Festivals
Integriert euch nicht!
Die Wiesbaden Biennale sprengt die Grenzen des Theaters und des guten Geschmacks
Erschienen in: Theater der Zeit: Nino Haratischwili: Fürchtet den Frieden (10/2018)
Assoziationen: Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Früher war alles schöner: Vor zwei Jahren noch sonnte sich Wiesbaden im Kunstgenuss. Zur Biennale verstreute sich hübsch selbst gebasteltes Mobiliar im Park hinterm Theater, nur vereinzelt grasten dort Nilgänse auf dem Grün, und über der Kurstadtidylle baumelte das verheißungsvolle Festivalmotto „This is not Europe“ launig im Wind. Das tat niemandem weh, sah gut aus, und nachhaltig schien es auch zu sein. Diesmal ist es anders: krasser, uncharmanter, böser, und die beiden Kuratoren Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer haben schlechte Nachrichten im Gepäck. „Bad News“ lautet das vollmundige Motto. Erklärtes Ziel von Anfang an: das Festival herauszufordern, produktionstechnisch, moralisch sowie die Autorenschaft betreffend.
Zur Erinnerung: Hervorgegangen ist die Wiesbaden Biennale aus dem von Manfred Beilharz und Tankred Dorst erdachten Festival für europäische Gegenwartsdramatik „Neue Stücke aus Europa“, bei dem Autoren und Texte ausdrücklich im Vordergrund standen. Ludewig und Hammer interessieren sich indes nicht für Texte und höchstens ein bisschen für Autoren. Den meisten Wirbel dürfte ihre auf dem Platz der Deutschen Einheit aufgestellte Erdoğan-Statue entfacht haben, das Werk eines ungenannten Künstlers, bei dem es sich wohl um den Schweizer Christoph Büchel handelt. Auch der eingeladene bekannte Street-Art-Künstler Vincent Glowinski, der unter dem Pseudonym Bonom in nächtlichen Aktionen Häuserwände bemalt, arbeitet gerne undercover. Nicht wer das Kunstwerk erschafft, sondern was es auslöst, interessierte diese Biennale. Dass die Anonymität die Künstler auch vor Verfolgung schützt, ist klar.
Dabei ist es kein Zufall, dass dieser Festivaltext mit zwei bildenden Künstlern beginnt, frönte die Wiesbaden Biennale doch diesmal noch expliziter als beim vergangenen Mal einem erweiterten Begriff von Theater, der weniger den Werken einzelner Künstlerinnen und Künstler als vielmehr dem Gesamtkunstwerk und -zusammenhang applaudierte. Vom Theater im herkömmlichen Sinne blieb da nicht viel übrig. So konnte es kommen, dass das Dokumentartheaterstück „Five Easy Pieces“ von Milo Rau und die Performance „Creation“ von Gob Squad die mit Abstand konventionellsten Gastspiele im diesjährigen Programm waren. Dazu passte es gut, dass die Stadt dem Festival diesmal zusätzlich den Etat des Wiesbadener Kunstsommers, immerhin 200 000 Euro, zubilligte. Mit den 770 000 Euro vom Land Hessen, weiteren 200 000 Euro von der Stadt und anderweitig beantragtem Geld summierte sich der Etat auf 1,5 Millionen Euro. Genug, um elf Tage lang ein übervolles Programm an unterschiedlichen Orten der Stadt aufzufahren.
Unumstrittener Geheimfavorit war Dries Verhoeven, der schon bei der Biennale 2016 mit seinen aufwendigen Beerdigungen für stetige Höhepunkte sorgte. Diesmal zeigt er den ersten Teil seiner vierteiligen Videoarbeit „Guilty Landscapes“. In eine schon lange verwaiste Filiale der Volksbank an einer schmuddeligen Straßenecke im Westend dürfen Besucher nur einzeln hinein. Im Hintergrund eine große Leinwand, davor ein achtlos ausgeschnittener Teppich. Ohrenbetäubender Lärm füllt den Raum. Eine der Fabrikarbeiterinnen auf der Leinwand nimmt sofort auf wundersame Weise Kontakt auf, beäugt einen und winkt einen heran, bittet später darum, sich quasi neben sie auf den Boden zu legen. Ein extrem intimer Moment entsteht, der nicht nur gewahr werden lässt, wie eingebildet die Kontaktaufnahme mit dem Elend der Welt ist, sondern auch die zentrale Frage des Festivals stellt: Wer schaut wie und warum auf was?
Nicht nur die üblichen Theaterverdächtigen galt es dabei diesmal fürs Festival zu interessieren. Die Außenspielstätte Wartburg etwa wurde zur migrantischen Mehrzweckhalle. Unter dem schönen Label „Migrantenstadl“ bot die Autorin und Aktivistin Tunay Önder ein üppiges Programm aus Filmen, Diskussionen und Kabarettprogrammen, zum Finale gab es noch echte Boxkämpfe. Auch die nach dem Aufruhr um die Erdoğan-Statue geforderten moderierten Gespräche fanden dort ein dankbares Forum. „Integriert euch nicht!“ rüpelte das Plakat auf der Außenfassade und bildete einen netten Kontrast zur blassen Aufforderung „Integrationskurs? Jetzt anmelden!“ auf der anderen Straßenseite. Das Plakat an der Wartburg durfte an diesen elf tollen Tagen auch als Aufforderung an die Kunst verstanden werden, sich nicht assimilieren, glattbügeln oder unterordnen zu lassen. Das Nicht-Moderierte und Nicht-Moderate gehörte zu dieser Biennale wie die öffentliche Aufregung, die sich in so manch einem Lokalzeitungsaufmacher niederschlug. Da wunderte es nicht, dass auch der düstere Parcours in der längst stillgelegten City-Passage auf Kundenfreundlichkeit verzichtete. Ohne Wegweiser suchten sich die Besucher ihren Weg durch das verdreckte Gebäude. Im ersten Stock, wo einst ein China-Restaurant logierte, vollführen Tetsuya Umeda und Yosuke Amemiya herzerwärmend sinnlose Arbeiten, während in einer kleinen Kammer Wasser schönste Schattenspiele und Soundcollagen an die Wand plätschert. Im Untergeschoss entfaltet der Dienstleistungsgedanke dann sein dystopisches Potenzial: In einer ehemaligen Schlecker-Filiale haben einsatzbereite Drohnen das Kommando übernommen, die per Bewegungsmelder aufbrausen. Ausgedacht haben sich das Rabih Mroué und Dina Khouri. Wer sich durch die stinkenden Gänge traut, entdeckt im hintersten Winkel eine Videotapete, auf welcher der Himmel voller Drohnen hängt. Das zweite Festivalmotto lautete „Hinterland“, und die City-Passage war ihr Herzstück.
Namhafte Künstlerinnen und Künstler wie Markus Öhrn, Roger Ballen, Thomas Bo Nilsson und Julian Eicke bespielten die heruntergekommenen Räume. Darunter auch die österreichische Tänzerin und Choreografin Florentina Holzinger, die im ehemaligen Spaghetti House eine Ballerina an die Stange zwang. Während sich die Zuschauer zu ihren zertanzten Füßen versammeln, reflektiert sie die eigene Marktgängigkeit und den Preis ihrer angeblichen Makellosigkeit.
Auf der anderen Seite erfuhr das Hessische Staatstheater selbst eine aufwendige Um- beziehungsweise Nachnutzung. Im neobarocken Foyer eröffnete tatsächlich ein echter Rewe-Supermarkt mit allem Drum und Dran, die Sensation dieser Biennale. Endlich, so konnte man meinen, bewies das Theater mal allgemeingesellschaftliche Relevanz. Hemmschwellen wurden auch im Großen Haus abgebaut, das auf Autokino machte. Ausgewählte Vehikel durften auf der Bühne parken, während das Kleine Haus sehr peinlich als Baustelle zurechtgemacht war. Als viel ergiebiger erwies sich das im Studio eingerichtete Pornokino, in dem etwa Kim Noble, Katy Baird, Samira Elagoz ihre Erfolgsproduktionen zeigten und wo auch die umwerfende britische Performerin Rosana Cade zur One-Woman-Show unter vier Augen lud. In „My Big Sister Tought Me This Lapdance“ umgarnt sie die Besucher erst nach allen Regeln der kommerziellen Verführungskunst, um danach den Menschen hinter der Tänzerin zu offenbaren. Nicht einmal zwanzig Minuten dauert diese Performance, die den eigenen Blick auf sich und andere schult und ebenso viel über Geschlechterverhältnisse wie übers Frausein erzählt. Die Dienstleistungsfunktionen der Kunst jedenfalls wurden bei dieser Biennale, egal ob im muffigen Pornostudio oder auf der Straße, in alle Richtungen befragt. Dabei wurden die Tabus und Bruchlinien unserer Gesellschaft, wenn schon nicht elegant, so doch wie nebenbei entblößt. //