Theater der Zeit

Festivals

Politische Spuren

Die Leipziger euro-scene im ersten Jahr unter der neuen Leitung von Christian Watty

von Lara Wenzel

Erschienen in: Theater der Zeit: Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“ (01/2022)

Assoziationen: Freie Szene Theaterkritiken Sachsen

Individuelles Glück oder „das gute Leben“? СЧАСТЬЕ (DAS GLÜCK) auf der Leipziger euro-scene. Foto Harvé Bellamy
Individuelles Glück oder „das gute Leben“? СЧАСТЬЕ (DAS GLÜCK) auf der Leipziger euro-scene.Foto: Harvé Bellamy

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Alles nicht wahr“ – das Motto der 30. euro-scene realisierte sich anders als erwartet. Auch eine Portion Ungläubigkeit muss für Ann-Elisabeth Wolff in der Absage des Leipziger Tanz- und Theaterfestivals gelegen haben, die 2020 unvermeidbar war. Die ehemalige Leiterin lud Künstlerinnen und Künstler ein, die sie besonders schätzte, um das Jubiläum und ihren Abschied zu ­feiern. Einige wenige Inszenierungen konnten im nächsten Jahr nachgeholt werden, wie das Puppentheaterstück „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“ von Nikolaus Habjan. So konnte Wolff, die von 1993 bis 2020 die Plattform für zeitgenössische Bühnenkunst prägte und Impulse aus West- und Osteuropa in die sächsische Großstadt brachte, ihr Ende mit dem gern eingeladenen Grazer feiern.

Christian Watty gestaltete im letzten November die erste Ausgabe des Festivals nach der Ära Wolff. Dafür zog der neue Leiter aus der französischen Provinz nach Leipzig – im Gepäck ein erweitertes Verständnis von Europa. Weg vom Ost-West-Diskurs soll sich die euro-scene entwickeln, um den postkolonialen Blick auf die vergangenen und heutigen Verbindungen mit anderen Weltteilen zu schärfen. Verbunden mit dem neu gesetzten Anspruch, Inszenierungen verstärkt in Koproduktion zu erarbeiten, zeigt sich „Amores de Leste“ als Beginn einer Neuausrichtung. Für eine Rechercheresidenz begab sich die portugiesische Gruppe Hotel Europa nach Leipzig, um die Verstrickungen von Liebes- und Arbeitsverhältnissen zwischen den Ostblockstaaten, Portugal und seiner ehemaligen Kolonie Mosambik theatral aufzudröseln.

Gehüllt in Retro-Charme erzählen der Portugiese André Amálio und die in Tschechien geborene Tereza Havlíčková von ­ihren Begegnungen. Bestimmt wird das Bühnengeschehen im Theater der Jungen Welt von Interviewfragmenten, die abgespielt und nachgesprochen werden. Auf den gestapelten Röhrenfern­sehern im Hintergrund erscheinen verrauschte Gesichter aus der Vergangenheit. Dazwischen lockern kleinere performative oder tänzerische Einlagen die dokumentarische Spurensuche auf.

Hoffend, in der DDR Sport studieren zu können, reiste ein Mosambikaner in den Osten. Unter dem Druck einer angedrohten Ausweisung begann er, in einer Schweinefleischfabrik zu ­arbeiten, obwohl er Moslem ist. Der Traum von einer guten Ausbildung war für den jungen Mann dahin. Als er sich während eines Boxkampfs eine Verletzung zuzog, verweigerte ein rassistischer Arzt die ­Behandlung. Eine Krankenschwester nahm sich seiner an. Sie verliebten sich und heirateten, obwohl über die gebotene Freundschaft der Völker hinaus keine romantischen Beziehungen eingegangen werden durften. Mit der Wiedervereinigung zerriss die Ausweisung vieler Gastarbeiter, die bis heute nicht ihren ­vollen Lohn ausgezahlt bekommen haben, die kleine Familie. „Bleibt man Kommunist, wenn der ‚reale Sozialismus‘ enttäuscht?“ Diese Frage liegt den ausgebreiteten Biografien zugrunde.

Die internationale Koproduktion ist eine der vier Theaterinszenierungen, die das transdisziplinäre Festival auf die Bühne brachte. Während die Tanzstücke von Klassikern wie Sasha Waltz’ „Allee der Kosmonauten“ bis zur Premiere von „Einblicke“, erarbeitet durch die Leipziger mixed-abled Forward Dance Company, ein Spektrum der zeitgenössischen Strömungen ausstellt, zeichnen sich die ausgewählten Theaterarbeiten durch ihre Ähnlichkeit aus. Dramatische Handlung oder gesponnene Illusionen lehnen die postdramatischen Produktionen ab. Auf der Bühne wird der Prozess ausgestellt, in dem die Performenden Material – Dokumente, Fundstücke und Metaphern – generieren und re-arrangieren. Wie der Essay, der „von etwas bereits Geformtem, oder bestenfalls von etwas schon einmal Dagewesenem“ spricht, erfinden und entfalten sie ihre formlose Form im Vollzug. Im Gegensatz zum Kunstwerk, das nach Geschlossenheit und Vollendung strebt, handelt es sich für Georg Lukács in diesem Zugriff auf die Wirklichkeit um einen Vorgang der Neuverknüpfung. Denn – so weiter zum Essay – „es gehört zu seinem Wesen, dass er nicht neue Dinge aus einem leeren Nichts heraushebt, sondern bloß solche, die schon irgendwann lebendig waren, aufs neue ordnet.“

Die Theaterarbeiten auf der euro-scene funktionieren implizit nach den Maßgaben des Essays und sind nach ihnen zu bewerten. Für den frühen Lukács hieße dies keine Faktenakkumulation, sondern ein Vordringen zum Wesen des betrachteten Gegenstands. In „СЧАСТЬЕ (Das Glück)“, eine Produktion des russischen KnAM Theaters, versucht das Ensemble, entlang ihrer ­Biografien das titelgebende Gefühl in (post-)sowjetischen Gegenwarten zu erkunden. Die Inszenierung von Tatiana Frolova stellt individuelles Glück und das staatlich festgesetzte ‚gute Leben‘ ­nebeneinander. In einer Collage von Nachrichten- und Interviewfetzen ver­mischen sich die Schrecken der UdSSR mit denen des Putin-­geführten Landes. Zu ausladend greift die Inszenierung in die historische Tiefe und vergisst dabei die Kontextualisierung, die ein Verständnis für Kontinuitäten und Brüche gewährleisten würde. Die Produktion positioniert sich gegen reaktionäre Tendenzen im heutigen Russland. Im Versuch, das Glück positiv zu bestimmen, rutschen sie ins Floskelhafte ab.

Wie in der Arbeit „Grand Reporterre #4 Deadline“ formuliert sich hier zaghaft der Anspruch, über das Bestehende hinaus eine Aussage zu treffen. Die Zusammenarbeit von Citizen.KANE.Kollektiv, Julia Lauter und dem Théâtre du Point du Jour nimmt sich ebenfalls ausgehend von Interviews der Klimakrise an. Journalistin Lauter verliest im Verborgenen einen Essay, in den sich projizierte Interviewaufnahmen, von einer Band unterstützte ­Lieder und ein moderner Prometheus einfügen. Hier wendet sich der Menschen- zum Götterfreund, der mit dem Feuer das erste Übel über die Gesellschaft brachte. Darauf folgte Atomkraft, ­Kohleenergie und Individualverkehr, betrieben durch Benzin und Diesel. Vom gepriesenen Fortschritt erkannte man in diesen Industriezweigen schließlich Katastrophentreiber. Jene Diagnose dürfte die wenigsten im Publikum überraschen. Einen tieferen Einblick in die Verhältnisse, die der zerstörerischen Tendenz zugrunde liegen und Verantwortung auf das Individuum abwälzen, offenbaren weder ausgespielte Metaphern noch verlesener Text.

Die Aufbereitung des Oberflächlichen prägt ebenfalls „Plea­sant Island“. Auf zwei großen Bildschirmen visualisiert sich, welche Apps Silke Huysmans und Hannes Dereere auf ihren Handys anwählen. Schweigend stehen sie neben den übergroßen Displays und lassen gesammelte Dokumente für sich sprechen. Auf der ­Insel Nauru im Pazifik recherchierten sie zum Abbau der phosphathaltigen Erde, die den Landeskern in eine Wüste verwandelte. Später lieferte Australien Asylbewerberinnen und -bewerber gegen eine finanzielle Kompensation an den winzigen Staat. Betont reduziert zeigt sich die Inszenierung nicht nur in ihrer Anti-­Haltung zum Theaterspiel. Sie versucht, eine Positionierung im Bericht zu umgehen, aber macht das vorgebrachte Beispiel, in dem das Zusammenspiel von Klimakrise und Kapitalismus sehr gut objektiviert werden könnte, zum beliebigen Fall.

Die Auswahl des neuen Festivalleiters beansprucht, politisch zu sein, ohne einen Begriff davon zu haben. In den dokumenta­rischen Arbeiten lernt das Publikum viel, aber das neue Wissen gibt wenig Aufschluss über die Zusammenhänge, in die es ein­gebettet ist. Jenseits einer enzyklopädischen Wahrheit braucht es eine des Standpunkts, der bewiesenen Haltung. Erst aus dieser heraus ließe sich das Wissen um die Veränderbarkeit der Um­stände, in denen die Krisen blühen, als wahr behaupten. //

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