Theater der Zeit

Auftritt

stellwerk Weimar: Der Teufel aus dem Reclamheft

„Faust – eine Tragödie“ von Johann Wolfgang von Goethe – Künstlerische Leitung Till Wiebel, Bühne Philipp Münnich und Till Wiebel, Kostümschneiderei Anna Wiebel

von Michael Helbing

Assoziationen: Theaterkritiken Thüringen Stellwerk Weimar

 Melanie Hultsch in „Faust - Eine Tragödie“ am Stellwerk - junges theater, unter der Künstlerischen Leitung von Till Wiebel Foto: Stellwerk junges Theater
Melanie Hultsch in „Faust - Eine Tragödie“ am Stellwerk junges Theater Weimar, unter der Künstlerische Leitung von Till WiebelFoto: Stellwerk - junges theater

Anzeige

Anzeige

Als Hasko Weber in Weimar noch ante portas stand, sprach er in Kameras und Mikrofone, im Grunde könne man Goethes „Faust“ im hiesigen Nationaltheater jährlich neu inszenieren. Das nahm Bezug auf dessen kulturtouristische Dimension ebenso wie den ganzen Kreis der Schöpfung, den ganz und gar auszuschreiten noch keiner einzelnen Inszenierung gelang. Dann eröffnete der Regisseur Weber, vor nun bald zehn Jahren, mit der Tragödie erstem Teil seine Intendanz. Das ging binnen fünfeinhalb Jahren 109 Mal über die Bühne – mittlerweile hatte Weber auch Teil zwei inszeniert – bevor, ein Vierteljahr nach der Dernière, ein neuer „Urfaust“ folgte, von Tobias Wellemeyer. Pandemiebedingt lag die Inszenierung bald brach; zuletzt diskutierte man im Haus „lautstark“, so der Intendant, ob man sie wieder aufnehmen oder doch gleich der Tragödie ersten und zweiten Teil absehbar neu in Angriff nehmen soll.

Jedenfalls gibt’s gerade seit längerem keinen großen „Faust“ in Weimar, dem Ort seiner Entstehung, wenn auch nicht so ganz seiner Uraufführung. In diese Leerstelle hinein platzte vergangenes Jahr die Nachricht, in Bayerns Gymnasien werde das Stück absehbar keine Pflichtlektüre mehr sein. Umgehend schrieb die Präsidentin der Klassik-Stiftung Weimar, Ulrike Lorenz, einen offenen Protestbrief an Ministerpräsident Markus Söder. Zwischenzeitlich stellte sich aber heraus, dass es sich in den meisten anderen Bundesländern längst auch schon so verhält. Aus Gründen.

Und nun spielen sie ausgerechnet im Stellwerk, Weimars Jungem Theater mit Spielstätte im Hauptbahnhofsgebäude, „Faust - eine Tragödie“. Vor anderthalb Jahrzehnten gab‘s hier zuletzt einen zwar frischen, vergleichsweise jedoch konventionellen „Urfaust“ zu sehen. Seitdem hat sich diese kleine Bühne, in der Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene professionell angeleitetes Theater machen, allerdings stark gewandelt. Sie kommt inhaltlich wie ästhetisch heute entschieden zeitgenössisch und zeitkritisch daher sowie zumeist mit eigenen Stückentwicklungen.

Da fällt ein „Faust“ doch sehr aus dem Rahmen. Und das soll er dann auch. Und das tut er dann auch.

Dabei ist der Titel der Aufführung durchaus nicht gelogen. Der Untertitel, „eine Inszenierung für Schulklassen“, ebenso wenig. Beides ist nur eben anders gemeint als man meinen mag. Wir sehen keine Tragödie um Heinrich und Gretchen, wir sehen die - allerdings oft sehr lustige - Tragödie dieser Tragödie, die unter ihren vielen Zuschreibungen fast verschwunden schien. Wir sehen, was die einen zwar als Mogelpackung und Zumutung empfinden mögen, andere aber als Offenbarung und Entlastung begreifen werden.

Und wir sehen, was in einer „Faust“-Aufführung höchst selten vorkommt: tatsächlich einen Pudel, auf der Leinwand. Des Pudels Kern ist dann immer noch der Geist, der stets verneint. Nur heißt er nicht Mephisto; den gibt‘s gar nicht mehr. Er heißt vielmehr: Goethes Faust - der Klassiker. Der ist hier der Teufel, der aus dem gelben Reclam-Heft emporsteigt und nur das eine will: unsere Seele.

„Ich bin“, so ruft er uns zu, „das Stöhnen der Oberstufe, deine gymnasiale Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Lebensversicherung deines Deutschlehrers, …“  Außerdem: literarische Ikone, schauspielerischer Olymp, Bildungsstandard und Hochkultur. Der Schulausflug, die Klassenfahrt.

Was es heißt, „Faust“ vom (Weimarer) Sockel zu holen und heftig an seinem Nimbus zu kratzen, weiß erst, wer diese Aufführungen sieht: von und mit fünf Laien so um die Zwanzig, angeleitet und begleitet von Till Wiebel, Dramatiker sowie Dramaturg am Jungen Schauspielhaus Hamburg. Im Stellwerk hat er mit einem Ensemble bereits „Schwanensee“ auseinandergenommen und, laut Beschreibung, einen politischen Gegenentwurf zur klischeehaften Inszenierungstradition des Tschaikowsky-Balletts abgeliefert: „die Untersuchung eines Klassikers, der mit seiner Uraufführung irgendwo im 19. Jahrhundert stecken geblieben zu sein scheint.“

Für den „Faust“ mussten, der Hamburger Verpflichtungen wegen, nun drei Probenwochen reichen. Sie reichten, was die Spiel- und Sprechweisen angeht, nicht ganz. Die unterschiedlichen Textsorten und -ebenen etwa hätten verschiedene Tonlagen verdient gehabt. Da ist also noch Luft nach oben.

Und doch ist‘s alles in allem ein ganz und gar furioser Siebzig-Minuten-Abend geworden, der sehr heiter und doch auch mit heiligem Ernst ein Denkmal stürzt, der es dekonstruiert, aber nicht zertrümmert, ihm auf die Füße tritt, aber nicht auf ihm herumtrampelt.

Letztlich sehen wir in dieser Inszenierung, die kaum Figuren kennt, aber einige Parodien, die eine Gruppe formt und auch einen Chor, eine gegenwärtige Hassliebesgeschichte. „Faust“, das Stück, der Text, die Szenenfolge ist ihnen Ausgangs- und auch Haltepunkt. Sie entfernen sich oft sehr weit davon: Es ist die einzige Möglichkeit, sich mal wieder vorsichtig anzunähern.

Den Weltschmerz, die Frage nach dem Sinn des Lebens, Liebens und Lernens, dieses Sehen, dass wir nichts wissen können, überschreiben und überlagern sie zeitgenössisch im Text, in der Musik und auch optisch: auf einer lässig, fast nachlässig gehängten Leinwand, die allerdings ein Vorhang ist, vor der Hauptbühne als Greenscreen mit Livekamera. So stehen und spielen sie plötzlich im Himmel und auf Weimars Gassen, geben sie Faust, Mephisto und Goethe ihre jugendlichen Gesichter. Das ist gleichsam ihre Hexenküche.

Und ihr Kerker gehört Faust. Alter Mann verführt Minderjährige? „Der Typ gehört in den Knast, nicht ins Zentralabitur!“  Und Nein heißt übrigens Nein! Ein wütender Klagechor im Finale. Eine Abrechnung. Tabula rasa. Und plötzlich „keine Angst mehr, mich selbst in ihm zu suchen“, in Faust, in Goethe. So geben sie dieser verfahrenen Beziehungskiste eine zweite Chance.

Gewissermaßen spielen sie hier der Tragödie dritten Teil. „Faust“ wird darin gerichtet, gerettet aber auch.

Erschienen am 2.3.2023

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"