Situationismus rückwärts
von Vera Ryser und Milo Rau
Erschienen in: Die Enthüllung des Realen – Milo Rau und das International Institute of Political Murder (11/2013)
Vera Ryser / Milo Rau
Vera Ryser Milo Rau, was kennzeichnet das Reenactment als distinktes Format?
Milo Rau „Reenactment“ ist ein weiter Begriff, und jeder verwendet ihn anders. Das geht von einem eher aktionistisch-politischen Verständnis des Formats über ironisch-postmoderne Mimikry-Formate bis zu einer technisch-reproduktiven Vorstellung, in der „historische Korrektheit“ eine große Rolle spielt. Wenn Nikolai Evreinov 1920 den „Sturm auf den Winterpalast“ reinszeniert als Allegorie auf den Sieg des Proletariats, dann hat das mit der peniblen Art und Weise, wie Romuald Karmakar das Format zum Beispiel in „Der Totmacher“ verwendet und schließlich den komödiantischen Reenactment-Szenen in „Be Kind Rewind“ von Michel Gondry fast gar nichts zu tun. Ja, dieses Format ist so weit und undefiniert, dass die Frage eher ist, ob es überhaupt eine sinnhafte künstlerische Geste gibt, die nicht in irgendeiner Weise ein „Reenactment“ ist.
Ryser Sie haben in einem Interview einmal gesagt, ein Reenactment sei wie Situationismus rückwärts. Können Sie das erläutern?
Rau Das ist ein Wortspiel, das zwei Dinge zusammenbringt, die für mich sehr zentral sind: Erstens, dass Reenactments Situationen herstellen, also keine toten Abbilder oder Reproduktionen sind, wie es das platonische Vorurteil will, sondern szenische Entscheidungszusammenhänge, die politischen und, was widersprüchlich wirken mag, durchaus auch utopischen...