Erster Teil. Die Vormoderne. IV. Das Widersprüchliche der Dinge
Tanzende Totengeister im Südwesten Nordamerikas
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Assoziationen: Nordamerika
Indigene Gesellschaften des amerikanischen Südwestens (Hopi und Zuni) dachten/denken und leben das aktive Zusammenspiel des wahrnehmbar Irdischen mit dem Wirken nichtirdischer, übernatürlicher Kräfte theatral. Ihre vom mythischen Begreifen der Welt bestimmten Performances sollen ihre profanen Lebens- und Arbeitsbedingungen, die auf dem Anbau von Mais als Hauptnahrung beruhen, kreativ formen.
Hopi-Gemeinschaften leben unter sehr dürftigen Bedingungen. Sie behandeln das Land/die Natur nicht im Geiste der Ausbeutung, sondern der Gegenseitigkeit. Naturgesetze sind für sie die Basis menschlicher Gesetze. Die aktive Beziehung zwischen der Natur und den Menschen sehen sie als ihre Lebensgrundlage. Traditionelle Hopi-Philosophie schreibt dem Menschen eine zielgerichtete, kreative Rolle im Universum zu, eine Rolle, deren Zentrum die Entwicklung des Willens ist. Des Menschen Wille spiele eine Schlüsselrolle für das harmonische und gerechte Funktionieren des ganzen Systems der Natur und der Menschenwelt.271
Im Zentrum der theatralen Aktivitäten stehen Katsina-Feste (auch Kachina-Feste). Als geschnitzte Puppen und als Masken-Tänzer stellen Katsina unterschiedliche soziale Typen dar, Clowns einerseits und menschengefährdende Gespenster (orgres) andererseits. Die Basis für jede Katsina-Verkörperung ist die Maske in Form eines umgestülpten Eimers. Etwa 25 Zentimeter hoch soll sie genau über den Kopf des Trägers passen und Gesicht und Hals bedecken.272
Katsina-Darstellungen manifestieren Kernpunkte der Hopi- (auch Zuni-)Weltsicht. Glieder einer langen Tradition, die nach Felszeichnungen bis ins 12. Jahrhundert reicht, sind Katsina geistige Vermittler zwischen der „Welt da unten“, unter der Erde, der mythischen „Urzeit“, den Göttern, die das Wetter kontrollieren, die Ernte und damit das Wohlgedeihen der Hopi, und dem Diesseits. Sie verkörpern Götter, die zwischen Dezember und Juli die Menschenwelt besuchen. Aus der Unterwelt kommend, zeigen sie den Ursprung der Hopi, der Menschheit überhaupt, die, den mythischen Denkfiguren gemäß, aus der Unterwelt kamen und als Tote wieder dahin zurückkehren. So sind Katsina auch Geister der Toten, nicht individueller Toter, sondern der Toten generell, oder anders der Vorfahren, der Gründer von Clans und Häusern. Dies erklärt nicht zuletzt, warum die öffentlichen Auftritte der tanzenden Masken eine sehr weltlich-profane, „materialistische“ Dimension haben. Ausgerichtet von einzelnen Clans, Chefs oder Vorständen von Häusern auf dem zentralen großen offenen Platz (plaza) der jeweiligen Siedlungen, handeln sie gesellschaftliche Konflikte und die sozialen Positionen von Gruppen und Individuen aus.273
Die als existenznotwendig aufgeführten Feste/Rituale, die die gesellschaftlichen Ränge von Individuen, Großfamilien, Häusern groß ausstellen, sind meistens Ereignisse sehr irdischer Lustbedienung (Essen, Trinken, Geselligkeit). Ihre Katsina sind äußerst gefräßig, ihre Aktionen clownesk und nicht selten ganz offen obszön. Katsina-Aktionen sind so äußerst komische und satirische Faktoren in Ritualen, die Normative der Hopi- bzw. Zuni-Weltsicht und ihre bestehende soziale Struktur affirmativ ausagieren. Oft zielt(e) die Satire der Clowns auf Weiße und auf Hopi-Individuen.274
271John Collier: PATTERNS AND CEREMONIALS OF THE INDIANS OF THE SOUTHWEST. ILLUSTRATED BY IRA MOSKOWITZ, New York 1949, S. 58 – 68. Collier zitiert (S. 65ff.) aus dem Buch THE HOPI WAY (1944) von Laura Thompson zu den Winterzeremonien, zentriert um den Sonnentiefstand am 21. Dezember: Der ganze Zyklus sei sehr genau orchestriert, kombiniere verschiedene künstlerische Verfahren – rhythmische Bewegung, Gesang, Trommeln, mimische Darstellung (impersonation), Malerei.
272Richard Maitland Bradfield: AN INTERPRETATION OF HOPI CULTURE, Derby 1995, S. 54.
273E. Charles Adams: THE ORIGIN AND DEVELOPMENT OF THE PUEBLO KATSINA CULT, Tucson 1991, S. 12 – 15.
274Frederick J. Dockstader,: THE KACHINA AND THE WHITE MAN. THE INFLUENCE OF WHITE CULTURE ON THE HOPI KACHINA CULT, Albuquerque 1985 [1954], S. 19.
Vgl. dazu auch: Charlotte J. Friesbie: „Epilogue“, in: dies. (Hg.): SOUTHEASTERN INDIAN RITUAL DRAMA, Albuquerque 1990, S. 308: „Die charakteristischen dramatischen Effekte der Pueblos schließen Elemente des Humors, des Mimischen, der Burleske und der Personifizierung durch Clowns ein.“