Theater der Zeit

Theaterkünstler*innen

Verschlungen vom Theater

André Kaczmarczyk rockt als Schauspieler und Regisseur das Düsseldorfer Schauspielhaus. Seit Neuestem ist er auch Fernsehkommissar im „Polizeiruf 110“ in Frankfurt (Oder)

Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)

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André Kaczmarczyk in der Inszenierung „Macbeth“ in der Regie von Evgeny Titov am Düsseldorfer Schauspielhaus. Foto Thomas Rabsch
André Kaczmarczyk in der Inszenierung „Macbeth“ in der Regie von Evgeny Titov am Düsseldorfer Schauspielhaus.Foto: Thomas Rabsch

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Lady Macbeth ist tot. Einfach umgekippt, nicht von den Mauern des Schlosses Dunsinane gesprungen. Sie ist deutlich älter als Macbeth, mehr Mutter als Ehefrau. Er steht direkt daneben, ein schmaler junger Mann, der die einzige Person verloren hat, die ihm noch geblieben ist. Der Schauspieler André Kaczmarczyk hebt langsam die Arme. Es wirkt, als wolle er ein unsichtbares Instrument spielen, einen Kontrabass. Dann scheint er zu tanzen, erst mit dem Geist der Lady, dann mit sich allein. Es gibt keine Musik zu dieser Szene, und das ist großartig. So liegt alle Aufmerksamkeit auf diesem Mann, der alles verloren hat. Und man sieht, wie er reagiert, rein körperlich, ohne dass sich der Tanz klar deuten ließe. Ein großer Theatermoment.

„Das ist wie ein Übertritt in den Wahnsinn, den man gar nicht anders zeigen könnte“, sagt André Kaczmarczyk im Gespräch. „Der Tanz entsteht an jedem Abend neu.“ Eine Choreografin war hier nicht im Spiel. Die Bewegungen kommen aus dem Inneren, sind Ausdruck purer Emotion und deshalb auch unvorhersehbar. André Kaczmarczyk lässt sich auf so etwas ein, völlig natürlich, ohne einen Anflug von Scheu. Das macht sein Spiel bei aller Virtuosität so offen und faszinierend. Er ist einer dieser wenigen Spieler, die in jeder Rolle zum Protagonisten werden. Weil auch in kleinen und stillen Momenten zu spüren ist, dass ihnen eine unerschöpfliche Vielzahl an Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung steht. Gert Voss war auch so einer.

Seit sechs Jahren arbeitet André Kaczmarczyk am Düsseldorfer Schauspielhaus, vorher war er seit 2011 mit Intendant ­Wilfried Schulz in Dresden. Obwohl er längst so etwas wie ein Star des Hauses ist, macht er sich nicht rar. Im Gegenteil, in den vergangenen Jahren hat er fast unermüdlich gearbeitet. Als Erich Kästners „Fabian“, als „Caligula“ von Albert Camus, auch im ­Jugendstück „Auerhaus“ von Bov Bjerg, als schillernder Valentine in David Bowies „Lazarus“-Musical oder als Loge open air auf dem Gustaf-Gründgens-Platz vor dem Schauspielhaus in einer etwas braven und breiten Neuerzählung des „Rheingold“.

Erst saß man sie ab, die bemühte Mythe, bis der Gott des Feuers auftrat, Loge mit roten Augenlinsen und rötlichem Mantel. Schon das Kostüm war eine Schau, doch André Kaczmarczyk verließ sich nicht darauf. Er tänzelte mit den Worten wie mit dem Körper, zog die Strippen nicht nur, sondern verdrehte und ver­knotete sie lustvoll, am Ende folgten alle seinen Vorgaben. So könnte er auch einen Mephisto anlegen, der Gustaf Gründgens das unreine Wasser reichen könnte.

André Kaczmarczyk spielt nicht einfach nur Rollen, er definiert sie. So geschieht es nun auch im „Macbeth“. Kein kerniger Feldherr steht da auf der Bühne, der sich erst das Blut der frisch geschlachteten Feinde von den Schultern duschen müsste. Sondern ein unsicherer Junge, der völlig verwirrt ist, weil ihm drei seltsame Gestalten etwas über seine Zukunft erzählen. Eine Zukunft, die mit großer Macht zu tun hat, sogar mit der Königs­krone. Selbst als ihm seine mütterliche Lady (Manuela Alphons ist fast 40 Jahre älter als Kaczmarczyk) ihre Ziele unzimperlich klarmacht, hat dieser Macbeth kindliche Züge. Er wirkt fast, als wolle er lieber eine Spielzeugeisenbahn als Englands Thron.

„Macbeth rutscht von einem Zustand der Unschuld in ­einen der Schuld“, sagt André Kaczmarczyk über seine Rolle. „Wa­rum das passiert, wird im Einzelnen gar nicht so klar beantwortet. Das ist auch gut so.“ Der 36-Jährige hört im Gespräch genau zu, interessiert sich dafür, was der andere gesehen hat, stellt Nachfragen. Seine Antworten bleiben manchmal ungenau. Er formuliert die Grundthesen der Inszenierung, natürlich setzt er sich auch sehr intellektuell mit den Stücken und Rollen auseinander. Doch wie am Ende Kunst entsteht, ist ein Geheimnis und soll es bleiben: „Das ist doch das Merkwürdige im Leben und im Theater. Vieles ist irrational und bleibt unerklärbar. Mir ist vieles rätselhaft, und warum sollte es dann in einer Figur und im Theater anders sein?“

André Kaczmarczyk ist auch Regisseur. Er hat in Düsseldorf einige musikalische Abende inszeniert. Mit Songs verbinden die meisten im Publikum eigene Bilder und Erinnerungen. „Ich arbeite gern mit Musik und Tanz“, sagt Kaczmarczyk, „weil eine Bewegung oder eine Melodie unmittelbarer ist als die Sprache.“ Und für Shakespeare und David Bowie, für Deep Purple oder Hans Fallada (in dessen „Kleiner Mann, was nun?“ Kaczmarczyk gerade den Pinneberg spielt) gilt: „Es gibt nicht die eine Interpretation, sondern immer nur eine Möglichkeit von vielen. Die Suche nach einer letztgültigen Wahrheit funktioniert in unserer Zeit wahrscheinlich ohnehin nicht mehr.“ In diesem Geist hat André Kaczmarczyk gerade Virginia Woolfs „Orlando“ inszeniert. Die schillernde Geschichte eines Mannes, der jahrhundertelang lebt und zwischendurch das Geschlecht wechselt, von Liebe und Vergehen, von Freiheit und Unterdrückung kommt als opulent ausgestattetes Totaltheater auf die fast platzende Bühne des kleinen Hauses. „Da sind alle Diskurse unserer Zeit drin“, erläutert Kaczmarczyk. „Aber es hat mich nicht interessiert, diesen Stoff mit diskursiven Mitteln zu verhandeln. Es sollte ein überbordendes Feuerwerk von Bildern, Kostümen, Klängen und Worten sein, ein ästhetischer Ausfluss sozusagen. Ich finde, das ist sehr nahe an Virginia Woolf. Sie verirrt sich ja auch beim Schreiben, findet wieder zurück, verliert sich wieder.“

Der Abend hat Schwächen. Die von Matts Johan Leenders komponierten – und von Kaczmarczyk getexteten Songs – bleiben wummernd-glitzerndes Beiwerk ohne Eigenleben, manche Rollen wirken grotesk überdreht, ohne dass ein Hintergrund zu erkennen wäre. So schleichen sich Längen in die dreistündige Aufführung. Aber es ist auch eine Vision zu spüren, eine ungebremste Theaterlust, wie sie in Zeiten einer diskursiven Dominanz selten geworden ist. „Inszenieren macht mir Freude und große Lust, das Suchen und Finden einer Form und Ästhetik. Ich lerne ja viel ­dabei und stehe auch noch ganz am Anfang davon“, sagt André Kaczmarczyk. „Natürlich inszenieren Schauspieler anders als Leute, die auf einer Regieschule waren. Ich glaube, das kann eine Bereicherung sein. ‚Orlando‘ ist verspielt und nicht auf eine bestimme These zugespitzt. Diskurse müssen anklingen auf der Bühne, aber ich möchte sie dort nicht akademisch durchdiskutieren. Mir geht es ums Spiel auf ganz verschiedene Weisen.“

Das Spiel. Immer wieder das Spiel. Der Mann will wirklich spielen. Spiel als Leidenschaft und Lebensinhalt. Um den Rätseln näherzukommen im Wissen, dass man sie nie lösen kann. Wie entsteht so eine absolute Hingabe an das Spiel? „Da gilt die alte Plattitüde: Ich wusste das schon immer. Als Kind war ich mal im Zirkus und wollte dorthin gehen. Die Welt hat mich verschlungen. Dann war ich zum ersten Mal im Theater. Dieser Raum, in dem vor meinen Augen etwas passiert, das nicht real ist, hat mich fasziniert. Da hab ich gespürt, da will ich hin, da will ich immer sein.“ Die Familie und die Freunde haben das akzeptiert. „Das ­haben alle mit misstrauischem Blick angeguckt, aber mich konnte niemand davon abhalten. Das war halt so. Das ist so.“

In einem anderen Interview hat André Kaczmarczyk von seiner Jugend in Thüringen erzählt. Von seinem aus Polen stammenden Vater, der die Familie verlassen hat, dem Stiefvater, einer „typischen Nachwende-Absteiger-Geschichte“, dem Lebensgefühl der allgemeinen Abwicklung in Eisenach, wo die Schauspielsparte des Theaters eingestellt worden war. Und von dem freien eise­nacher burgtheater, das seine erste Spielstätte wurde.

Diesmal hat er keine Lust auf die Erzählung seiner Lebensgeschichte. Wir treffen uns auf Distanz, per Videokonferenz. ­Kaczmarczyk hat’s gerade erwischt. Positiv getestet. Keine Symptome, eine Woche lang putzmuntere Isolation. Für jemanden wie ihn ist das besonders schwer. Für jemanden, der sagt: „Ich kann keinen Tag rumlaufen, ohne über Kunst und Theater nach­zudenken, was das soll, warum man das alles macht. Ich bin da völlig verschlungen mit dem Theater.“ Den Begriff „verschlungen“ hat er schon einmal benutzt, in einer anderen Bedeutung. Als Kind war es der Zirkus, der ihn verschlungen hat. Nun ist er aktiver Teil der Kunstwelt, mit ihr verschlungen.

Theater als Zufluchtsort aus den Zumutungen des Lebens? André Kaczmarczyk kann mit dem Begriff viel anfangen. „Das Theater war und ist für mich ein Zufluchtsort. Obwohl Theater so viel mit der Realität zu tun hat, genieße ich es auch, dass es ein Ort des Irrealen ist, ein Fluchtraum vor ich weiß nicht was. Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht, warum das so ist. Ich fühl mich im künstlichen Raum realer als im realen Raum. Das ist irgendwie strange, daran hätten Psychoanalytiker bestimmt ihren Spaß. Oder ihre liebe Mühe.“

In einer Rolle, die ihn wohl viele Jahre lang begleiten wird, spielt André Kaczmarczyk nun einen Mann, der Psychologie studiert hat. Oder eine Frau? Ganz klar ist das nicht, denn Vincent Ross, der neue Kommissar im „Polizeiruf 110“, kleidet und schminkt sich völlig selbstverständlich feminin. Eine neue Figur im Sonntagabend-Krimi, passend, dass die beiden Kommissare – neben Kaczmarczyk spielt Lucas Gregorowicz ein Paradebeispiel heteronormativer Männlichkeit – grenzüberschreitend ermitteln, in Frankfurt an der Oder und dem polnischen Słubice.

Oft wirken Schauspieler:innen an solchen Rollen, die sich über viele Jahre hinweg entwickeln, mit. „Es gab einige Gespräche, was da passieren soll“, erzählt André Kaczmarczyk. „Ich hatte wenig Interesse, einen stereotypen Bullen zu spielen, und wollte einen neuen Angang finden, einen Kriminalfall zu lösen. Die Idee stammte dann von den Autoren. Die Redaktion hat das unter dem Begriff ,genderfluid‘ gelabelt, was auch immer das genau dann bedeutet. Wie sich die Figur entwickelt, steht noch nicht fest, die weiteren Drehbücher werden ja erst noch geschrieben. Und letztlich ist es auch nur ein Merkmal der Figur unter vielen anderen.“

Figuren zwischen den Geschlechtern, auch klare Frauenrollen, hat André Kaczmarczyk schon öfter gespielt. „Das Vermischen und Verrühren, vielleicht auch das Auflösen von stereotypen Bildern finde ich spannend. Das Spiel mit Geschlechtergrenzen öffnet Räume und Möglichkeiten.“ Neue Möglichkeiten bietet nun auch die wachsende Fernsehpopularität. Da werden einige Angebote kommen von Menschen, die Kaczmarczyk bisher nicht auf dem Schirm hatten. Und wahrscheinlich reißen sich ohnehin schon die großen deutschsprachigen Bühnen um ihn. Der Schauspieler lächelt: „Die Leute rufen nicht jeden Tag an und fragen, ob ich nicht endlich ans Deutsche Theater kommen will. Ich habe mich zur nächsten Spielzeit entschieden, meinen festen Vertrag in Düsseldorf zu beenden, ich brauche etwas mehr Freiraum, auch für den ‚Polizeiruf‘, da bieten sich auch andere Möglichkeiten.“

Bisher hat es ihn nicht danach gedrängt, Düsseldorf zu verlassen. „Ich habe versucht, mich in den vorhandenen Strukturen neu zu suchen. Ich habe mich gut aufgehoben gefühlt, viele Möglichkeiten bekommen, habe interessante Regisseurinnen und ­Regisseure kennengelernt. Man kommt irgendwann an einen Punkt, an dem man auch etwas anderes ausprobieren möchte. Nicht weil ich unzufrieden wäre, sondern um weiterzukommen.“

In Düsseldorf wird er wieder inszenieren und seine Rollen weiterspielen. Und ansonsten sehen, was passiert. Dass ihm die Welt des Theaters und vielleicht auch bald des Films offensteht, weiß André Kaczmarczyk. Aber er sagt es nicht. Er ist ein zurückhaltender Mensch. Ein Spieler, kein Selbstdarsteller. Auf der Bühne eine Wucht, privat zurückhaltend. Gibt er eigentlich gern Interviews? Er macht eine Pause, bevor er antwortet: „Man soll nicht zu viel sagen. Die Menschen sollen sehen, was sie sehen. Ich habe aber auch nichts dagegen, darüber zu reden. Es wäre albern, sich zu zieren. Aber ich möchte gar nicht so viel preisgeben über das Entstehen der Dinge. Manche Sachen müssen bei einem bleiben und einem gehören, ohne dass das Teil der Öffentlichkeit ist.“

André Kaczmarczyk sagt einen Satz, der typisch für ihn ist. „Es ist schwierig zu erklären.“ //

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