Einschaltquoten schaffte. Über weite Strecken meistert Regisseur Weiss jedoch die schwierige Gratwanderung zwischen Lachen und Schrecken. Seine eigene bittere Familiengeschichte in einem verstockten Dorf in Kalifornien hat sich Taylor Mac in dem Stück von der Seele geschrieben, das von der komplexen Dialogform lebt. „Wir wollten alle nur noch weg“, sagte der Autor in einem Interview. Diese Sehnsucht nach Aufbruch lebt Rumo Wehrli in der Rolle des Trans-Sohnes Max aus. Den jüngeren Bruder Isaacs, der früher eine Schwester war, porträtiert der feingliedrige Schauspieler mit all seinen Widersprüchen. Leicht springt er über die Bühne, singt sich seine Ängste von der Seele und geht doch seinen Weg. Mit flüchtigen Blicken und unsicheren Gesten verrät er den Schmerz transgeschlechtlicher Menschen in einer Gesellschaft, die es nicht gelernt hat, ihr Anderssein zu respektieren. Zugleich macht dieses Coming-out Mut, zur eigenen Identität zu stehen.
Erschienen am 23.1.2023