Protagonisten
Eine Bombe zum Kaffee?
Unter der neuen Intendanz von Marie Rötzer twittern Politiker am Landestheater Niederösterreich ihren Leichtsinn in die Welt und ein Friedenschor wartet auf seinen Auftritt
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Akteure Landestheater Niederösterreich
Wer Josef Winkler für das Theater begeistern will, der muss schon in den Wörthersee steigen und auf den Schriftsteller zuschwimmen. Veronica Kaup-Hasler, Intendantin des Festivals steirischer herbst hat es getan, und damit 2015 in Graz mit „Specter of the Gardenia“ den ersten Theatertext Winklers sprichwörtlich an Land gezogen. Das zweite Theaterhaus in Österreich, das einen Text von Josef Winkler auf die Bühne brachte, war nicht das Burgtheater (dessen Auftragswerk an den Autor erst im November Premiere hat), sondern das Landestheater Niederösterreich. Eine Dramatisierung der Erzählung „Roppongi“ erlebte im vergangenen Januar dort in St. Pölten seine Uraufführung. Es wurde ein schöner, kleiner Abend voller pfeilgenauer Sprechakte und gesundem Respekt vor der bildgewaltigen Kraft des Textes, den Regisseurin Julia Jost umgesetzt hatte. Das Landestheater Niederösterreich, seit Anfang der Spielzeit von Marie Rötzer geleitet, war im Fall Winkler also ganz vorne mit dabei. Nicht das einzige Indiz dafür, dass das Haus einen guten Lauf hat.
Das Landestheater hat sich in den letzten Jahren neben Graz und Linz zur drittwichtigsten Landesbühne außerhalb Wiens entfaltet, beginnend vor allem mit der Intendanz von Bettina Hering 2012. Schon deren Vorgängerin Isabella Suppanz setzte wichtige Aufbauarbeit in Gang, darunter einen handverlesenen Gastspielbetrieb, der dann unter Hering exponierte Regiehandschriften von unter anderem Herbert Fritsch, Luk Perceval und Karin Henkel nach St. Pölten brachte. Hering hatte nicht zuletzt Regisseurinnen programmatisch gefördert sowie dem Haus frische Sichtweisen auf Klassiker erschlossen. Seit Spielzeitbeginn liegen die Geschicke nun in der Hand von Marie Rötzer, einer Heimkehrerin. Die gebürtige Niederösterreicherin war nach Stationen in Berlin, Zürich, Graz und Mainz zuletzt im Leitungsteam am Thalia Theater Hamburg tätig, bevor sie im Herbst als Intendantin in die von Wien mit der Bahn nur zwanzig Minuten entfernt liegende niederösterreichische Landeshauptstadt wechselte. Hier hatte sie ihre berufliche Laufbahn einst als Dramaturgin begonnen. Rötzer möchte das Haus nun noch weiter öffnen und von dezentralen Orten auf das Publikum zugehen, das heißt, über die Türschwelle des Hauses hinaustreten und temporäre Spielstätten erobern, in Wirtshäusern, an Hauptplätzen oder in Kulturvereinen auf dem Land. Dazu gehört auch die bereits von Hering eingeführte Bürgerbühne. Was ihr am Theater ein Anliegen ist und was es leisten sollte, formulierte Rötzer anlässlich ihres Amtsantritts in einem Interview: „Theater kann ein Ort der Begegnung sein, wo man sich mit seinen Ängsten oder Traumata wiederfindet und sich einem Perspektivwechsel aussetzt, fast wie in einer Therapie.“
Im Bogen der bisherigen Premieren nimmt sich die Auftaktinszenierung von Ilija Trojanows Romandebüt „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ formal eher zaghaft aus. Der bosnisch-österreichische Musiker Sandy Lopičić, der viele Male an der Seite Dimiter Gotscheffs gearbeitet hat, arrangiert Ideen aus Trojanows biografisch grundiertem, tragikomischem Exilmärchen als Revue und verlässt sich allzu sehr auf die Magie der mit Erinnerungen vollgeräumten Drehbühne. Was dramaturgisch immer wieder durchzuhängen droht, erzeugt schlussendlich aber eine eigentümlich wehmütig-irreale Atmosphäre, die das Lebensgefühl im Roman feierlich heraufzubeschwören vermag.
Eine entschiedene ästhetische Setzung fand hingegen Alia Luque für Franz Grillparzers „Das goldene Vlies“. Die katalanische Regisseurin hatte bereits im Vorjahr mit der Dorfstudie „die hockenden“ von Miroslava Svolikova am Burgtheater eine in ihrem formalästhetischen, choreografischen Kalkül überaus beeindruckende Arbeit hinterlegt. „Das goldene Vlies“ nun, das im Kindsmord gipfelnde mythologische Triptychon (bestehend aus „Der Gastfreund“, „Die Argonauten“ und „Medea“), besticht durch die radikale Reduktion auf abstrahierte Sprechakte. Es sind nicht zwangsläufig „Menschen“, die aus Jason, Medea & Co sprechen, sondern Prinzipien und ihre Handlungsmuster. Die Figuren tragen hautenge Latexkleidung, die schmerzlich quietscht, wenn sie einander zu nahe kommen und sich berühren – ein augenfälliges Sinnbild für die möglichen Reibungsverluste zwischen den Protagonisten sowie für die Spuren, die der Machtanspruch des einen am anderen unmittelbar hinterlässt. Das alles fasst Luque in eine strenge Choreografie ein, in deren Spannungsfeld sich auch das Vlies – abstrahiert in Gestalt des Tänzers Milan Loviška – stets mitbewegt.
Der Spielplan ist gut abgemischt. Alan Ayckbourn („Schöne Bescherungen“) steht neben Hakan Savaş Mican („Die Eroberung des goldenen Apfels“), William Shakespeare („Wie es euch gefällt“) neben Michel Decar. Dessen neues Stück „Schere Faust Papier“ hatte nach der Uraufführung durch Ersan Mondtag am Thalia Theater Hamburg nun Ende April österreichische Erstaufführung in St. Pölten. Die 120 Plätze fassende Werkstattbühne (Haupthaus: 357) wurde mittig durch einen Plexiglaskubus geteilt, in dem vier extraterrestrisch-lasziv gekleidete, scheinbar enorm mächtige Figuren wie in einem unernsten Spiel das gewalttätige, zuweilen historische Weltgeschehen kommentierend durchexerzieren. Eine Exposition, aus der Regisseur Matthias Rippert ein bemerkenswertes Gespenstertheater macht. Das Stück passt hervorragend in eine prinzipienschwache Welt, in der via Twitter Weltpolitik gemacht wird und Dreiwortsätze die Wähler am meisten überzeugen, wobei das Gesagte im nächsten Moment schon gar nicht mehr wahr ist, und auch das ist wiederum egal. Diese inhärente Gleichgültigkeit bedecken die vier Kriegstreiber (oder bösen Geister der Geschichte?) mit berechnend-falscher Herzlichkeit und oberflächlichem, ablenkendem „Talk“ ohne jedwedes Gewicht. Rippert arrangiert sie unschuldig im Raum, lässt sie zwischen Bombardements zum Kaffeeautomaten gehen. Das Ineinandergreifen von Leichtsinn und todernsten Manövern halten die vier Schauspieler wohltemperiert in der Schwebe. Kaum fühlt man sich von ihren gütigen Gesten beruhigt, gestehen die vier Glam-Krieger die von ihnen angeordneten Hinrichtungen. Die Inszenierung schreitet diesen Grat präzise ab, sodass man Spiel und Ernst immer nah beieinander zu denken hat.
Auf ein konkretes historisches Ereignis bezieht sich der deutschtürkische Regisseur Hakan Savaş Mican in seinem Rechercheprojekt „Die Eroberung des goldenen Apfels“: auf die Zweite Türkenbelagerung Wiens von 1683. Diese dient als Referenzpunkt für die vor allem von populistischen Politikern gern im Mund geführte Bezeichnung der „Dritten Türkenbelagerung“ für die migrantische Bevölkerung. Damit, Mican – derzeit Hausregisseur am Maxim Gorki Theater Berlin – nach St. Pölten zu holen, bekräftigt Rötzer das Bekenntnis zu einer internationaleren Ausrichtung des Hauses. „Ich möchte Künstler am Haus haben, die unsere diverse Gesellschaft abbilden“, sagte sie vor ihrem Antritt. Mican geht es in seinem Projekt, das im Haupthaus läuft, darum, den Zustand einer gesellschaftlichen Stagnation festzumachen. Das mit Ko-Autor Emre Akal entwickelte Stück spielt in der Kantine eines großen Theaters, in dem auf der Hauptbühne eine Operette zur Türkenbelagerung gegeben wird. Backstage wartet ein europäischer Friedenschor scheinbar vergeblich auf seinen Auftritt.
Ob Marie Rötzer durch eine Zusammenarbeit mit den prosperierenden Theaterszenen der Nachbarländer Ungarn, Slowenien oder auch Serbien – auch das hatte sie angekündigt – ein neues Publikum erschließen kann, wird sich in der nächsten Spielzeit zeigen. //