Uckermärkische Bühnen Schwedt: Sex im F8
„Die Legende von Paul und Paula“ von Ulrich Plenzdorf in einer Spielfassung von Benjamin Zock – Regie André Nicke, Musikalische Leitung Tom van Hasselt, Ausstattung Stephanie Dorn, Choreografie Jason Sabrou
von Thomas Irmer
Assoziationen: Brandenburg Theaterkritiken Ulrich Plenzdorf André Nicke Uckermärkische Bühnen Schwedt
Nun ist aus dem Stoff für den DEFA-Film „Die Legende von Paul und Paula“ in Schwedt auch noch ein pralles Feelgood-Musical geworden, das gekonnt alle Register zieht auf der großen Bühne des einst für das Petrolchemische Kombinat errichteten Kulturhauses. Riesenjubel, nachdem schon etliche Szenen und Songs mit Zwischenapplaus bedacht worden waren. Eine Sensation in der Uckermark.
Die Geschichte von Paul und Paula hat in über fünfzig Jahren schon verschiedene Gattungen durchreist. Nach dem Film mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder und den gut zu Klassikern gealterten Liedern der Puhdys schrieb der Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf einen die Filmhandlung nochmal und weiter erzählenden Roman. Der Autor ließ mit „Legende vom Glück ohne Ende“ ein Theaterstück folgen, das 1983 an dieser Bühne uraufgeführt wurde, die jetzt Benjamin Zocks Bearbeitung als „Schauspiel mit Musik“ zeigt. Durchaus mit dem theaterhistorischen Bewusstsein von jener frech-subversiven Inszenierung Freya Kliers, die Plenzdorfs Lebensgefährtin Ute Lubosch als Schauspielerin gleichsam als Deal mit der Zusage für einen Jenny-Marx-Abend mit der Theaterleitung damals aushandelte. Lubosch spielte eine großartige Paula, doch was die Kulturaufpasser damals stresste, war ein erkennbar für die Staatssicherheit agierender Paul. Richtig verbieten konnten die Funktionäre es nicht mehr, doch man verfiel auf die wohl einmalige Begründung, dass nach zehn Vorstellungen alle interessierten Schwedter das Stück gesehen hätten, und setzte es vom Spielplan ab.
Ein solches Schicksal dürfte der jetzigen Produktion nicht bevorstehen, die Vorstellungen sind bereits bis ins Frühjahr 2025 geplant. Sie wie hier eingangs als Musical zu labeln, ist nur der Form nach richtig. Denn es gibt keine original komponierte Musik für Figurengesang, sondern originell ausgewählte Musik. In Analogie zum Fremdtext-Verfahren wird neben „Geh zu ihr“ und „Wenn ein Mensch lebt“ von den Puhdys eine ganze Palette von Liedern aufgefahren, die von „Heißer Sommer“ und Veronika Fischer als Hit-Material jener Paula-Zeit bis zu Elton John und Brecht/Eislers „Kinderhymne“ reicht.
Die Bühne von Stephanie Dorn zeigt unter einem Plateau für die fünfköpfige Band Tom van Hasselts eine Art Neubauhof mit schiefen Wänden, aus denen sich Wohnzimmer, Paulas Kaufhallen-Pfandflaschentresen und eine Garage klappen lassen. In der steht Pauls DDR-Oldtimer F8, der noch wie ein Auto aus den 1930er Jahren aussieht und hier für einen ersten Höhepunkt als Liebesnest dient: Bei ihr sind die Kinder zuhause, bei ihm die Gattin, also ab in die Karre, die dann wohlig wackelt und mit den Scheinwerfern blinzelt.
Katharina Apitz ist eine noch sehr mädchenhafte Paula als Mutter zweier Kinder, mit heutigem Begriff: Alleinerziehende. Auch Benjamin Schaups Paul wirkt eher jugendlich und noch wenig in der Klemme seiner Berufslaufbahn, die Plenzdorf für ihn erfunden hat. Aber das kommt der musicalhaften Anlage eher entgegen und lässt doch den Hintergrund der Entstehungszeit dieses ungleichen Paars als Romeo und Julia in Ost-Berlin nicht vergessen. Bedingungslose Liebe oder Staat, Ordnung, Armee? Bumsen und picheln anstatt hämmern und sicheln, übersetzten das DDR-Hippies damals zu Neil Young und Wermut. Das ist nicht nur Erinnerung, wie der aus Plenzdorfs Dramatisierung in diese Fassung geholte Erzähler mit der Bezeichnung „meine Person“ dem Publikum erklärt, den Fabian Ranglack als liebevollen Conférencier gestaltet. Das ist für heute anschlussfähig und sowieso eine Frage für immer und ewig.
Falls man als Kritiker wirklich Vibes im Publikum fühlen und interpretieren kann, geht dieses hier nicht nur über einen flauschigen Teppich der Nostalgie, sondern beschäftigt sich auch mit der Frage, warum ist das, was war, heute das, wie es war. Da transzendiert dieser offenbar immer neu auszureizende Stoff in der aufs Ganze gelungenen Regie des Intendanten André Nicke zu den großen Fragen jenseits von Ostfrust und Mitklatschlust. „Wenn ein Mensch lebt“, Ulrich Plenzdorf nutzte Bibelzitate für diesen Song der Puhdys, erreicht eben nicht nur die Qualität eines guten Musicals in diesem Schauspiel mit Musik. Das Lied übertrifft sie mit seiner einfachen, geradezu fabelhaften Leonard-Cohen-Gültigkeit. Im wahrsten Sinne des Wortes: Ein ganz großes Vergnügen.
Erschienen am 4.10.2024