Themen – Nachhaltigkeit
Staging Gaia. Bühne, Klima und Bewusstseinswandel
Frédérique Aït-Touati und Bruno Latour im Gespräch mit Thomas Oberender
von Bruno Latour, Thomas Oberender und Frédérique Aït-Touati
Erschienen in: CHANGES – Berliner Festspiele 2012–2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit (10/2021)
Assoziationen: Debatte Dossier: Klimawandel
Thomas Oberender:
Für uns ist dein Buch Down to Earth ein kleines Organon im Brecht’schen Sinne – ein praktisches Werkzeug, ein Leitfaden zur Verhaltensänderung. Das kommt den Absichten unseres gleichnamigen Projekts im Gropius Bau sehr nahe. Mich interessiert an unserer Zusammenarbeit sehr deine und Frédériques Faszination für das Theater. In deinem Buch sprichst du immer wieder in Theatermetaphern. Du schreibst: „Heute sind alle – Dekor, Kulissen, Hinterbühne: das gesamte Gebäude – auf die Bühnenbretter gestiegen und machen den Schauspieler*innen die Hauptrolle streitig.“ Das ist eine schöne Idee: Konflikte spielen sich auf der Bühne nicht mehr nur in der Sphäre des Zwischenmenschlichen ab, sondern auch die Dinge, all diese Einrichtungen, die eine Bühne bevölkern, sind ebensolche Akteur*innen. Das erinnert mich an die „systemische“ Sicht der Erde von James Lovelock. Seine Gaia-Theorie bewirkt einen ähnlich fundamentalen Weltbildwandel wie Galileo vor ungefähr 400 Jahren.
Bruno Latour:
Als Galileo Galilei im Jahr 1609 sein Teleskop in den Himmel richtete, entdeckte er Berge auf der Mondoberfläche. So wurde der Mond zu einer weiteren Erde und die Erde zu einem Stern unter vielen. Damit revolutionierte er die kosmische, aber auch die politische und soziale Ordnung seiner Zeit. Vier Jahrhunderte später werden Rolle und Position unseres Planeten einmal mehr auf den Kopf gestellt, und zwar durch neue Wissenschaften, die darlegen, wie menschliches Handeln unerwartete Reaktionen der Erde auslöst. Galileo lehrte uns, dass die Erde in Bewegung ist. Die Wissenschaftler*innen James Lovelock und Lynn Margulis entdeckten eine Erde, die auf andere Art und Weise „in Bewegung“ ist: Sie beschreiben einen Planeten, auf dem Raum und Zeit Produkte des Handelns von Lebewesen sind. Sie bringen uns dazu, ein neues Bild von der Welt und ein neues Verständnis des Kosmos zu entwickeln. Und wieder scheint die gesamte Organisation unserer Gesellschaft infrage zu stehen. Mussten wir also im Jahr 1610 den Schock verkraften, dass „die Erde sich bewegt“, müssen wir heute die noch weitaus schockierendere Erkenntnis akzeptieren, dass die Erde bebt und auf menschliches Handeln reagiert, und zwar in einem Maße, das sämtlichen unserer laufenden Projekte Einhalt gebietet und eine Neukalibrierung unseres Denkens fordert.
TO:Ihr habt über Lovelock und das Gaia-Thema in den letzten Jahren verschiedene Stücke und auch Ausstellungen gestaltet. Ich würde mit euch gerne über Brecht und sein Theater sprechen, denn sein Leben des Galileiwar für euch ein wichtiger Orientierungspunkt. In eurer Produktion Moving Earths verwendet ihr eine amerikanische Verfilmung des Stücks aus dem Jahr 1975 – ein traditioneller Kostümfilm, im Grunde das genaue Gegenteil eurer Theaterform.
BL:(lacht)
Frédérique Aït-Touati: Du hast recht! Bruno ist von diesem Film sehr angetan. Zuerst wollte ich ihn nicht verwenden, gerade weil er so anders ist als das Theater, das ich mache. Natürlich erzeugt seine Verwendung eine Spannung: Wir nehmen in unserer szenischen Demonstration schließlich eine Fiktion wie diesen Film als paradoxen „Beweis“.
TO:Um die Inszenierung von Beweisen ging es ja schon sehr früh in Brunos Arbeit, in seinem Buch über Pasteur. In deinem Essay When Non- Humans Enter the Stage schilderst du dein Interesse als Regisseurin an Brunos Studie. Dich interessiert, wie Wissenschaftler*innen Beweise inszenieren. In Die Hoffnung der Pandora hat Bruno unter anderem beschrieben, mit welcher Genialität Pasteur eine theatralische Situation schuf, in der die Beweise seiner Entdeckung des Milchsäureferments für jedermann sichtbar wurden. Auch Brecht wollte ganz in diesem Sinne ein „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“ entwickeln: Galileo ist in seinem Stück 46 Jahre alt, sein Werk stagniert, und plötzlich bringt ihm ein junger Mann die Nachricht von der Erfindung des Fernglases in den Niederlanden. Mit diesem Instrument kann er sein neues Weltbild für jedermann sichtbar machen. Brecht zeigt uns Galileo als großen Mann, Einzelgänger und Geistesriesen. Bei euch scheint das anders zu sein.
BL:Diese Problematik kam auf, als ich von Frédérique gegeißelt wurde, weil ich eine geradlinige Parallele zwischen Galileo und Lovelock ziehen wollte. Sie sagte: „Das ist lächerlich, wir können im 21. Jahrhundert keine androzentrische Parallele zwischen diesem großen Mann Galileo und einem anderen großen Mann des 20. Jahrhunderts ziehen.“ Mein erster Entwurf musste sich also ändern, da zudem die Vorstellung falsch war, Galileo sei im 16. oder im 17. Jahrhundert ein Einzelgänger gewesen. Er war vielmehr eingebettet in ein wissenschaftliches und gesellschaftliches Umfeld, das ihn überhaupt erst ermöglichte. Wir mussten daher die Figurenredeanteile neu verteilen, die Handlung mit der Wissenschaftlerin Lynn Margulis, die leider 2011 gestorben ist, in Verbindung bringen, um dann auf Lovelock zurückzukommen. Er ist jetzt 101 Jahre alt …
FA:Brecht war ein guter Ausgangspunkt, weil er die Verbindung zwischen Galileo und dem wissenschaftlichen Zeitalter herstellt; im Kleinen Organon für das Theater erklärt er, dass er ein Theater für das wissenschaftliche Zeitalter machen will. Aber genau diese Art von Kosmologie und Physik der frühen Neuzeit wird durch die Gaia-Theorie von Lovelock und Margulis infrage gestellt. Wir mussten also neben der Parallele gleichzeitig eine Umkehr darstellen. Bruno sagte irgendwann: „Okay, wir brauchen einen neuen Brecht, um die Geschichte von Lovelock zu erzählen. Indem er die Geschichte von Galileo erzählt, verbindet Brecht die kosmolo- gische Revolution mit dem gesellschaftlichen Umbruch des 17. Jahrhunderts. Jetzt brauchen wir wieder eine*n Dramatiker*in, um die Geschichte von Lovelock, die Entdeckung von Gaia und ihre politischen Folgen zu erzählen, um die Verbindung zwischen dem Wandel der kosmologischen Ordnung und dem Wandel der politischen Ordnung herzustellen.“
Die Parallele zwischen Galileo und Lovelock folgt einer Intuition, die in gewisser Weise bereits eine theatralische Situation darstellt: Galileo schaut mit seinem Teleskop in den Himmel und entdeckt, dass die Erde ein Planet unter anderen ist. Lovelock hingegen stellt sich einen Marsmenschen vor, der sein hypersensibles Instrument auf die Erde richtet und entdeckt, dass die Erde einzigartig ist. Das Problem ist, wie gesagt, dass Brecht in Anlehnung an eine lange Tradition in der Wissenschaftsgeschichte Galileo zur Heldengestalt der Wissenschaft stilisiert hat, die den Weg für die Moderne ebnet. Wir können diese Art von Geschichten aber nicht mehr erzählen, mit dem männlichen Wissenschaftler als alleinigem Helden. Brunos Buch über Pasteur ist eine perfekte Kritik an dieser Erzählung. Vor allem, weil die Geschichte der Entdeckung von Gaia viel komplexer, interessanter und kollektiver ist! Das war ein Grund dafür, warum wir Leben des Galilei nicht einfach in „Leben des Lovelock“ verwandeln konnten.
BL:Wir haben keine Helden mehr, aber wir haben Gaia.
TO:Ist Gaia eine weibliche Figur?
BL:Sie ist weiblich, aber vor allem ist sie eine mythische und eine ziemlich große Figur. Die Idee war, nicht schon wieder die Geschichte des berühmten Mannes zu erzählen, sondern das Theater als Mittel zu nutzen, um ein Gefühl für die Neuartigkeit von Gaia zu vermitteln. Eigentlich wollte Frédérique die Anwesenheit von Gaia auf der Bühne sichtbar machen. Dazu bin ich durch die Dramatisierung des theoretischen Konzepts gekommen, die mich immer interessiert hat. Denn seit 40 Jahren unterrichte ich hauptsächlich Erstsemester*innen. Wenn man Studienanfänger*innen unterrichtet, darf man nicht zu kompliziert werden, man muss ein Konzept dramatisieren. Es hat mich sehr beeindruckt, bei der Arbeit über Pasteur zu sehen, dass dies auch der Antrieb eines großen Wissenschaftlers ist, wenn er eine Entdeckung macht und diese der Öffentlichkeit zeigen möchte. Als ich den Ausdruck „Theater der Beweise“ nutzte, löste das bei Frédérique etwas aus, weil sie, vom Theater kommend, an einer ähnlichen Fragestellung interessiert war.
TO:Es gibt eine sehr interessante Kritik zu Brechts Historienstücken von Botho Strauß. Er sagt, sie zeugen von einem vorkybernetischen Zeitalter und spiegeln ein mechanistisches Verständnis der Welt wider: Es geht um Ursache und Wirkung, lineare Prozesse. Strauß sagt in den frühen 1990er-Jahren, dass unser aktuelles Weltbild von Phänomenen und Konzepten wie Rückkopplung, Emergenz oder der Chaostheorie geprägt ist. Heute verbindet sich das für uns vor allem mit unserem Eingebettet-Sein in Netzwerke und Systeme, die uns mit Akteur*innen verbinden, die keine Menschen sind, sondern andere Spezies, Landschaften, Dinge und Technologien. Strauß wendet sich auch aus weltanschaulichen Gründen von Brechts dialektischer Ästhetik und ihren Argumenten ab, weil sie ihm in der Praxis zu gewalttätig waren, und wissenschaftlich zu linear.
BL: Uns interessierte, was an dieser linearen Entwicklung linear ist. Gerade weil sie einen Kontrast zu dem zirkulären Feedback-Denken von Lovelock bildete, war sie dramatischer. Wir waren uns nie sicher, wie wir diese letzte Szene neu interpretieren sollen, in der Galilei nicht weiß, ob er sich für die Verbrechen entschuldigen soll oder nicht, die durch seine „lineare Betrachtungsweise“ verursacht wurden. „Wenn Wissenschaftler“, sagt er da, „eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen anzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein […] Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden.“ Nun, obwohl auch Lovelock für den britischen Staat gearbeitet hat, kann man das nicht einfach übertragen.
Es war meiner Naivität geschuldet, dass ich zunächst jede einzelne Szene von Brecht verwendete und sie so veränderte, dass ich nur die Sätze nahm, die sich auch im Hinblick auf Lovelock nutzen ließen. So habe ich eine lange Beschreibung von einem Stück gemacht (lacht), in dem ein Karneval stattfindet – und den kann man natürlich sehr leicht uminterpretieren, genauso die Episode des kleinen Mönchs. Der kleine Mönch entschuldigt sich bei Brecht dafür, dass er die Wissenschaft aufgegeben hat, weil er seine Eltern nicht in Verzweiflung stürzen will. Und natürlich die Szene, als der Beweis von Galileis Entdeckung von den fürstlichen Astronomen und Philosophen aufgrund eines Schwalls von Scheinargumenten ignoriert wird …
TO:Indem sie sich geschickt weigern, durch das bereitstehende Teleskop zu schauen.
BL:Genau die gleiche Szene gibt es mit Lovelock, wenn die Beweise für eine Rückkopplung, durch die sich der Planet selbst zu regulieren vermag und durch die er das Leben lebendig hält, fortlaufend von verschiedenen Disziplinen geleugnet werden. Diese fast buchstäbliche Eins-zu-eins-Übertragung mündete aber schließlich in ein Stück, das so traditionell war wie Brecht und das wir so nicht machen wollten.
FA:Es war ein Probelauf, den wir schließlich als Vorlage benutzt haben, um die Unterschiede zwischen Galileo und Lovelock hervorzuheben. Wichtig ist, dass Brecht die Verbindung zwischen dem kosmologischen und dem politischen Argument herstellt. Das war einer der Hauptgründe für diese Parallelität, und das haben wir in unserem Stück Moving Earths letztlich beibehalten.
BL:Interessanterweise gibt es Brechts Stück, und es gibt die Losey-Version, den erwähnten Film von 1975. Du hast gesagt, er sei traditionell – ich liebe ihn! Ich habe ihn zehnmal gesehen. Er ist sehr schön. Daneben gibt es unsere erste Version, die eine Imitation von Brecht war, weil wir versucht haben, dem gleichen Muster zu folgen. Aber in dieser Imitation gab es bereits etwas ganz Neues: einen wissenschaftlichen Vortrag.
In unserer Endfassung haben wir trotzdem, wie Frédérique gerade schon meinte, eines der zentralen Elemente von Brecht übernommen, nämlich die eindringliche Weise, mit der er die politische Ordnung mit der wissenschaftlichen Kosmologie verbindet: „Unsere Kunst des Zweifelns entzückte das große Publikum. Es riss uns das Teleskop aus der Hand und richtete es auf seine Peiniger, Fürsten, Grundbesitzer, Pfaffen.“ Und genau da bin ich jetzt. Ich würde sagen, dass unser Experiment, obwohl es formal ganz anders ist, noch Brecht’scher ist als Brecht. Dieses angesprochene Streben in Brechts Stück, eine Verbindung zwischen sozialer beziehungsweise politischer Ordnung und wissenschaftlicher Kosmologie herzustellen, haben wir übernommen und enorm intensiviert. Als wir unsere Arbeit Historiker*innen, die zu Galileo forschen, präsentiert haben, waren sie über die Qualität des Stücks erstaunt. Wir sind beide Wissenschaftshistoriker*innen, daher war es uns wichtig, dass die historische Verbindung stimmt. Und jetzt versuchen wir natürlich dasselbe mit Margulis und Lovelock. Es handelt sich also um eine andere Form, da eine neue Art des Nachdenkens über die Welt einhergeht mit neuen Darstellungsweisen von dieser Welt, aber einen Aspekt der Brecht’schen „Doktrin“ haben wir beibehalten.
TO:Obwohl Leben des Galilei nicht gerade ein Brecht-Stück im Sinne seiner eigenen Theorie ist. Die formale Gestaltung ist eher naturalistisch und könnte von Gerhart Hauptmann stammen.
BL:Es ist überhaupt kein Brecht’sches Stück, darüber haben wir auch viel gesprochen.
TO:Es gibt einen Moment, da arbeiten Sagredo und Galileo die ganze Nacht hindurch. Brecht schreibt in der Regieanweisung: „Sie setzen sich erregt zur Arbeit. Es wird dunkel auf der Bühne, jedoch sieht man weiter am Rundhorizont den Jupiter und seine Begleitsterne. Wenn es wieder hell wird, sitzen sie immer noch, mit Wintermänteln an.“ Die beiden Zeilen sind Regieanweisungen, die plötzlich die Maschinerie des Theaters selbst offenbaren – die „Natürlichkeit“ der Szene wird durch das demonstrative Vorspulen als etwas Künstliches entlarvt. Brecht spielt kurz mit der Zeit, um danach wieder in den gewohnten Modus zurückzukehren, was als Wechsel eben nur durch die Konventionalität seiner Theatersprache sichtbar wird. Dieser kleine Moment ist episch – hier haben wir etwas mit der Szene gemacht und nicht innerhalb der Szene. Der epische Stil des Brecht’schen Theaters ist in seinen früheren Stücken viel ausgeprägter als in diesem monumentalen Werk. Sie haben einen Erzähler, der die Szene im Auftrag des verborgenen Autors beschreibt und inszeniert. Aber das macht Brecht in diesem Stück nicht, er hat es wie einen Hollywood-Film geschrieben: well-made.
BL:Wissen wir, warum er diese Form gewählt hat, die für dieses Thema so anders ist als in seinen anderen Stücken?
TO:Ich glaube, weil er möglichst viele überzeugen wollte. Brecht schrieb das Stück 1939 im Exil in Dänemark. Er schrieb für das dominierende Theatermodell seiner Zeit. Mit Stücken wie Leben des Galilei oder Mutter Courage und ihre Kinder wollte er die Praxis des Theaters weniger formal als vielmehr argumentativ und intentional verändern. Warum schreibt man 1939 ein Stück über einen Wissenschaftler? Das Stück sagt: „Ich glaube daran, dass Menschen vernünftig sind. Wenn sie Beweise haben, ändern sie ihr Verhalten. Widrige Umstände währen nicht ewig. Auch wenn sie uns einen Knacks versetzen.“ Darum modelliert Brecht diesen einsamen Gelehrten: sinnlich, egomanisch, ein theoretischer Wissenschaftler und praktischer Ingenieur, zu Verschlagenheit und Naivität gleichermaßen begabt. Und immer mit der Frage konfrontiert, wie stark die Wahrheitsbehauptung von den Umständen und der eigenen Charakterstärke abhängt. Brechts Galileo hat politische Gegner, aber in der wissenschaftlichen Sache hat er einfach recht, und das ist ein bisschen langweilig, weil wir das heute alle wissen.
BL:Darin liegt eine große Schwierigkeit, wenn wir eine Parallele zu Lovelock aufzeigen. Denn leider weiß niemand, wer er ist, und niemand glaubt, dass er recht hat. Wir haben mit jüngeren Leuten gesprochen, und viele wissen nichts von der heute stattfindenden wissenschaftlichen Revolution. Sie wissen nichts von der „Kritischen Zone“, wo Wasser, Boden, Unterboden und die Welt der Lebewesen interagieren und die deshalb so wichtig ist, weil in diesem dünnen Oberflächenfilm der Erde das Leben, menschliches Handeln und seine Ressourcen gebündelt sind.
Wir brechtisieren das Brecht-Stück also mehrmals, zum Beispiel in der Szene, wenn der alte Kardinal sagt, dass Galileo ein Feind des Volks ist: „Ich höre, dieser Herr Galilei versetzt den Menschen aus dem Mittelpunkt des Weltalls irgendwohin an den Rand. Er ist folglich deutlich ein Feind des Menschengeschlechts!“ Wenn man diese Szene auf Lovelock überträgt, neigt der*die Rezipient*in dazu, der Argumentation des Kardinals zu folgen und nicht mehr dem Wissenschaftler. Denn wer ist bitte dieser Mann, der heute daherkommt, um die kosmische und die soziale Ordnung zu zerstören? Es ist wirklich außerordentlich, was passiert, wenn man eine*n heute nicht allseits bekannte*n und anerkannte*n Wissenschaftler*in nimmt, sondern jemanden, der wie Lovelock umstritten ist. Das Stück verschiebt sich dann auf sehr interessante Weise. Im Centre Pompidou sagten manche Zuschauer*innen sogar: „Ah, wow, der Kardinal hat wirklich recht.“ Warum ist das so? Weil der Kardinal am besten ausdrückt, was der Wissenschaftler alles zerstört, nämlich die gesamte soziale und kosmische Ordnung. Und man identifiziert sich eben leicht mit dem alten Kardinal, wenn Brecht ihn sagen lässt: „Ich gehe auf einer festen Erde, in sicherem Schritt, sie ruht, sie ist der Mittelpunkt des Alls, ich bin im Mittelpunkt, und das Auge des Schöpfers ruht auf mir und auf mir allein.“
Unsere heutige Situation stellt genau das Gegenteil dar. Wir befinden uns zwar auch wieder im Wandel der Kosmologie, in der gleichen Verschiebung zwischen Wissenschaft und sozialer Ordnung. Aber wir wissen nicht, wo wir stehen. Unterstützen wir die Lobbyist*innen? Unterstützen wir die Klimaskeptiker*innen? Unterstützen wir die Wissenschaft? Wir wissen nicht mehr genau, auf was für einem Planeten wir leben oder wie wir ihn beschreiben sollen. Es handelt sich nicht um eine einzige, fixierte und stabile Erde, sondern um eine Vielzahl von Planeten, die vor uns liegen und die wir erforschen müssen, um zu wissen, auf welchem von ihnen wir landen sollen. Und angesichts dieser Verwirrung betrachtet man plötzlich Brechts Stück als eine außergewöhnlich reichhaltige, widersprüchliche Mischung.
TO:Wie würdet ihr Gaia als Figur beschreiben?
BL:Wissenschaftlich gesehen haben wir jetzt eine viel bessere Vorstellung davon, was Gaia ist, nämlich eine Nicht-Figur, etwas, das sich stark von der Natur unterscheidet. Die Unterscheidung zwischen Natur und Gaia ist sehr klar definiert, denn wenn man von Natur spricht, dann schließt das alles ein, vom Urknall bis zu COVID-19. COVID-19 gehört zu Gaia, aber nicht der Urknall. Es gibt also eine wissenschaftliche Beschreibung von Gaia. Dann gibt es unzählige Mythen über Gaia in den Schriften der Griechen, die Vielzahl der Namen von Gaia in der griechischen Tradition. Sie ändert ständig ihre Namen. Sie ist keine Figur, die leicht zu verorten ist. Des Weiteren gibt es interessante Arbeiten, die Gaia als eine Art juristische Person betrachten und nach ihrem rechtlichen Status fragen. Denn diese Frage lastet schwer auf uns. Sie hat eine gewisse Autorität, aber sie ist nicht der Staat. Außerdem gibt es viele Versuche, Gaia mehr im Feld der Herkunft zu betrachten. Das wäre eher die ökofeministische Tradition, zu der Donna Haraway und Isabelle Stengers gehören. Es gibt wirklich viele Menschen, die versuchen, Gaia neu zu denken, denn genau an diesem Punkt befinden wir uns jetzt – aber wir wissen nicht, wo das ist. Um zu wissen, wo wir landen sollen, um wirklich „down to earth“ zu sein, müssen wir Gaia neu denken. Sie ist kein Objekt in der alten Tradition von Galileo, sondern ein Netzwerk von ständig verbundenen, sich überlappenden Akteur*innen. Jede*r von uns versucht, den Weg dahin selbst zu erspüren, denn alle Einstellungen, Gefühle und Widerstände des Materials sind völlig unterschiedlich, je nachdem, ob man auf der Galilei’schen Erde landet oder eben auf der Lovelock’schen, Margulis’schen Erde.
Es gibt eine sehr interessante Neuinterpretation der vorletzten Szene von Brechts Leben des Galilei, die mit seinem Schüler Andrea, die wirklich seltsam ist und von Brecht nach der Hiroshima- Bombe umgeschrieben wurde. Es handelt sich um eine sehr komplexe Neuinterpretation der Stoßrichtung wissenschaftlicher Entwicklung: Das Ziel der Wissenschaft bestehe allein darin, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wir sind in einer ähnlichen Situation der Uminterpretation, nicht nur wegen der Atombombe – die übrigens immer noch da ist –, sondern aufgrund des ökologischen Wandels, den wir alle neu bewerten müssen. Wenn man „down to earth“ ist, erforscht man eine allgemeine Ontologie, die sich so sehr von der Galileos unterscheidet wie die Galileos von der scholastischen Version, die er angriff und von der er genau genommen profitierte.
Wir sollten uns nicht damit beeilen festzulegen, was Gaia ist. Wir brauchen jetzt das, wozu Frédérique uns motivieren will, nämlich eine ganze Reihe verschiedener Dispositive, die es zu erfassen gilt – einschließlich dessen, was du mit Tino Sehgal zu „Down to Earth“ in Berlin tust. Auch die „Critical Zones“-Ausstellung in Karlsruhe ist für mich sehr wichtig, weil dort all die verschiedenen Versionen von Gaia zu finden sind.
FA:Gaia ist kein freundlicher Charakter. Ich glaube, der Umweg über die mythische Gaia war sehr wichtig, denn Gaia ist in der Mythologie schrecklich. Jemand – ich glaube, es war Margulis oder Stengers – sagte: „Gaia is a bitch.“
BL:Es war Margulis, und sie sagte: „Gaia is a tough bitch.“
FA:Ich war sehr beeindruckt, als Bruno vor mehr als zehn Jahren diesen kurzen Artikel über Theater und Wissenschaft schrieb. Die letzte Zeile dieses Artikels, der als Dialog zwischen fiktiven Charakteren verfasst ist, lautet: „Gaia betritt die Bühne.“ Damals verstand ich nicht, was Bruno meinte, denn Gaia war überhaupt kein Name, der in dem Text vorkam. Aber natürlich betrat Gaia die wissenschaftliche, die politische und die theatralische Bühne. Eines der Dinge, an denen wir während eines anderen Projekts, unserem Gaia Global Circus, vor zehn Jahren intensiv gearbeitet haben, war das Bühnenbild. Gaia, die wir mithilfe eines fliegenden Baldachins darstellten, wurde für uns zu einer*m der Schauspieler*innen auf der Bühne, der*die fünfte Schauspieler*in. Es war ein sehr naives Modell der Rückkopplungsschleife, und das mochten wir daran sehr. Viele Klimawissenschaftler*innen stellten sich damals die Frage, wie man immer genauere und überzeugendere Modelle für den Klimawandel entwerfen könnte. Meine theatralische Antwort war dieses schwebende Bühnengerät, ein Modell, das natürlich eine starke Vereinfachung von Gaia ist. Aber einige Aspekte wurden beibehalten: die Rückkopplungsschleifen und die Selbstanimation.
TO:Nach meinem Verständnis versucht Gaia, das Sein lebendig zu halten. Eine Mutter kann auch eine „tough bitch“ sein.
BL:Sie ist eine gute weibliche Mutter. Sie ist keine schlechte Mutter.
TO:Ich erinnere mich an diese Idee von Lyotard, der sagt, dass „männlich“ und „weiblich“ keine biologischen Kategorien sind, sondern verschiedene Weisen der Beziehung zum Tod. Männlichkeit im metaphysischen Sinne stellt die Idee über das Leben. Sie opfert sich und andere für ein abstraktes Prinzip. Weiblichkeit im metaphysischen Sinne ist dasjenige, was das Leben nicht für eine Idee opfert. Ich kann mir Gaia nicht als eine Figur vorstellen, die Leben zerstört.
BL:Aber das hat sie viele Male getan. Es war oft sehr knapp.
TO:Die Vulkane und die Kometen.
BL:Oder das Eis. Es war wirklich knapp. Es gibt nichts Ausgeglichenes in der Lovelock’schen und Margulis’schen Gaia. Sie ist nicht ausgeglichen, sondern, wenn man so will: die Anhäufung einer Vielzahl einander folgender, vorsichtiger, glücklicher Momente. Ich glaube nicht, dass wir daraus irgendwelche Schlüsse ziehen sollten. Deshalb beunruhigt es mich eher, dass es sich um einen weiblichen Charakter handeln soll. Sie ist eine mythische Figur – und damit tiefer gelagert als der Unterschied zwischen männlich und weiblich. Und sie ist eine ursprüngliche Figur, es geht um Herkunft, ja, aber es geht nicht um sie als weibliche Figur. Sowohl in der Geschichte der mythologischen Gaia als auch in der Geschichte der wissenschaftlichen Gaia gibt es „toughe“ Arten zu erklären, wie das Leben weitergeht. Darin liegt nichts Ausgewogenes. Das ist ein wichtiger Aspekt. Natur hat hier nichts von einem positivistischen oder neo-darwinistischen Kampf aller gegen alle um das Leben. Sie hat nichts mit Balance und Einheit zu tun. Margulis bestand mehr noch als Lovelock auf dem nicht-mütterlichen Charakter von Gaia. Das muss man mit großer Präzision zeigen. Der Charakter ist weitaus interessanter, wenn er das Gleichgewicht nicht wiederherstellt, vor allem kein globales. Gleichzeitig hat er eine seltsame Art, global zu sein, wie wir an der Ausbreitung von COVID-19 gesehen haben – durch Ansteckung von einem zum anderen. Das Virus ist für mich ein sehr schönes Beispiel für jene Dinge, die es Gaia ermöglicht haben zu wachsen. Es ist nicht groß, sondern sehr klein. Etwas Kleines, das sich über vier Millionen Jahre angesammelt hat und nun große Wirkung entfaltet. Gaia ist kein Charakter, der mit Mutter Erde assoziiert wird. Warum nennt ihr euer Projekt „Down to Earth“?
TO:Für uns geht es um die Frage, wo wir in diesen Zeiten des Übergangs Halt finden. Deshalb gefällt uns ja auch der Doppelsinn des englischen Titels deines Buches: „Down to Earth“ ist etwas Angenehmes, man weiß, wo man steht, und ist entspannt. Aber du lenkst unsere Aufmerksamkeit natürlich auch auf etwas sehr Konkretes, nämlich auf den Bereich dieser Erde, in dem wir interagieren und den du die „Kritische Zone“ nennst. Dieser dünne Mantel des physischen Lebens, gelegen zwischen der Grundwassersohle und der Spitze der Vegetation. Und du sprichst im Hinblick auf das gesellschaftliche Leben von hilfreichen, unterschätzten Praktiken wie dem Verhandeln oder Bemühen, Überschneidungen zwischen verschiedenen nationalen und lokalen Interessen und Strukturen herzustellen. Aus unserer Sicht hat das viel mit aktuellen künstlerischen Praktiken zu tun. Viele davon sind aktivistisch. Und viele Aktivitäten sehen überhaupt nicht nach Kunst aus. Oft ist das, was Leute in der experimentellen Nachhaltigkeitspraxis ausprobieren, auch avancierter als das, was im Feld der Kunst geschieht. So steht das Experimentieren mit einer anderen Art von Landwirtschaft und Ernährung sowie neue Arten des Hausbaus neben Künstler*innen, die lebendige Erde in unser Ausstellungshaus bringen, einen zersägten Porsche, Schamanen. Inzwischen ist das Konzept der Ausstellung auch sehr mit der Arbeit von Tino Sehgal verbunden. Wir werden auf Flugreisen und Strom verzichten und versuchen, in der Ausstellung sehr verschiedene Öffentlichkeiten zusammenzuführen. Auf diese Weise entsteht eine Pause innerhalb unserer Kunstbetriebsroutine, die gleichzeitig ein konkretes Angebot macht – man wird es spüren, wenn man da ist, dass etwas anders ist. Zum Beispiel auch, dass es am Abend in der Ausstellung dunkel wird. Deshalb ist dein Terrestrisches Manifest für uns so hilfreich, deine Idee des dritten Attraktors. Es ist nicht das Lokale, es ist nicht das Globale, es ist das Ganzheitliche dieser „Kritischen Zone“ des Lebens, die uns als ein sehr konkretes Territorium mit allem verbindet.
BL:Mich interessiert der deutsche Titel, weil „terrestrisch“ es nicht wirklich erfasst. Man würde ein Festival nicht Das terrestrische Manifest nennen.
TO:Nein, der Begriff ist nicht sonderlich üblich. Man sagt ja auch nicht mehr „terrestrischer Rundfunk“. Aber Das terrestrische Manifest hat mich trotzdem angesprochen. Denn wer spricht da? Die Erde selbst? Kurz vorm Klimakollaps? Für uns war das Klima das größte Beispiel für ein immersives Phänomen, also für etwas, dem wir nicht nur gegenüberstehen, sondern in das wir eingebettet und in dem wir alle mit menschlichen und nichtmenschlichen Akteur*innen verbunden sind. Für uns ist es der Höhepunkt einer langen Entwicklung unserer Programmreihe, die den Begriff „Immersion“ immer weiter ausdehnt. Von der Kunst über soziale Transformationen – wie der deutschen Wiedervereinigung – bis hin zum Klima, alles Prozesse, die nicht mehr im Schema eines Dualismus zu beschreiben sind. Die letzte Ausstellung, die Tino Sehgal und ich gestaltet haben, hieß „Welt ohne Außen“.
BL:Mit Inside, einem unserer Vorträge, wollen wir zeigen, dass es kein Außen gibt: sondern nur die dünne, fragile Haut der „Kritischen Zone“. Wir wollen zeigen, dass wir nicht mehr auf der Erde gehen, sondern mit ihr. Und in Moving Earths beschreiben wir die reziproke Parallele, dass Galileo den Mond betrachtet und sich dabei vorstellt, mit dem gleichen „view from nowhere“ den gesamten Kosmos zu sehen, wohingegen Lovelock mit seinem Elektronendetektor in unserer Umwelt – man könnte auch sagen: Nahwelt – schwefelhaltige, nitrierte oder halogenierte Verbindungen nachweist. Galileo interessiert sich also für das große Außen der Objekte und Lovelock für die „Kritische Zone“.
TO:Das Thema Sprache ist auch sehr wichtig in Brechts Leben des Galilei. Galilei bittet die Gelehrten und Standespersonen immer darum, in Gesellschaft seiner Begleiter umgangssprachlich zu sprechen, nicht auf Latein. Es geht um das, was wir heute in den Publikationen von Museen und Ämtern mit dem Begriff der „leichten Sprache“ verbinden. Auch mir ist aufgefallen, dass ein Begriff wie „Immersion“ im deutschen Sprachraum viel Ablehnung hervorgerufen hat. Er wurde schnell mit Angst aufgeladen, vielleicht, weil die Deutschen im Dritten Reich mit allem, was affektiv oder intuitiv ist, eine schmerzhafte Erfahrung gemacht haben. Wenn wir das Wort „Immersion“ verwenden, dann meist auf einer anderen Bedeutungsebene – für uns markiert es das Ende einer Weltanschauung, die auf der Isolierung diskreter Phänomene, auf einem dialektischen Hin und Her beruht. Immersion bedeutet für uns, in Systemen zu leben, die durch Hybride und Quasi-Objekte gekennzeichnet sind, durch Akteur*innen, die auch Maschinen und andere Spezies sein können, mit denen wir auf vielfältige Weise verbunden sind. All die Dinge, die ihr beide vorhin im Zusammenhang mit Gaia beschrieben habt.
BL:Wir sind in Gaia eingebettet, aber wir müssen einen Brecht’schen, nichtimmersiven Weg finden, um den Menschen zu demonstrieren, dass sie eingetaucht sind. Das war ein bisschen das, was wir mit Inside im Sinn hatten, wobei unsere theatralen Mittel völlig künstlich waren: Es gibt keinen einzigen Moment, in dem man der Situation Glauben schenken kann, das ist der Brecht’sche Teil. Aber es geht inhaltlich darum, drinnen zu sein.
TO:Exakt, genau darum geht es. Immersion macht das Portal unsichtbar. Brecht hingegen weist im Theater explizit daraufhin. Nicht in Leben des Galilei, dafür in anderen Stücken. „Glotzt nicht so romantisch!“ – es ist nur Theater, seht es als Theater. Aber man kann immersive Prozesse, die das Portal als Zeichen des Künstlichen zum Verschwinden bringen, natürlich auch nutzen, um erfahrbar zu machen, dass „Normalität“ immer in Anführungszeichen steht. Weil ich bemerke, dass ich in etwas „hineingeglitten“ bin oder in etwas aufgehe. Für den Fisch gibt es kein Wasser – nur, wenn man ihn kurz herausnimmt. Und das können VR-Arbeiten unwahrscheinlich intensiv vermitteln. Wenn ich mich als Avatar in einer VR-Welt bewege, kann ich vor einem virtuellen Abgrund echte Höhenangst bekommen. Mein Kopf weiß, dass ich in einem Spiel bin, aber ich erlebe es real. Niemand verliert im Theater das Bewusstsein für die Künstlichkeit der Situation. Gleichzeitig fühle ich etwas beim Betrachten, das tiefer sitzt und wirkt als meine Reflexion. Bei Brecht vermag es das Theater durch bestimmte Gesten, uns das Medium der Repräsentation selbst sichtbar zu machen, und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb bezaubert es. Für gewöhnlich sehe ich den Vogel vorm Fenster, aber nicht das Fenster, wie Thomas Metzinger sagt. Theater kann dafür ein Bewusstsein schaffen. Wobei es in der Kunst immer zwei Formen der Immersion gibt – die psychologische Erfahrung des Grenzverlusts, der Empathie, des Im-Anderen-Seins. Und dann den eher technischen Aspekt, der im Theater, in den digitalen Medien oder bei Konzerten eine bestimmte Aufführungskonvention beziehungsweise ein ganz eigenes Genre charakterisiert. Ich sitze, stehe oder bewege mich hier tatsächlich physisch mitten auf der Bühne, die Szene umgibt mich und steht mir nicht „objektiv“ gegenüber.
BL:Frédérique findet, dass ich eine sehr naive Art habe, Figuren auf die Bühne zu bringen, und meint: „Das ist vorbei, wir schwimmen auf einer postromantischen Welle.“ Denn man riskiert, das Publikum in eine Sache zu versenken; die Sache mit der vierten Wand, die zerstört werden muss …
FA:Das habe ich so nicht gesagt! Und es ist auch keine absolute Doktrin. Ich glaube nur, dass wir alle mittlerweile die Grenzen einer bestimmten Art von linearer Erzählung erkannt haben. Und wir Theaterleute und Autor*innen müssen daher neue Wege finden, Geschichten zu erzählen, weil die Akteur*innen auf der Bühne eben nicht nur menschliche Wesen sind. Es gibt diese Diskussion zwischen uns, weil ich denke, dass Bruno uns gedanklich auf einen neuen Weg führt, aber gleichzeitig sagst du, Bruno, immer: „Ich mag das alte Theater mit Figuren und einer Geschichte.“ Was sagst du dazu, Thomas?
TO:Im Kino mag ich das auch lieber, fürchte ich. Aber im Theater mag ich dieses Pendeln, von dem ich sprach, und das braucht eine modernere Form. Die sozusagen auch das Fenster zeigt, und nicht nur den Vogel. Frédérique, du selbst hast gerade beschrieben, dass du nicht nur Menschen, sondern auch Dinge, den Apparat des Theaters selbst auf der Bühne als Akteur zeigen willst. Das ist für mich eine der wirklich interessanten Entwicklungen im jüngeren Theater. Da, wo wir von „Immersion“ als eigener Gattung sprechen, stoßen wir auf ein Phänomen, das für mich „Worldbuilding“ ist, wie im Science-Fiction-Film oder beim Gamedesign. Werke wie die von SIGNA oder Vegard Vinge und Ida Müller bauen Räume, die Weltkapseln sind – Kosmen, in die man eintritt. Und alles, was dort passiert, ist gescriptet. Wie das in der Welt „draußen“ ja auch immer deutlicher wird: Es sind immer kontrolliertere Umgebungen. Kluge Künstler*innen können uns mit ihrem „Worldbuilding“ sehr weit in andere Verständnisweisen der Welt und von uns selber führen. Das alles ist geprägt von Echtzeit und echtem Feedback und ethisch zugleich sehr, sehr herausfordernd.
BL:Wie würdest du deinem Argument zufolge einen Vortrag charakterisieren? Frédériques Idee ist nämlich, mit dem Vortrag die vierte Wand zu durchbrechen, indem man sich an das Publikum wendet. Und natürlich in Echtzeit, weil man improvisiert. Würdest du den Vortrag wie Frédérique als fiktionalen Vortrag beschreiben? Oder weniger als fiktionalen, sondern als echten, denn ich halte echte Vorträge.
FA:Aber in einer theatralen Umgebung sind die Leute daran gewöhnt, dass Vorlesungen fiktional sind und wir uns über das akademische Format lustig machen oder damit spielen. Zugleich sind unsere performativen Lectures echte Vorträge, die einen Gedanken teilen, der gerade im Entstehen begriffen ist. Tino Sehgal entwickelt eine andere Art der Immersion – als ich sie in Kassel auf der documenta 13 entdeckte, war das etwas sehr Wichtiges für mich. Diese Erfahrung, wie Tino Situationen schafft, werde ich nie vergessen. Selbst wenn ich Vorträge inszeniere, was ein sehr frontales Format ist, versuche ich, solche Momente der Begegnung zu kreieren.
BL:Thomas, ist das nicht eine neue Theatergattung?
TO:Wenn du den Theaterbegriff sehr weit ausdehnst, was ich gut finde, dann ja. Vielleicht bist du in deinen performativen Lectures dem Verständnis des zeitgenössischen Tanzes nach eher ein Performer als ein Schauspieler. Denn du spielst keine Rolle, das Material der Rolle bist mehr oder weniger du selbst. Das Format des inszenierten Vortrags bringt philosophisches Staunen in das Theater, und dazu benutzt ihr beide alle Formen des Zeigens und Erzählens, die den komplexen Apparat der Bühne erfordern. Bei den Werken von Tino Sehgal würde ich sagen, dass er kein Portal braucht. Er geht in Ausstellungsräume, um hier als Live Art eine neue Form von Ritual zu schaffen. Ein Ritual ist immer eine immersive Begegnung, es ist nichts, was man von außen anschaut, sondern ein sozialer „Raum“, in den man eintritt. Tino schafft durch seine Form des choreografierten Verhaltens absorbierende Räume. In seiner Arbeit geht es nicht mehr um die Entfaltung von Konflikten und Narrativen, sondern um mäandernde Erfahrungen innerhalb einer spezifischen Situation. Die Realität der Situation ist dabei wichtiger als der Begriff der Entwicklung, ohne den beispielsweise Brechts Stücke nicht denkbar sind. Aber um zu deiner Frage zurückzukehren – ja, ich denke, es ist eine neue Theatergattung, genauso wie diese andere Form von Ausstellungen, die wir hier entwickelt haben. Deshalb passt unsere Arbeit vielleicht auch so gut zusammen.
Frédérique Aït-Touati ist Literaturwissenschaftlerin und Regisseurin, Bruno Latour ist Soziologe und Philosoph. Das Gespräch mit Thomas Oberender „Staging Gaia. Bühne, Klima und Bewusstseinswandel“ fand während der Vorbereitung der Ausstellung „Down to Earth“ 2020 statt. Die vollständige Fassung des Gesprächs ist auf einem Essayplakat im Rahmen von „Down to Earth“ erschienen.