Verlockung und Verzicht treffen einander in dem Titel „Die Goldberg Variationen, BWV 988“. Diesen nüchternen Namen hat Anne Teresa De Keersmaeker ihrer jüngsten Arbeit gegeben, die bei den pandemiebedingt verschobenen und stark reduzierten Wiener Festwochen uraufgeführt wurde. Seit vierzig Jahren verzichtet die belgische Starchoreografin beinahe ausnahmslos auf poetische Stückbezeichnungen. Sie hält die Titel nüchtern, kühl und doch verlockend. Meist zitiert De Keersmaeker darin bloß die musikalische, fallweise auch eine literarische Referenz.
Ganz und gar nicht nüchtern dagegen verhält sich Marlene Monteiro Freitas. Sinnlichkeit ist bei der auf den Kapverden geborenen Künstlerin eine dominierende Prämisse. Sie nennt ihre Werke so, wie sie sind, „Bacantes – Prelúdio para uma purga“ oder zuletzt „Mal – Embriaguez Divina“: „Vorspiel für eine Reinigung“ oder „Göttlicher Rausch“. Frühere Titel sind „Jaguar“, „Elfenbein und Fleisch – auch Statuen leiden“ oder „Tierischer Ernst“. Ein Titel ohne Wortspiel wie „The Six Brandenburg Concertos“ (De Keersmaeker, 2018) scheint undenkbar. Freitas’ Arbeiten ziehen ihre Zuschauer in traumähnliche Labyrinthe. Auch „Mal – Embriaguez Divina“, das ich nicht am Uraufführungsort Kampnagel in Hamburg, sondern kurz nach De Keersmaekers „Goldberg Variationen“ bei den Festwochen gesehen habe, kann als Irrgarten erfahren werden. Oder wie ein Film von David Lynch.
Freitas’ und De Keersmaekers Choreografien zeigen...