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Große Fragen, nicht nur für junges Publikum
Das 3. jungspund Festival der Schweizerischen Kinder- und Jugendtheaterszene in St. Gallen
von Bettina Kugler
Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)
Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Schweiz

Wäre er echt, der nostalgische kleine Zirkus, in dem Julia Anna Sattler und Michael Finger von der Kompanie Cirque de Loin in der Eröffnungspremiere des jungspund Festivals als Kamel und Clown Abend für Abend die immergleiche Nummer präsentieren (bevor sie eines Tages beherzt ihrer Sehnsucht folgen) – er hätte wohl die vergangenen zwei Jahre nicht überlebt. Die Coronakrise ist an den wenigsten Theaterschaffenden im Rampenlicht und hinter den Kulissen spurlos vorbeigezogen; gerade der freien Szene haben die wochenlangen Schließungen, die wiederholten Verschiebungen und Absagen zu schaffen gemacht.
Insofern ist das noch junge, alle zwei Jahre in St. Gallen stattfindende Theaterfestival für junges Publikum als Szenetreff und Schaufenster des aktuellen Schweizerischen Kinder- und Jugendtheaters ein Glückskind. Die zweite Ausgabe war 2020 gerade noch vor dem ersten Lockdown über die Bühne gegangen. Die diesjährige dritte konnte am 17. Februar nach kurz zuvor gelockerten Schutzmaßnahmen starten: ohne Zertifikatspflicht, ohne Einschränkungen der Platzzahl und mit verschmerzbaren Ausfällen, zehn prall gefüllte Tage lang. Zwei Vorstellungen mussten kurzfristig abgesagt werden, „Die Mitte der Welt“ nach dem Roman von Andreas Steinhöfel – eine Produktion des Theaters St. Gallen, das als Festivalpartner die Lokremise als Spielstätte und attraktives Festivalforum zur Verfügung stellt –, war pandemiebedingt mit den Proben in Verzug geraten und fiel als zweite Festivalpremiere aus.
So blieben immer noch zwölf Produktionen für alle Altersgruppen ab vier Jahren, die meisten davon bislang noch kaum gespielt. Trotz schwieriger Umstände war die fünfköpfige Programmgruppe um Festivalleiterin Gabi Bernetta in der Coronazeit quer durch die Schweiz gereist und hatte aus mehr als 30 visionierten Aufführungen junger wie etablierter Kompanien eine facettenreiche Auswahl getroffen. Die ästhetische und thematische Bandbreite der Stücke reichte von multimedialen Performances für Kleine und Große wie „Das große Fragen“ des Zürcher Theaters goldtiger über Objekt- und Figurentheater (etwa die schaurig-komische Menschenfressergeschichte „Yark“ von Dani Mangisch oder die Schauspiel, Puppen und Film kombinierende Auseinandersetzung mit „Romeo und Julia“ in der Regie von Sebastian Ryser, eine Produktion des Figurentheaters St. Gallen für Menschen ab 12) bis hin zum theatralen Spaziergang „Die Märchen von Michael Köhlmeier“ des Vorstadttheaters Basel und der Tanzperformance „Geh nicht in den Wald, im Wald ist der Wald“ der Cie. Tabea Martin, die sich spielerisch-vieldeutig mit Ausgrenzung und Ängsten befasst – ohne das Thema vermeintlich „kindgerecht“ positiv aufzulösen.
Auffallend viele Produktionen stellen existenzielle Fragen, regen zum Nachdenken an und setzen dabei weniger auf wortlastige Dialoge denn auf Interaktion mit dem Publikum: So etwa auch „Wo diis Huus wohnt“, ein Stück über Herkunft und Familienverhältnisse des Zürcher Theaters Reich & Schön. „Eltern raus!“, heißt es da ziemlich bald: Natürlich mit Augenzwinkern. Denn was alle Stücke eint, ist ihre Tauglichkeit für beinahe alle Zuschauer:innen, abgesehen von der Altersempfehlung nach unten. Dem Festivalpublikum muss man das nicht mehr eigens sagen.
Die Magie der Präsenz war mehr denn je spürbar; das Festival hat sich über die allgemeine Krise hinweg etabliert. Es bereichert das kulturelle Leben der Region und füllt schweizweit eine Lücke mit Workshops, Diskussionsrunden, Künstler:innengesprächen und der Möglichkeit, während zehn Tagen so viele richtungweisende Produktionen für junges Publikum zu sehen und zu vergleichen.
In diesem Jahr kam erstmals noch ein wissenschaftliches Symposium hinzu: Die Schweizerische Gesellschaft für Theaterkultur und das Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern organisierten im Rahmen des Festivals ein dreitägiges Vortrags- und Diskussionsforum zum Thema „Kinder- und Jugendtheater – Theater für alle?“ Da ging es nach einem Rückblick in die Geschichte ums gegenwärtige Selbstverständnis und um die Frage, wie sich mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung für die professionelle künstlerische Arbeit generieren lässt – aber auch danach, wie eine sinnvolle Förderung aussehen müsste. Es fehlt der freien Szene nicht nur an finanziellen Mitteln, sondern oft auch an geeigneten Probenräumen und Aufführungsorten. Dabei will junges Theater entgegenkommend sein, das Publikum, bestenfalls ein altersgemischtes und sozial diverses, dort aufsuchen und mitnehmen, wo es mit seinen Fragen an das Leben steht. Aus St. Gallen haben beide Seiten dafür im wechselseitigen Austausch wieder wertvolle Impulse mitgenommen. //