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Traumerzählung
Der Regisseur und bildende Künstler Philipp Preuss über Gattungsmontagen, Überblendungen und die Freiheit der Kunst, sich zu verrätseln, im Gespräch
von Thomas Irmer und Philipp Preuss
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Akteure Schauspiel Leipzig
Philipp Preuss, Sie zeigen in Ihrem „Sommernachtstraum“, der 2015 am Schauspiel Leipzig Premiere hatte, einen Wald aus Überblendungen. Das steht nicht zuletzt in einer Tradition von Max Reinhardt, der in seiner Verfilmung von 1935 schon mit Überblendungen arbeitete. Bei Ihnen sehen die Bilder vor allem unheimlich aus.
Es sollen immer Doppelbilder sein, die nichts Erklärendes haben, sondern etwas Erratisches, Befragendes, Abgründiges, Albtraumhaftes. Mir geht es schon lange um die Traumerzählung im Theater, auch als Freiheit der Kunst, sich zu verrätseln. Das kann ins Psychedelische gehen, in den Surrealismus. Es müssen für diese Traumlogik verschiedene Elemente zusammenkommen, damit dieser „trippige“ Zustand entsteht: die Musik mit dem Spiel, mit dem Loslassenkönnen der Spieler. Wenn man in der Filmgeschichte zurückgeht, etwa zu Buñuels „L’ Age d’Or“ und „Der andalusische Hund“, dann war die Sprunglogik, die diesen Filmen eigen ist, ja eine Befreiung von den Konventionen der bürgerlichen Kunst. Dieser Sprunglogik – von in sich schlüssiger Bildfolge zur nächsten Bildfolge ohne direkte narrative Erklärung – muss man vertrauen. Wenn man das im Theater erreicht, kann es auch für den Zuschauer im Verhältnis zum Ganzen auf der Bühne befreiend sein.
Bei „Peer Gynt“, einer Produktion, die im Januar in Leipzig Premiere hatte, werden die Schauspieler mit einer stark verfremdenden Kamera gefilmt, die den Körper und vor allem das Gesicht in eine Art Negativbild verwandeln, sodass sie tatsächlich wie unheimliche Trolle aussehen.
Den Menschen als solch eine Kreatur erscheinen zu lassen, im Bewusstsein des Zuschauers, dass das ja live gespielt und gefilmt wird, macht den Effekt des völlig Ungewohnten, beinahe nicht Greifbaren aus. Der Schaum um Peer Gynts Limousine in unserer Inszenierung ist ja ebenso wenig greifbar und in permanenter Veränderung. Auch was seine Bedeutung betrifft: Eisberg, Geldhaufen, Wüste. Der Cadillac wiederum könnte auch ein Sarg sein. Das ist das Angebot einer psychogeografischen Interpretation. Das Bild dieser unfesten Schaummasse vermischt sich mit diesen invertierten, aus veränderten Farben und Konturen bestehenden Bildern. Es gibt dafür durchaus Vorbilder aus der Kunst und, assoziativ, aus dem Film, wir haben aber selbst natürlich den Ehrgeiz gehabt, ganz eigene Bilder zu schaffen. Es geht nicht um ein Generika-Theater, das seine Bilder bloß aus anderen Quellen abzieht und auf die Bühne bringt.
Die Stücke, die Sie inszenieren, stammen in der Regel aus dem klassischen Theaterkanon, sind also bekannt. Haben Sie manchmal Sorge, dass solche Strategien der Bildproduktion mit den Stücken nicht zusammengehen?
Das passiert oft und wird deshalb in den Proben durch ständiges Ausprobieren immer wieder verändert. Die Zusammenarbeit mit der Bühnenbildnerin Ramallah Aubrecht und der Live-Video-Gestalterin Konny Keller geht nicht von einem festen Entwurf aus, der dann einfach umgesetzt wird. Das ist ein sehr prozesshaftes Arbeiten, in dem ziemlich viel verworfen wird. Zusammen mit dem Team und mit den Spielern kommen wir durchs Fehlermachen erst darauf, wie es gehen kann. Im „Sommernachtstraum“ zum Beispiel haben wir so das Verschwinden der Gesichter im Dunkeln als filmischen Raum des Waldes entdeckt, was dann dem Zusammenspiel von Bühne und Screen seinen Rhythmus gab. Durch die Drehbühne passierte das Dunkel zunächst als Fehler, konnte dann aber zum richtigen Mittel werden. Für mich ist Video nicht einfach Tapete oder Ausschnittvergrößerung, sondern vor allem Bild und Skulptur in einem Raum. So, wie das Geschehen im „Sommernachtstraum“ auf dem vor der Bühne hängenden, halb durchsichtigen Screen zu sehen ist, kann es zugleich ganz anders erlebt werden. Das ist unsere Überblendung.
Würden Sie den Begriff der Überblendung generell auf die Verbindung von bildender Kunst und Theater anwenden?
Ich nenne das inzwischen eine Gattungsmontage. Ich habe mit Videofilmen angefangen und Theater lange als anderen Bereich betrachtet. Bevor ich ans Mozarteum Salzburg zur Regieausbildung ging, war ich ab 1993 in der Bregenzer Künstlervereinigung und habe dort vor allem Videoinstallationen gemacht. Zu der Zeit war weder das Theater für die bildende Kunst interessant noch umgekehrt. Deshalb wurden beide Genres allgemein als völlig verschiedene Welten angesehen. Ich erfand damals fiktive Künstler mit ihren real ausgestellten Werken. Die Künstler, also Avatare, wurden von Schauspielern gespielt und ich entwarf für sie das „künstlerische Denken“, mit dem sie dann biografisch gefärbt und selbst interpretierend ihre „Werke“ umgaben. Ich fand in diesen Entwürfen immer mehr Möglichkeiten der Inszenierung, wie zum Beispiel letztes Jahr bei „The Fair Play“, einer fiktiv-immersiven Kunstmesse mit realen Werken in der Baumwollspinnerei Leipzig. Zugleich erspielten sich die Schauspieler eine größere Freiheit, sich als Künstler zu begreifen und auszudrücken. So ist das eigentlich zusammengekommen.
Der Ursprung Ihres Theaters ist also die Theatralisierung der Kunst? Der zweite Schritt dann die Fortführung dieser Position durch die Inszenierung von Stücken als Performance?
Ja, und dabei ist eben ganz wichtig, dass jeder, der am Prozess einer Inszenierung beteiligt ist, vor allem die Schauspieler, in eine Autorenwarte kommen. In die Freiheit – wie etwa der Autor Fernando Pessoa – alles für sich zu erfinden und dabei die verschiedenen Möglichkeiten seiner Figuren zu sehen. Die Entwicklung dorthin lässt sich aber noch anders beschreiben. Erste Versuche mit meinem psychedelischen Theater gab es bereits in Dortmund. Da haben wir 2009 bei Marieluise Fleißers „Karl Stuart“ sehr stark mit Playback-Techniken gearbeitet, um diese historische Geisterwelt des Stoffs aus dem 17. Jahrhundert mit dem NS-Background der Stückentstehung und unserer Gegenwart zu verknüpfen und zu überblenden. Ramallah Aubrecht hatte dazu einen abstrakten schwarzen großen Raum aus Video- und Tonbandmaterial entwickelt. „Woyzeck“ am Deutschen Theater Berlin 2008 war auch schon ein Albtraumtrip zwischen „Militainment“, Kollektiv und dem Einzelnen. Das Interesse an dem psychedelischen Theater hat in Frankfurt dann stark zugenommen. Zunächst bei „Alice“ mit Valery Tscheplanowa und dem Musiker Kornelius Heidebrecht. Da sind wir auf sehr viele Elemente gestoßen, die wir jetzt weiterführen. Valery hat damals alle Figuren alleine gespielt und ist permanent in Figuren rein- und zurückgemorpht, wobei Figuren hier auch immer Zustände waren, psychisch wie physisch. Die Spielfassung war ein permanenter Fluss der Verschiebungen und Verwandlungen, der Logik des Unsinns folgend. Dazu kam der Einsatz der Musik als eigenständige Narration. Diese Ästhetik des psychedelischen Sogs haben wir dann bei „Käthchen“ mit Valery Tscheplanowa, Nico Holonics und einem zwanzigköpfigen Chor auf der großen Bühne noch radikalisiert. Der Abend begann mit dem Tod der beiden, ein wenig an den Selbstmord Kleists und Henriette Vogels am Kleinen Wannsee erinnernd. Hier entstand auch die Idee der schauspielerischen und inszenatorischen Autorenperspektive: sich die Freiheit der Imagination zu nehmen wie Kleist an seinem Schreibtisch, Figuren im Kopf zu erfinden, bevor alles auf Papier verfasst ist. Valery konnte diese Texte, Figurenideen und Zustände extrem nah an sich heranziehen. Ein Schauspieler kann eigentlich immer auch ein Performer sein, ein Performer aber nur selten ein Schauspieler. Es geht im Spiel um die Verwandlung, die Metamorphose, den Metabolismus. Spiel ist immer Angriff auf Identität.
Mit „The Order of Appearance“ haben Sie im Mai in Leipzig eine Reihe von Applausordnungen inszeniert, also genau diesen nicht mehr ganz bestimmbaren Moment zwischen Spiel und Nichtmehr-Spiel, Figur und Darsteller, das Ende der Fiktion als Noch-Performance.
Ich habe mich immer über das Ritual von Applausordnungen gewundert. Nach den krassesten Stücken und wildesten Inszenierungen gibt es immer noch eine schöne Applausordnung. Im Grunde eine Rückkehr zur bürgerlichen Ordnung und meistens die Abbildung einer Hierarchie in dem vorher zu sehenden Kunstwerk. In historischer Abfolge der Dramatik stehen da die zerstörten und meist ja auch toten Figuren – von Antigone über Hamlet bis hin zu den Dramatis Personae aus der „Publikumsbeschimpfung“ – für den Schlussapplaus wieder auf. Das ist eine Choreografie in einem Zwischenbereich, die mich sehr interessiert. Eigentlich eine Performance am Ende des Theaters, denn die Auftretenden werden ja in der Regel als Andere ihrer Selbst bewundert, nicht mehr direkt als Figur. Mit dieser bewegten Skulptur fängt für mich das ganze Spiel im Ursprung noch einmal an. //