Theater der Zeit

Thema

Von tönendem Rascheln und tanzender Stille

Klangerkundung mit Kita-Kindern

In einem zweitägigen Klanglab im Münchner Hofspielhaus konnten schon Kindergartenkinder zu Material(er)forscher*innen werden. Begleitet von Theatermacher*innen kamen sie den besonderen klanglichen Qualitäten ihrer Versuchsobjekte auf die Spur und bewiesen wieder einmal, wie ergiebig die intensive Auseinandersetzung mit dem Material gerade in der theatralen Arbeit mit und für die Allerkleinsten sein kann.

von Christiane Plank-Baldauf

Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)

Assoziationen: Bayern Kinder- & Jugendtheater Puppen-, Figuren- & Objekttheater Dossier: Material im Figurentheater

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Auf dem Boden des Theaterraumes sind unterschiedlichste Gegenstände nach ihren Materialien geordnet. Sanftes Knistern, ausgiebiges Schnarren und Reiben, aber auch durchdringendes Klappern und Scheppern sind zu vernehmen. Intensiv untersuchen die Kinder vertraute Alltagsgegenstände und -materialien wie Zellophan- und Alufolie, Klopapierrollen, Papiertüten, Schüsseln und Plastikflaschen auf ihre klanglichen Möglichkeiten hin: Wie klingt eigentlich Papier? Welche Klänge lassen sich mit Plastikflaschen erzeugen? Wie kann man mit Zellophan-Folie einen sehr lauten Klang produzieren?

Dabei geht es nicht um ein gemeinsames klassisches Musizieren der erwachsenen Theatermacher*innen mit den Kita-Kindern, sondern um ein gemeinsames klangliches Erforschen des Materials, verbunden mit den Fragen, welche Klänge und Materialien diese Zielgruppe interessiert, wie man ihre Neugier erwecken kann und wie sich daraus im nächsten Schritt künstlerische musikalisch-theatrale Formen entwickeln lassen.

Im Zentrum dieses Labs steht das bewusste Hören, eigentlich ein „Lauschen“ (Nancy 2014, 16), das nicht einem akustischen Phänomen auf den Grund kommen, sondern im Sinne John Cages der Einmaligkeit eines jeden Klangereignisses auf die Spur kommen will. Im Ausprobieren der verschiedenen Klanggegenstände erfolgt eine Affizierung durch das jeweilige Klangereignis, auf das die Kinder reagieren, indem sie Zu-hören oder Weg-hören (vgl. Waldenfels 2017, 31). Es geht in dieser Phase der Materialexploration um ein Neu-hören eines vermeintlich vertrauten Klanges, um ein Hören, das reichhaltiger ist, denn es spürt der sinnlichen Wirkung der verschiedenen Klangereignisse nach. Je jünger die Kinder sind, desto mehr ist ihre Wahrnehmung coenästhetisch auf das Erleben mit allen Sinnen hingerichtet und noch nicht zerebral gesteuert wie bei Erwachsenen (Gruhn 2017, 7).

Während der Materialerkundung stellen die jungen Forscher*innen sehr schnell fest, dass Klänge nicht allein hörbar sind. Vielmehr ist die Tonerzeugung selbst ein körperlicher Vorgang, den die Kinder spielerisch auskosten. Gerne wird dann eine ursprüngliche Schlagbewegung (etwa mit einer Papierrolle auf eine Metallschüssel) immer größer, die Folge ist ein Moment der Irritation, denn ein Klang ist nicht beliebig crescendierbar. Intuitiv merken die Forscher*innen, dass sich manche Materialien ihren eigenen Klangvorstellungen entziehen, und dennoch versuchen sie auf unterschiedlichen Wegen, etwa durch Veränderung einer Schlagbewegung, ihrer Klangvorstellung näher zu kommen. Das Lauschen der Kinder ist v. a. auf die musikalischen Parameter Klangfarbe, Lautstärke und Rhythmus hingerichtet. Die Auswahl der Materialien erfolgt sehr intuitiv. Nach welcher Gesetzmäßigkeit sich die Kinder den Materialien zuwenden, ist für die Beobachter*innen nicht nachzuvollziehen. Deutlich lässt sich aber erkennen, dass Klangwirkungen und -aktionen nach einer gewissen Zeit die Aufmerksamkeit der Kinder verlieren und der Reiz, einen neuen Gegenstand klanglich zu erkunden, groß ist. Sobald sich aber ein musikalischer Parameter verändert, ist das Interesse erneut geweckt. Konkret zeigt sich beispielsweise eine junge Forscherin über einige Minuten hinweg fasziniert vom prasselnden Sound herabfallender Erbsen, der sich nach dem Aufkommen auf dem Boden in einen leisen Flächenklang verwandelte, um schließlich – sobald die Erbsen über den Boden rollten – mit einem sanften Decrescendo im Raum zu verklingen. Danach richtet sich die Aufmerksamkeit des Mädchens auf eine Schale bunter Federn. Sie wiederholt die Wurfbewegung, doch die Federn segeln in einer eleganten wellenförmigen Abwärtsbewegung zu Boden ohne einen Ton zu hinterlassen. Diese Stille wird interessanterweise von ihr nicht als eigenständiges musikalisches Phänomen wahrgenommen, vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf die schwebende Bewegung der Feder. Das Mädchen streckt beide Arme aus und imitiert die Segelbewegung. Sowohl die herabfallenden Erbsen als auch die schwebenden Federn besitzen neben ihrer klanglichen Qualität ein gestisches Wirkungspotenzial, das sich Kleinkindern unmittelbar erschließt und sich durchaus zu sehr konkreten Assoziationen erweitern kann. Die Flugbewegung des Mädchens lässt sich als Imitation eines Vogels deuten, die den Klängen eine sehr konkrete Bedeutung zumisst. Da die Spielanordnung jedoch darauf verzichtet konkrete Texte, Bilder o. ä. umzusetzen, bleibt die Transformation der Klänge in illustrierende Gesten oder Bilder nur vorübergehend und immer am Übergang von musikalischem zum szenisch-theatralen Ereignis – zu einem Ereignis also, bei dem gewöhnliche Alltagsgegenstände wie Plastikflaschen, Löffel, Papier eine Artifizierung (Dissanayake 2001, 217) erfahren. Diese Transformation in Klangkörper im Moment des Spielens lässt sich auch am behutsamen Umgang der Kinder mit ihren ‚Instrumenten‘ ablesen.

Entwicklungspsychologisch zählt das freie Spiel zu einer grundlegenden Form des kindlichen Lernens, in der motorische, kognitive und sozio-emotionale Fähigkeiten gefördert werden. Lernen meint dabei weniger einen Wissens- oder Kompetenzerwerb, sondern die Erfahrung des Neuen (Gruhn 2018, 99) und im Sinne eines ko-konstruktiven Ansatzes die Erfahrung der eigenen Kreativität (Sangiorgio 2020, 538).
Während des Labs folgen die Theatermacher*innen den Spielimpulsen der Kinder und eröffnen erst nach einer

Zeit des freien Experimentierens den Dialog: Imitation, Angleichen, Kontrastieren oder das Sich-neutral-Verhalten bilden dabei zentrale Kategorien des aufeinander Reagierens, wie sie z. B. von Mayer-Denkmann (1970) in die musikalische Improvisation eingeführt wurden. Es entsteht eine musikalische Kommunikation basierend auf elementaren Klangkategorien und Musizierpraxen (vgl. Roszak 2014; Globokar 1994), die bereits für diese Zielgruppe musikalische Phänomene und Klangereignisse sinnlich erfahrbar werden lässt.

Da die Teilnahme der Kinder an diesem Forschungslab auf Freiwilligkeit beruht, zeichnet sich ihre Teilnahme durch hohe Konzentration und eine lustvolle Forschungstätigkeit aus, bei der die individuelle Kreativität des Einzelnen im Zentrum steht. Wo sich das Spiel zu einer Interaktion mit den anderen Kindern erweitert, Gedanken, Emotionen und Erfahrungen ebenso geteilt wie Konflikte gelöst oder Entscheidungen getroffen werden, wird ‚Spielen‘ zu einer sozialen Tätigkeit, in der sich „kulturelle Wertemuster, Haltungen zu sich selbst und anderen Personen“ sowie „passende Reaktionen und angemessene Normen des Verhaltens in bestimmten sozialen Situationen“ (Bosch 2017, 2) vermitteln. Im spielerischen Erkunden und Interagieren machen die jungen Forscher*innen eine ästhetische Erfahrung, die sowohl vertraute als auch neue Erfahrungen einschließt. Gewohnte Hör- und Sehgewohnheiten werden gestört – wenn beispielweise die herabfallenden Federn keinen ‚Klang‘ hervorrufen – Wahrnehmungen werden neu fokussiert. Im Sich-Einlassen auf die Performanz sinnlicher Erfahrungen entstehen Präsenzerlebnisse, die der Einzigartigkeit live produzierter Klänge nachspüren und im weiterführenden gemeinsamen musikalischen Dialog kreative Erfahrungsprozesse anstoßen. Gleichzeitig wird eine Kunsterfahrung initiiert, die sich nicht im konkreten inhaltlichen Erzählen erschöpft, sondern auf die Offenheit, manchmal auch den Fremdheitscharakter von Kunst verweist, die uns als Zuhörer*innen und Zuschauer*innen erregt und berührt.

Literatur:

Bosch, Aida: Dinge, Leiblichkeit und Weltzugang. In: Ästhetiken in Kindheit und Jugend, hg. von Sebastian Schinkel/Ina Herrmann, Bielefeld 2017.
Cage, John: Vortrag über nichts. In: Ders.: Silence. Frankfurt a. M. 2012, S. 6-35.
Dissanayake, Ellen: Kunst als menschliche Universalie. In: Universalien und Konstruktivismus, hg. von Peter M. Hejl, Frankfurt a. M. 2001.
Gaudet, Johannes: Experimentieren und Komponieren mit Klanggestalten im musiktheatralen Kontext mit Kindern und Jugendlichen. In: Plank-Baldauf, Christiane: Handlungsbegriff und Erzählstrukturen im zeitgenössischen Musiktheater für junges Publikum. Stuttgart 2017.
Globokar, Vinko: Einatmen – Ausatmen, hg. v. Jost, Ekkehard; Klüppelholz, Werner. Hofheim am Taunus 1994.
Gruhn, Wilfried: Wie Kinder Musik erleben. In: Theater o. N. (Hg.): FRATZ-Reflexionen. Berlin 2017.
Gruhn, Wilfried/Röbke, Peter (Hg.): Musiklernen. Innsbruck 2018.
Gumprecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004.
Mayer-Denkmann, Gertrud: Klangexperimente und Gestaltungsversuche im Kindesalter. Neue Wege einer musikalischen Grundausbildung. Universal Edition, Wien 1970.
Nancy, Jean-Luc: Zum Gehör (übersetzt von Esther von der Osten). Zürich/Berlin 2014.
Sangiorgio, Andrea: Spiel. In: Dartsch, Michael; Meyer, Claudia; Stiller, Barbara (Hg.): EMP kompakt. Kompendium der Elementaren Musikpädagogik. Teil 1 Lexikon (pp. 530-536). Innsbruck 2020.
Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München 2003.
Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Frankfurt a. M. 2015.

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