Prozesse
Was tut Klaus Wildenhahn beim Filmen von Pina Bausch und ihren Tänzern in Wuppertal?
Das Making Of als Ethnografie von Probenarbeit
von Annemarie Matzke
Erschienen in: Recherchen 91: Die andere Szene – Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm (07/2014)
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Tanz Dossier: Bühne & Film
Der Titel meines Beitrags zitiert den Titel des Films, um den es im Folgenden gehen wird. Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal? (1983) ist der Titel einer Dokumentation von Klaus Wildenhahn, die damit auch eine Frage ins Zentrum stellt. Dokumentiert werden die Proben des Tanztheaters Wuppertal für die Inszenierung Walzer (1982) unter der Leitung von Pina Bausch; gefragt wird nach einem konkreten Arbeitskontext: nach Pina Bausch und nach ihren Tänzern. Nicht das Tanztheater Wuppertal allgemein oder die Choreografin Pina Bausch allein stehen im Fokus. Und nicht die Probe, die Choreografie oder der Tanz werden im Titel genannt, sondern mit dem Verweis auf das „Tun“ wird der Blick auf eine allgemeine Ebene gelenkt. Gefragt wird nach verschiedenen Formen von Tätigkeiten und Handlungen, und damit wird der Fokus bereits über die Probebühne und die künstlerische Arbeit hinaus erweitert. Vor allem aber setzt der Film dieses „Tun“ in eine Beziehung zur Stadt Wuppertal. Hier zeigt sich die Mehrdeutigkeit des Titels. Denn dieser lässt sich auch als erstaunte Frage lesen: Was machen die da eigentlich in Wuppertal? Warum Wuppertal? 1982, zu einem Zeitpunkt, als das Tanztheater von Pina Bausch schon weltweit tourt, ist es bemerkenswert, dass die Arbeit an diesen erfolgreichen Inszenierungen nicht in Berlin, Hamburg oder New York stattfindet, sondern in der Arbeiterstadt im Bergischen Land. Welche Bedeutung also hat der Probenort für die künstlerische Arbeit?
Und schließlich ist der Titel noch auf einer weiteren Ebene Programm: Der Regisseur des Films inszeniert sich damit selbst als Fragender, der auf etwas ihm Fremdes blickt. Er weist sich selbst und den Zuschauern die Rolle der Unwissenden zu. Präsentiert wird die Inszenierung eines ethnografischen Blicks auf die Probenarbeit, der auch eine Erkundung der eigenen filmischen Arbeit ist.
Prolog
Am Beginn des Films steht ein Pas de deux. Nicht von zwei Tänzern präsentiert und ohne sorgfältig einstudierte Bewegungssequenzen; gezeigt wird vielmehr ein Gespräch, lesbar als Duett aus Alltagsgesten, Bewegungen der Hände und Oberkörper, Floskeln und deren Erwiderungen. An einem Tisch im Probenraum sitzen sich Pina Bausch und der Kritiker Waldemar Hirsch gegenüber.
Pina Bausch und Kritiker
Waldemar Hirsch: „Ich habe mich zu bedanken.“
Pina Bausch (nur von hinten zu sehen) fährt sich durch die Haare, lacht und wehrt ab.
Waldemar Hirsch: „Nein, nein. Diese zehn Minuten. Nein, nein, Sie müssen sich ja konzentrieren auf ihre Arbeit, bei Ihrer vielen Arbeit …“
Pina Bausch: „Ja. Ja, das stimmt … Aber diese ersten Sachen, die Sie mich gefragt haben, die kann ich nicht präzise sagen, da müsste …“ Waldemar Hirsch winkt ab, packt seine Sachen.
Off-Stimme: „Wir kamen pünktlich zur Probe und doch zu spät. Die Unterhaltung war vorbei. Pina Bausch mit einem Kritiker, Waldemar Hirsch. Schöne Gelegenheit, um ein Gespräch aufzunehmen. Verpasst.“
Waldemar Hirsch: „Es ist jedenfalls ganz reizend, dass Sie das gemacht haben inmitten Ihrer vielen Arbeit … Wo Sie sich doch schöpferisch auf alles so konzentrieren müssen … es waren für mich zehn gravierende Minuten meines Lebens … das ja schon sehr alt ist … Ich möchte Ihnen danken und weiter Glück wünschen.“
Off-Stimme: „Selber fragen wollten wir nicht. Keine Abfragerei, sagte ich mir.“
Es folgt der Titel: „Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal?“ Erzählung und Ton: Klaus Wildenhahn
Am Anfang steht ein Ende: „Wir kamen pünktlich zur Probe, und doch zu spät.“ Der Film beginnt mit einer Leerstelle: ein Interview, das bereits vorbei ist, das stattgefunden hat, aber nicht gezeigt wird. Dieser Verlust wird als irreversibel erklärt: Nichts werde rekonstruiert, wiederholt. Am Anfang des Films steht die Problematik des Dokumentierens, das immer auch mit dem bereits Verpassten umgehen muss. Präsentiert wird dabei auch die Position der Filmemacher, vorgestellt als ein „Wir“, das zu spät kommt, nicht abfragen will. Ein „Wir“, das mit den folgenden Titeln als Klaus Wildenhahn und sein Kameramann Wolfgang Jost identifiziert wird. Im Kommentar wird das eigene dokumentarische Programm erklärt. Der Filmemacher inszeniert sich selbst als Probenden, der zwar ein Konzept hat, das er aber improvisierend der Situation anpassen muss. Der Film über das künstlerische Tun präsentiert sich somit als ein probierendes, suchendes Filmen.
Wie das Interview mit Pina Bausch – und damit Bauschs Antworten und Erklärungen zu ihrer Arbeit – im Film Leerstelle bleibt, wird auch ein direkter Blick auf sie verwehrt. Sie ist nur von hinten zu sehen, erkennbar an den langen Haaren, aber kaum hörbar in dem, was sie sagt. Mit den Dankesbekundungen des Kritikers wird dabei das Bild der genialen Künstlerin aufgerufen, die Einblick in die Geheimnisse ihrer Probenarbeit gewährt hat. Bausch steht dabei im Fokus, ohne sich selbst zu zeigen. Verwiesen wird auf die Projektionen über sie: In der Demut des Kritikers und seinem Dank für die Möglichkeit des Probenbesuchs, für die gewährte Zeit, wird das Bild eines schöpferischen Genies, das sich abgerückt vom Alltag entfaltet, beschworen. Es ist ein Künstlerbild, das der Film zeigt und zugleich unterläuft, indem er Pina Bausch keine Stimme gibt. Markiert wird damit auch, was Wildenhahns Dokumentation nicht sein will: „Keine Abfragerei.“ Die Künstlerin selbst wird bewusst nicht befragt, sondern eine Situation der Beobachtung etabliert, die an der Entmystifizierung künstlerischen Schaffens arbeitet. Auch dafür steht die Frage zu Beginn: „Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal?“
An das verpasste Interview schließen sich weitere Anfänge an: das nachgeholte Interview mit dem Kritiker, in dem diesem die eigenen Fragen gestellt werden. Präsentiert wird dies als ein Nachwort, das an den Anfang gestellt wird: eine Reflexion über die Arbeit des Tänzers, die Schwierigkeit, als Tänzer alt zu werden, und über die Besonderheit der Arbeiten von Pina Bausch. Waldemar Hirsch stellt die These auf, dass die Arbeitsweise Pina Bauschs den Tänzern eine längere Arbeitsbiografie ermögliche: „Die Bausch gibt uns die Chance, auf dem ganzen Fuß zu tanzen. Und so länger zu tanzen und damit auch individueller und persönlicher werden zu können.“1
Es folgt eine Probensituation, in der nicht getanzt, sondern freudig Geburtstag gefeiert wird. Wieder ist eine Tänzerin älter geworden. Aufgerufen wird dabei das Bild der Choreografin als Leiterin des Ensembles. Es ist keine private Situation, die Rollen zwischen Choreografin und Ensemble sind klar verteilt, Pina Bausch definiert die Situation. Sie ist die Einzige, die per Umarmung gratuliert und den Pianisten auffordert, ein Ständchen zu spielen. Die Tänzer schauen zu und singen mit. Dennoch wird mit der Feier des Geburtstags die Grenze von Arbeit und Privatem in Frage gestellt. Dann folgt der Schnitt auf ein Plakat: Willkommen Wuppertal, die Schwebebahn ist zu sehen. Radionachrichten sind zu hören. Dann werden Blicke in Schaufensterauslagen präsentiert und Kamerafahrten durch das nächtliche Wuppertal gezeigt: eine erste Erkundung dieser Stadt, zeitlich verortet im Jahr 1982.
Dabei werden alle späteren Motive des Films aufgerufen: das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, der gesellschaftliche Kontext der künstlerischen Arbeit, die Endlichkeit von Arbeitsbiografien, die sich im Besonderen am Tänzerkörper manifestiert, die Überlagerung der Sphären von Arbeit und Nicht-Arbeit.
Gespielt wird mit den Topografien künstlerischer Arbeit: die Anordnung der Tänzer im Probenraum und die Verortung des Ensembles in der Stadt Wuppertal. Nicht nur Pina Bausch als Choreografin oder ihre Tänzer werden beobachtet, der Film ist auch eine inszenierte Expedition in die scheinbar fremde Stadt Wuppertal. Die explorierende Bewegung der Filmenden wird mit der Fahrt durch Wuppertal in Szene gesetzt. Thematisiert wird der Ansatz des Films: Nicht nur der Blick auf das Tanztheater – „augenscheinlich isoliert“2 – soll gezeigt werden, sondern die Beobachtungen zielen auch auf das politische Zeitgeschehen und den gesellschaftlichen Kontext. Vorgestellt wird das Konzept einer künstlerischen Arbeit, die in ihrem historischen und geografischen Kontext zu lesen ist, die einen spezifischen Ort und eine spezifische Zeit hat.
Durchgehendes Prinzip des Films ist die Montage verschiedener „Bruchstücke“, wie Wildenhahn selbst sie nennt. Aufnahmen von Proben des Tanztheaters werden neben Ansichten von Wuppertal gestellt, Probengespräche neben Interviews mit der früh verrenteten Wuppertaler Arbeiterin Ruth Grün, die über ihre Arbeit am Fließband erzählt, Tanzveranstaltungen am Ersten Mai werden gegen Bilder der Schwebebahn geschnitten. Über Straßenbilder wird ein Text von Else Lasker-Schüler gelegt, einer Tochter Wuppertals, in dem sie die Verstaatlichung der Künste fordert. In einem Imbiss zeigt ein Fernseher eine Sendung zum Tode von Peter Weiss. Es wird aus der Ästhetik des Widerstands gelesen. In der Mitte des Films werden die Namen aller Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles genannt, ihre Herkunft aus unterschiedlichen Ländern wird dabei offensichtlich. Dann gibt es wieder einen Schnitt auf Wuppertal, auf die Trostlosigkeit von Mietskasernen, auf feiernde Migranten. Die Internationalität des Tanzensembles wird neben den Alltag der Gastarbeiter gestellt. Immer neue Kontexte werden eröffnet und miteinander in Beziehung gesetzt. Die Klammer des Films bleibt jedoch immer Wuppertal im Jahr 1982.
In dieser Überlagerung der verschiedenen Kontexte wird die Frage nach dem „Tun“ weiter geschärft: als Frage nach Konzepten von Arbeit, nach dem, was zur Arbeit gezählt wird, nach den Körpern der Arbeitenden, nach Arbeitszusammenhängen und ihren Inszenierungen. Ebenso wird die Frage nach dem Tun des Filmemachers bei der Arbeit am Film aufgeworfen. Es ist, das wird immer deutlicher, ein Film über Arbeit, den Wildenhahn hier gedreht hat – die Arbeit an der Inszenierung Walzer, an gesellschaftlichen Konzeptionen von Arbeit und Kunst und auch über die Arbeit am Film selbst.
Klaus Wildenhahn hat als Dokumentarfilmer in seinem umfangreichen Œuvre immer wieder Arbeitskontexte porträtiert: industrielle, politische, aber auch künstlerische. Geprägt sind diese „Arbeitsbeobachtungen“3 von einer spezifischen Perspektive auf das künstlerische Produzieren:
Ich habe versucht, der Arbeit der Tanztruppe, des Komponisten, des Jazzers gerecht zu werden. Und gleichzeitig etwas darüber mitzuteilen, daß Künstler auch eine Arbeit leisten. […] Es war mein Bestreben, Kunst als Arbeit zu zeigen. […] Es gibt immer nur ein Auge, das Kameraauge, das die Position hält und den Menschen bei seiner Arbeit beobachtet. Das ist dann gleichzeitig eine Reflexion über die eigene Arbeit. Daß man zeigt, wie Sachen hergestellt werden, Kunst nicht als Mythologie, sondern als Arbeitsprozess.“4
Kunst und Arbeit werden hier in einen gemeinsamen Kontext gesetzt und als Produktionsprozess untersucht. Dieser Prozess des Produzierens schließt immer auch den Filmenden selbst ein, der seinerseits an einer Inszenierung dieser Arbeitsabläufe arbeitet. Er beobachtet nicht einfach nur, sondern kartiert die Beobachtungssituation, wählt Szenen und Material aus, montiert die Aufzeichnungen und schafft dem Herstellungsvorgang einen Rahmen. In dieser Form der Inszenierung werden nicht nur Vorstellungen von Arbeit formuliert, sondern das eigene Tun im Beobachten, Reflektieren und Inszenieren wird selbst thematisch und im Abgleich mit der künstlerischen Arbeit anderer reflektiert.
Damit ist zugleich ein ästhetisches Programm formuliert. Wildenhahns Dokumentationen von künstlerischen Prozessen lassen sich in diesem Sinn als Making of verstehen, als Darstellung des Herstellungsvorgangs eines künstlerischen Werks. Deutlich wird dabei, dass die künstlerische Arbeit hier nicht nur gezeigt, sondern dass sie im Medium Film wiederum selbst inszeniert wird.5 Insofern geht es nicht allein um die Bilder, die beispielsweise von den Tanzproben gezeigt werden; vielmehr ist die Reflexion über die eigene Arbeit auch mit der Frage befasst, unter welchen Bedingungen diese Bilder hervorgebracht und inszeniert werden und welche eigenen Vorstellungen von künstlerischer Arbeit dabei formuliert werden. Das Beobachten und Beschreiben im Film wird zur eigenen künstlerischen (Forschungs-)Methode.
Aus theaterwissenschaftlicher Sicht kann so die Analyse eines Making of als Darstellung von Probenprozessen eine neue produktionsästhetische Perspektive eröffnen. In der Theaterwissenschaft finden sich nur vereinzelt Ansätze zur Probenforschung, wobei allerdings selten konkrete Probenprozesse untersucht worden sind.6 Es herrscht tendenziell eine gewisse Ratlosigkeit darüber, wie Proben aufgrund ihres langen Zeitraums überhaupt beobachtet werden können.
Hier kann der Blick auf andere Formate neue Ansätze liefern. So geben beispielsweise Dokumentarfilme über Proben nicht nur Einblick in die entsprechenden künstlerischen Prozesse, sie formulieren auch Konzepte dazu, wie Arbeit am Theater aussieht. Zugleich reflektieren sie im besten Fall die eigene Beobachtungssituation, so wie es Wildenhahn für seine eigenen Filmprojekte beschreibt. Diese lassen sich so als filmische Ethnografie von Probenarbeit begreifen, die nicht nur die eigenen Methoden der Beobachtung nutzt, sondern diese auch inszeniert, offenlegt und reflektiert.7 Aus diesem ethnografischen Interesse ergeben sich spezifische Fragen an den Film: Wie beobachtet Wildenhahn den im Titel aufgerufenen Arbeitszusammenhang? Wie strukturiert und präsentiert er seine Beobachtungen? Welche Verfahren und Techniken werden auf der Probe entdeckt und wie werden diese im Film übernommen? Kurz: Was also tut Klaus Wildenhahn beim Filmen von Pina Bausch und ihren Tänzern in Wuppertal?
Probenbeginn
Wuppertal, die Lichtburg.
Off-Stimme: „Gegenüber vom alten Markt, dort, wo die Friedrich-Engels-Allee endet: Das ehemalige Kino von Barmen, die Lichtburg. Im Erdgeschoss: ein Bierausschank, zweimal Schnellimbiss.“
Schnitt: Die Kamera ist selbst im Bild. Sie liegt im Treppeneingang des Gebäudes. Seitlich ist ein Pina-Bausch-Plakat zu sehen.
Off-Stimme: „Im ersten Stock, im alten Kinosaal: die Probebühne des Tanztheaters.“
Eingeblendet wird der Titel „1. Probentag“
Off-Stimme: „Frühjahr 82, die Arbeit für ein neues Stück beginnt. Wir zeigen, wie eine von zehn Aufgaben dieses Tages gestellt wird, und die Antwort einer Tänzerin. Wieder mal ein Anfang.“
Nach diesem Prolog wird nun der Beginn der Probenarbeit gezeigt: Vorgestellt wird der Ort der Proben. Die Lichtburg und der Probenraum werden als Orte innerhalb Wuppertals thematisiert, in ihrer Nachbarschaft zu Pommes-Buden und Spielsalons. Der historische Ort der Probe nimmt die Fragestellung des Films auf. Es ist ein Kino, in dem keine Filme mehr gezeigt, sondern Choreografien erarbeitet werden. Immer wieder wird später die leere Leinwand als Hintergrund dieser Probenarbeit zu sehen sein.
An zweiter Stelle wird auf den zeitlichen Rahmen der Proben verwiesen. Über einen Zwischentitel ist der Beginn des Prozesses markiert, gesetzt mit dem ersten Probentag. Diese Zwischentitel, die im Verlauf des Films immer wieder gesetzt werden, verweisen auch später auf die Chronologie des Probenprozesses. Zunächst ist aber interessant, was diesem ersten Probentag in der Dramaturgie des Films vorangestellt ist: nicht nur das gezeigte Interview, der Geburtstag im Probenraum, die Bilder von Wuppertal, sondern auch Aufzeichnungen der Inszenierung Bandoneon, der vorausgehenden Choreografie von Pina Bausch, die 1980 ihre Premiere hatte, Aufnahmen einer Demonstration zum Ersten Mai, ein Titel „Das Tanztheater Wuppertal“. All dies geht dem ersten Probentag voraus. Der so genannte Anfang der Probe, der erste Probentag, erscheint mehr und mehr als willkürlich gesetzt. Zwar folgt der Film scheinbar einer Chronologie der Probenarbeit, indem er die Probentage in ihrer chronologischen Abfolge zeigt, aber er verweigert die Setzung eines Beginns des Prozesses und damit auch die Erzählung eines Fortschritts und Fortschreitens des Probenprozesses im Sinne einer Produktion, die von einem klar definierbaren Startpunkt auf die Premiere zuläuft und mit ihr abgeschlossen ist. So wird am Ende der Dokumentation auch nicht die Premiere gezeigt werden, sondern die Abreise der Tänzer aus Wuppertal. Sie fahren für die Endproben nach Amsterdam. Die Choreografie wird bei Wildenhahn nie als vermeintlich in sich geschlossenes Werk präsentiert. Es wird vielmehr die Frage nach der Dramaturgie eines Probenprozesses aufgeworfen.
Eine mögliche Darstellung von Probenprozessen ist, sie als lineare Erzählungen zu präsentieren: als Produktion eines Werks. Konzeption und Casting, der erste Probentag werden als Exposition präsentiert, die Krise als Umschlagpunkt gesetzt, die schließlich ihre Auflösung in der Premiere findet. Wildenhahn entwirft ein anderes Konzept der Probenzeit. Jedem Probenprozess geht immer schon Arbeit voraus, sind vorher getroffene Entscheidungen vorangestellt. Der erste Tag ist hier kein Beginn. So liegt vor der Inszenierung Walzer die Inszenierung Bandoneon, die Einfluss auf die Arbeit an der folgenden Choreografie nimmt. Vor Wildenhahns Film wiederum liegen bereits andere Beobachtungen und die Dokumentation anderer Probenarbeiten. In der Setzung eines Anfangs wird zugleich die Frage nach der „Beginnlosigkeit“ (Botho Strauß) allen Produzierens gestellt, ein Produzieren, das weder Anfang noch Ende kennt.8
Nachdem mit der Lichtburg in Wuppertal der Probenraum vorgestellt und per Titel auf den ersten Probentag verwiesen wurde, kündigt der Off-Kommentar eine Probensituation an, deren Durchführung im Folgenden gezeigt wird. Pina Bausch gibt eine Aufgabe. Die Tänzer sollen einen einfachen Satz aufschreiben und ihn dann stumm und mit Gesten präsentieren. Sie nehmen die Aufgabe auf, proben mögliche Antworten; diese werden vorgeführt, korrigiert und wiederholt. Zu sehen ist eine Gesprächs- und Arbeitssituation mit klar verteilten Rollen: die Choreografin, die eine Aufgabe stellt; die Tänzer, die nachfragen und Kommentare geben, erst einmal ratlos scheinen; Versuche, die Aufgabe für sich zu lösen, und schließlich das Vorführen vor der Choreografin und dem Rest des Ensembles. Es ist ein diskursiver Arbeitsprozess mit und am Körper.
In Szene gesetzt wird die Probe als ein Arbeitskontext, der für den beobachtenden Filmemacher nur in Ausschnitten in den Blick zu bekommen ist. Zu sehen ist Pina Bausch sowie im Hintergrund einige kaum zuhörende Mitarbeiter. Dann gibt es einen Schnitt auf die Tänzerin Mechthild Großmann, während sie Pina Bausch zuhört. Das Vorführen der Aufgabe durch die Tänzer klammert die Gesichter aus, die das Vorgeführte beobachten. Aktion und Reaktion auf etwas können nie gleichzeitig gezeigt werden. Jede Probenbeobachtung impliziert die Leerstelle dessen, was nicht gezeigt wird.
Die Probe lässt sich somit als Aufführungssituation beschreiben, die ein je spezifisches Theater der Blicke inszeniert: im Vorgeben und Nachmachen, im Präsentieren und Betrachten, im Zeigen und Kommentieren. Tun und Reflektieren stehen nebeneinander, zeitlich wie räumlich. Präsentiert als diskursiver und kollektiver Arbeitszusammenhang entzieht sich das Proben damit einer einzelnen Perspektive: Der Blick der Tänzer auf Pina Bausch, ihr Blick auf die Tänzer – beides überlagert sich und konstituiert die Probensituation. Dies zeigt sich an den von Wildenhahn gewählten Einstellungen, die immer auch auf die Leerstelle verweisen, die sie nicht zeigen. Dabei nimmt der Blick der Kamera weder die subjektive Perspektive einzelner Tänzer noch die der Choreografin oder die eines vermeintlichen Zuschauers ein. Im Gegenteil, die Kamera sucht sich einen eigenen Platz. Die beobachtende Arbeit des Filmenden selbst wird als eine Abfolge von Seitenblicken inszeniert. Es ist ein Einblick, der niemals das ganze Geschehen zeigen kann und seine Beschränktheit immer schon mit ausstellt.
Pina Bausch spricht mit den Tänzern im Probenraum
Die Probenarbeit organisiert so den Raum. Der Probenraum wird dabei über weite Teile als klar gegliedert gezeigt. Ein Teil dieses Raumes gehört dem Zeigen und Machen. Es ist die Szene, die die Tänzer betreten, um ihre Lösung der Aufgaben zu zeigen. Im Gegenüber präsentiert sich ein Raum des Schauens und der Beobachtung. Die beiden Zonen des Probenraums sind nicht Funktionen – Choreografin und künstlerische Mitarbeiter auf der einen Seite sowie Tänzern auf der anderen Seite – zugeordnet, sondern Tätigkeiten.
Rahmungen der Probe
Titel: „11. Probentag“
Präsentiert wird eine zunächst unklare Probensituation: Pina Bausch tanzt im Probenraum herum und isst dabei ein Brot, Barockmusik ist zu hören, Bühnenarbeiter gehen durch das Bild, andere Tänzer kommen dazu, tanzen miteinander, deuten Gesten im Takt der Musik an, Tanzfiguren werden ausprobiert; es beginnt ein Spiel mit Handgesten. Dagegen wird eine andere Situation montiert: In Großaufnahme werden die Hände von Pina Bausch gezeigt, die in ihren Notizen blättert. Sie hält eine Zigarette in der Hand. Gezeigt wird das Lesen der Aufzeichnungen aus früheren Proben, ein Ausprobieren des Aufgezeichneten mit den eigenen Händen, das Durchspielen von Möglichkeiten. Es folgt ein weiterer Schnitt auf eine andere Szene. Zu sehen ist eine Improvisation: Zwei Tänzer tanzen mit ihren Händen einen Tango, in dem die Gesten aus der vorherigen Szene wiederzuerkennen sind. Sie brechen ab, sprechen miteinander. Die nächste Szene zeigt wieder eine neue Improvisationssituation. Ein Tänzer sitzt allein auf einem Stuhl, seine Hände tanzen mit sich selbst, wieder ist ein Zitat der ersten Szene zu erkennen. Ein Baby krabbelt ins Bild. Es gibt Gelächter, der Tänzer kommentiert die Situation in seiner Improvisation: ein weiteres Spiel mit dem Zufall.
Dieser Blick auf den 11. Probentag fragt auch nach den Rahmungen der Probe: Die Probe als Pause und die Pause als Probe. Unklar bleibt, wann hier etwas von den Mitgliedern des Tanztheaters bewusst gezeigt und vorgestellt wird und wann nicht, was zur Arbeit gehört und was nicht. Gelächter, Gespräche, das Essen, die unkoordinierten Bewegungen durch den Probenraum verweisen zugleich auf die Fragen nach der Markierung der Arbeitszeit. Wo beginnt sie? Was gehört zu ihr? Was genau umfasst die Arbeit des Probens: auch das Essen (und es wird im Film ständig gegessen und getrunken, auf der Probe, nach Feierabend, im Probenraum, Restaurant oder Imbiss), das Herumalbern, das Umziehen der Tänzer, das gelangweilte Warten, die Diskussionen über Konzepte von Liebe oder erst die szenische Aktion, das Vormachen, die Kritik, der Rahmen einer konzentrierten Beobachtung? Wann wird die Probe zur Arbeit? Bedarf es einer besonderen Konzentration, einer spezifischen räumlichen Anordnung, eines klar markierten Verhältnisses von agierenden Tänzern und beobachtender Choreografin? In welcher zeitlichen Abfolge stehen die verschiedenen Handlungsformen des Probens: das Vorspielen, der Kommentar, das gemeinsame Gespräch, die Pause? Wie verhält sich der kreative Moment in der Arbeit des Einzelnen – verbunden mit einem Konzept der Spontaneität – zur gemeinsam verabredeten Arbeit?
In der Frage nach der Arbeitszeit eröffnet sich noch eine weitere Frage: die nach der Funktion der auf der Probe Anwesenden. In der Arbeit an der Choreografie zeichnet sich die Probe durch eine Doppelung der Rollen und Funktionen aus. Die Tänzer präsentieren sich als Tänzer der Choreografie und damit als Figuren auf der Bühne. Zugleich sind sie als soziale Person präsent im Sinne eines Arbeiters an der Choreografie. Diese Identitäten überlagern sich nicht nur; es findet immer wieder auch ein Wechsel zwischen ihnen statt, beispielsweise wenn aus alltäglichen Gesten choreografisches Material wird, oder wenn die Tänzerinnen und Tänzer aus einer Präsentationssituation auf der Bühne aussteigen und lächelnd das gerade Gezeigte kommentieren.
Dies verweist zugleich auf die Frage, wie szenisches Material in dem beobachteten Probenzusammenhang generiert wird. Die künstlerische Arbeit wird in Wildenhahns Dokumentation als ein Spiel mit Zufällen präsentiert, das vor allem durch den fokussierenden Blick von Pina Bausch geordnet und teils systematisiert wird. Das spielerische Herumtanzen zur Musik im Moment der Pause – scheinbar nicht zweckgerichtet – wird kurz darauf zum Material für eine Aufgabenstellung, das immer wieder neu bearbeitet wird. Zwei einander widersprechende Verfahren stehen hier nebeneinander: sich dem Zufall überlassen und zugleich die Potenziale des Entstandenen erkennen. Zufall und Ordnung lassen sich als zwei Prinzipien der Probenarbeit bestimmen, die in einem Wechselverhältnis stehen. Das scheinbar Spielerische, nicht Zweckgerichtete, kann jederzeit Teil eines Verwertungszusammenhangs künstlerischen Produzierens werden. Und die Verwertung des Gefundenen liegt in diesem Probenprozess klar in der Zuständigkeit von Pina Bausch.
Auffällig ist, dass die Tänzer innerhalb des Films immer gemeinsam gezeigt werden. Sie treten nur dann aus der Gruppe heraus, wenn sie etwas auf der Probebühne präsentieren. Nur in einer Szene außerhalb des Probenraums, in einem Restaurant, sprechen einige kurz über die Arbeit mit Pina Bausch. Es treten keine individuellen Figuren oder Lebensgeschichten hervor.
Hier wird nicht das künstlerische Subjekt Schauspieler, Tänzerin oder Regisseurin mit den Erzählungen eines Alltags-Selbst konfrontiert; stattdessen wird eine andere Kontrastfigur gegen die Figuren der Probenden gesetzt. Dies geschieht, indem die Bilder und Erzählungen über die Körper der Tänzer mit einem anderen Narrativ verschnitten werden: den Arbeitserzählungen der ehemaligen Fließbandarbeiterin Ruth Grün, die über Akkordarbeit, die Arbeitsorganisation und Anforderungen der Arbeit in der Fabrik spricht. Die Abgründe einer entfremdeten Arbeit werden in diesen Auskünften aufgezeigt. Anders als Pina Bausch, die gerade nicht befragt wird und über ihre Arbeit keine Auskunft gibt, wird hier der Arbeiterin eine Stimme gegeben, um über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Werktor in Wuppertal
Körper der Arbeit
Ein Werkstor, Arbeiter betreten morgens die Fabrik. Zu hören ist der Song A Walk in the Park. „Ein Wachmacher“, wie eine Radiomoderatorstimme verkündet.
Schnitt: Die Arbeiterin Ruth Grün in ihrem Wohnzimmer, eine Zigarette in der Hand.
Ruth Grün: „Sie machen acht Stunden immer dasselbe. Aber es ist ja auch, sie machen ja auch Witze da. Sie sind ja am Band […]. Oder dann fangen sie oben am Band an und legen ein Stück Schokolade drauf […]. Die Gemeinschaft war am Band besser. Die Gemeinschaft war am Band schöner als im Einzelakkord.“
Neben den Körpern der Tänzer werden hier andere Körper der Arbeit in Szene gesetzt. Gezeigt wird eine Choreografie des Weges zur Arbeit – überlagert mit einem Song, der die Freizeit besingt: A Walk in the Park. Ein Topos der Kinogeschichte wird präsentiert: die Arbeiter am Werktor. Ruth Grün beschreibt im Interview Strategien, mit denen die Vorgaben der industriellen Fertigung von den Arbeiterinnen spielerisch unterlaufen werden. Die isolierte Arbeit im Akkord wird gegen die Möglichkeiten des sich gemeinsam Freiheiten schaffenden Kollektivs gesetzt. Gefragt wird implizit nach der Selbstbestimmung und Selbstbestimmtheit von Arbeitsprozessen: Wem gehört der Körper in der Fabrik? In den Blick kommen die Normierungen, die der Körper dort durch die Arbeit erfährt.
Das Thema der Endlichkeit der Arbeitsbiografien der Tänzer wird hier auf anderer Ebene wieder aufgenommen, formuliert als Frage nach dem Widerstand und der Widerständigkeit in entfremdeten Arbeitszusammenhängen: im Ballett wie in der Industrie. Die Arbeiterinnen zeigen trickreich mit ihren gestohlenen Pausen, dass sie dem industriellen Fertigungsdruck Zeit abzutrotzen verstehen; dennoch bleiben sie letztlich dem System ausgeliefert. Ruth Grün hat den Akkord nicht ausgehalten und wurde aufgrund gesundheitlicher Probleme früh verrentet. Ihr Körper war der Arbeit am Fließband nicht gewachsen.
Die Arbeitssituation des Tanztheater-Ensembles wird dagegen gesetzt: Sein Produzieren scheint eine andere Form, die der tänzerischen und zugleich unentfremdeten Arbeit, zu ermöglichen. Mit Rückblick auf die eingangs vorgestellten Überlegungen Waldemar Hirschs über Tänzerbiografien und die Schwierigkeit, mit dreißig Jahren noch auf der Spitze zu tanzen, lässt sich dies auch als Kritik an anderen Formen der Tanzarbeit jenseits des Tanztheaters von Pina Bausch lesen, wie beispielsweise dem Ballett. Allerdings fällt hier auch auf, was in der Dokumentation der Probenarbeit ausgeklammert bleibt. Die Tänzer haben keine Stimme, um über ihre Erfahrungen mit den Produktionszusammenhängen des Tanztheaters zu sprechen. Ihnen wird eine Stimme nur in den Proben gegeben, wo sie aber wiederum von anderen aufgezeichnet, bearbeitet, verändert werden kann. Ausgeklammert wird die Abhängigkeit der Ensemblemitglieder von der Choreografin Pina Bausch, die Arbeit an der Erhaltung eines trainierten und für den Tanz geformten Körpers, der ebenso wie der Körper der Industriearbeiterin normierten Standards unterliegt. Ausgeklammert bleibt, wer bestimmt, wann die Probe beginnt und was auf ihr erlaubt ist. So wird nicht thematisiert, dass es Pina Bauschs Baby ist, das dort herumkrabbelt, und es wird nicht gefragt, warum keine andere Tänzerin ihr Kind mit auf die Probe bringt.9
Auf Montage: Regisseur und Choreografin
Off-Stimme: „Zwei Monate Drehzeit. Dafür haben wir zwanzig Stunden Film- und Tonmaterial mit. An manchen Tagen verdrehen wird 110 Minuten, an manchen drei Minuten. Wir müssen uns sofort orientieren und entscheiden, sehen und hören, übersetzen mit Kamera und Ton. Fast gleichzeitig. Fundament für die spätere Montage des Filmes. Die Tänzer haben sechs Wochen lang ihre Erfindungen, ihre Bewegungsabläufe, ihre Antworten aufgeschrieben. Dann beginnt Pina Bausch, Einzelnes wieder abzufragen, in den Notizbüchern wird zurückgeblättert. Vieles wird verworfen, einiges wiederholt, stückweise gelassen, wiederholt, anders gereiht, wiederholt. Der Montageprozess des Tanzes hat begonnen.“
Das Überlagern und Nebeneinanderstellen verschiedener Bilder der Arbeit verweist wiederum auf die Position des Filmregisseurs als Beobachtenden und als Monteur verschiedener Bruchstücke. Wie bei Pina Bausch ist hier Improvisation ein grundlegendes künstlerisches Verfahren.10 Die filmische Arbeit wird als ein Prozess des Suchens inszeniert. Dabei werden Umwege und Verpasstes thematisiert. Das Suchende und Unfertige dieses Prozesses schreibt sich auch in die Bilder ein. In den Aufzeichnungen der Proben ist manchmal der Blick der Tänzer, die in die Kamera sehen, aufgenommen. Er irritiert die Filmzuschauer, weil darin ein Bewusstsein für die Dokumentationssituation offenbar wird. In anderen Aufnahmen können die Betrachter wiederum nur erahnen, was passiert, da sich ein Rücken in den Blick schiebt, die Musik zu laut für den Ton ist. Oft scheinen die Bilder nichts Bestimmtes zu fokussieren. Dann bleibt der Blick lange an Nebensächlichem hängen. Das Suchen wird nur als eine Phase des Prozesses vorgestellt. Ihm folgt das Montieren.
Die letzte Phase von Pina Bauschs Probenarbeit wird in dieser Dokumentation gleichgesetzt mit Klaus Wildenhahns Montagearbeit an seinem Film. Die Probenarbeit wird als eine Abfolge von Improvisieren, Aufgaben und Einfällen, Aufzeichnen von Szenen und deren Montage präsentiert; die filmische verhält sich dazu analog. Aus der Improvisation von Tänzern wie Dokumentarfilmern entsteht das Material für das, was später gezeigt werden wird.
In der Beobachtung der Probenarbeit zeigt sich aber auch die Problematik dieses Vergleichs. Das Material, das in vielteiligen Arbeitsschritten erfasst und montiert wird, ist bei der Probenarbeit, anders als im Film, immer an die Tänzerkörper gebunden und verändert sich mit ihnen. Denn auch wenn die Tänzer die Bewegungen und ihre Improvisationen hervorbringen, sich Aufzeichnungen machen, bei der Arbeit mitschreiben, gelten sie am Ende nicht als Autoren der Choreografie. Die Proben präsentieren sich als eine kollektive Arbeit an und mit dem Körper – die aber durch einen Blick von außen kontrolliert wird. Die von den Tänzern präsentierten Bewegungen werden von der Choreografin zu Material gemacht, bearbeitet und den Tänzern damit entfremdet. Die von anderer Seite modellierten und bearbeiteten Bewegungen müssen die Tänzer dann wiederum erlernen, zu ihren eigenen machen, alles unter dem Kontrollblick der Choreografin. In diesem Prozess verlieren sie die Autorschaft über ihre Bewegungen.
Das Wir, das in den Kommentaren konstituiert wird als Kollektiv von Kameramann und Regisseur, wie auch das Wir der Proben, bleibt unbefragt bestehen. So wird innerhalb des gesamten Films kein Moment gezeigt, in dem gemeinsam Entscheidungen getroffen werden, Material aussortiert, nicht angenommen, verworfen wird, oder in dem es unterschiedliche Stimmen zum Umgang mit dem Material gibt. Dass zu den dokumentierten Verfahren von Improvisation und Montage immer auch Selektionsprozesse gehören, in denen das von den Tänzern aus ihrer Biografie und mit ihrem Körper generierte Material aussortiert und damit abgewertet wird, wird von Wildenhahn nicht weiter problematisiert. Das Tun von Pina Bausch und ihren Tänzern wird als ein kollektives Schaffen mit klar zugewiesenen Positionen ausgestellt. Die Choreografin übernimmt dabei ihre besonderen Aufgaben, die dennoch deutlich anders dargestellt werden als in einem Porträt von Pina Bausch als einsamer, genialer Künstlerin.
Tatsächlich wird Pina Bausch vor allem in der Kommunikation mit ihren Tänzern gezeigt, als Beobachtende, Kritisierende, Reflektierende, als Initiatorin von kreativen Prozessen, aber auch als Mutter, die Betreuungs- und Theaterarbeit verbinden muss, als jemand, der gerne tanzt und lacht; immer wieder stellt der Film sie beim Herumalbern und im Gespräch dar. Die Bilder, die von ihr präsentiert werden, unterlaufen damit das Bild einer entrückten Künstlerin; sie erscheint vielmehr als herausgehobene Arbeiterin im Kollektiv. Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer […] ? ist ohne Zweifel auch als eine Arbeit an der Entmystifizierung von Inszenierungsarbeit zu betrachten; zugleich arbeitet Wildenhahn damit dem neuen Mythos einer unentfremdeten kollektiven künstlerischen Arbeit zu.11 Der kollektive Prozess bleibt dabei utopisch aufgeladen. Es werden weder Krisen im Probenprozess gezeigt, noch werden die Hierarchien innerhalb der Arbeitsgemeinschaft kommentiert.
Diese Beobachtung der künstlerischen Arbeit ist auch als Selbstreflexion der Filmemacher zu lesen und damit als ein doppelter Legitimierungsdiskurs. Die Besonderheit und Wichtigkeit von Pina Bauschs Probenarbeit und damit das Unentfremdete des Arbeitens in der Kunst wird gegen die Fließbandarbeit in den Fabriken von Wuppertal gestellt. Die Utopie einer internationalen Arbeitersolidarität wird nicht länger hinter den Werktoren, sondern im Tanztheater von Pina Bausch und in ihrer internationalen Compagnie gesucht. Zugleich wird damit auch Wildenhahns eigene filmische Arbeit thematisiert und legitimiert, als eine Arbeit gegen die Isolation des Tanztheaters, die über die Kunst hinausführt. Allerdings finden sich auch in diesem Szenario der wechselseitigen Legitimierung einige Irritationen und Störungen.
Form und Normierung
Im Bild: Klaus Wildenhahn und sein Kameramann Wolfgang Jost in einer Straße in Wuppertal.
Off-Stimme: „Wir blieben noch drei Tage in Wuppertal. Etwas hing nach.“
Wildenhahn beim Schreiben. Auf dem Tisch, zwischen den Notizen, ein Bild von Peter Weiss.
Schnitt auf Ruth Grün: „Die Arbeit kann noch so schwer sein, wenn Sie Kolleginnen haben, mit denen Sie sich verstehen, dann ist die nicht mehr schwer. Dann ist die leicht, die kann noch so schwer sein.“
Schnitt in eine Fabrikhalle, eine Arbeiterin in der Fertigung. Am Ende stützt sie sich zufrieden auf das fertige Produkt, sie scherzt mit ihrer Nachbarin.
Schnitt in den Probenraum der Lichtburg: Das Ensemble des Tanztheaters beim Tanzen im gemeinsamen Takt und Schritt. Sie bewegen sich synchron unter den Augen Pina Bauschs auf die Kamera zu.
Abspann
Am Ende werden die verschiedenen Produktionsprozesse noch einmal zusammengeführt: die Arbeiterin am Fließband, das Ensemble in einer gemeinsamen Choreografie, die mechanischen Schritte im Gleichklang, die Position der beiden Filmemacher als Beobachtende, die in dieser Einstellung hinter Pina Bausch positioniert sind. Zwei Lesarten bieten sich hier an: Aus den Bruchstücken der Improvisationen wird Form. Es wird, wie in der industriellen Tätigkeit, etwas geschaffen, das die Summe der einzelnen Teile übersteigt und über das individuell Produzierte hinausgeht. Allerdings wird die künstlerische Arbeit auch diesmal nicht als abgeschlossene präsentiert. Die endgültige Fassung der Inszenierung wird nicht gezeigt, sie bleibt eine Leerstelle. Die Tänzer fahren zu den Endproben in die Niederlande, die Choreografie ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertig. Der Film unterläuft damit das Konzept eines künstlerischen Tuns als Produktion, die ihr Ende in Form eines Produkts findet, sondern präsentiert das Tun stattdessen als tägliche Arbeit, die kein Ende kennt.
Gegen diese Einstellung setzt Wildenhahn eine Fabrikarbeiterin, die ihr Produkt in den Händen hält, lächelnd Pause macht und so das Produzieren unterbricht. Die Möglichkeit der hier gezeigten Widerständigkeit gegen das Produzieren bleibt den Tänzern verwehrt: Ihre Pausen sind immer auch schon mögliche künstlerische Arbeit, von Bausch aufgezeichnet und weiterverwertet.
So wirft das von Wildenhahn gewählte Schlussbild eine weitere Frage auf. Die Tänzer präsentieren sich darin weniger als Kollektiv, sondern als Corps de Ballet, als ein Körper jenseits der Individualität, unter dem Kontrollblick der Choreografin angeordnet. Und sicher ist dies lesbar als ein Bild über Arbeit und Normierungen – aber wessen Arbeit ist hier eigentlich gemeint?
1Waldemar Hirsch bezieht sich hier auf die Tänzerinnen und Tänzer Pina Bauschs, deren Perspektive er einnimmt, und die teilweise älter sind als die Mitglieder in anderen Tanzensembles. Er verweist auf die Erfahrung und „Reife“, die diese Tänzer mitbringen.
2Der Off-Kommentar stellt Wuppertal vor und erklärt, dass in dieser Arbeiterstadt im „Bergischen Land“ das Tanztheater Wuppertal mit Pina Bausch „augenscheinlich isoliert“ arbeiten würde.
3„Vordergründig ist in meinen Filmen die Arbeitsbeobachtung zu sehen, ein gewerkschaftliches oder politisches Engagement, eine Stellungnahme von sogenannten kleinen Leuten.“ Klaus Wildenhahn, zitiert nach dem Interview „Zufall und Methode“ (mit Christoph Hübner), in: Voss, Gabriele (Hrsg.): Dokumentarisch Arbeiten, Berlin 1996, S. 158.
4Wildenhahn, „Zufall und Methode“, S. 186.
5Vgl. dazu Wortmann, Volker: „Mit Bildern Praxis denken. Poetische Szenarien im Film – als Theorie“, in: Porombka, Stephan/Schneider, Wolfgang/Wortmann, Volker (Hrsg.): Theorie und Praxis der Künste, Tübingen 2008, S. 117–147, sowie ders.: „Special extended: Das Filmteam als kreativer Kollektiv-Körper im ‚making of …‘“ In: Ortheil, Hanns-Josef/Kurzenberger, Hajo/Rebstock, Matthias (Hrsg.): Kollektive in den Künsten. Hildesheim 2008, S. 39–60.
6Ausnahmen sind der Band Chaos und Konzept, herausgegeben von Melanie Hinz und Jens Roselt, Berlin 2011, sowie Harvie, Jen/Lavander, Andy (Hrsg.): Making Contemporary Theatre. International Rehearsal Processes, Manchester/New York 2010. Methodische Überlegungen zur einer Ethnografie des Probenprozesses hat Gay MacAuley vorgelegt: „Towards an ethnography of rehearsal“, in: New Theatre Quarterly 53 (1998), S. 75–85.
7In einem Interview spricht Wildenhahn davon, dass es darum gehe, eine „Distanz zur Welt“ aufzubauen: „Wo ist man? Das scheinbar Vertraute ist gleichzeitig auch etwas sehr Fremdes.“ Wildenhahn, Klaus: „Zufall und Methode“, S. 168. In einem anderen Gespräch stellt er sein Verfahren selbst in den Kontext der Ethnografie; vgl. Wildenhahn, Klaus: „Teilstücke. Über mein dokumentarisches Arbeiten in einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt“, in: Ballhaus, Edmund/Engelbrecht, Beate (Hrsg.): Der ethnographische Film. Eine Einführung in Methoden und Praxis, Berlin 1995, S. 187–201.
8Vgl. zum Topos des Anfangens im Probenprozess Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S. 185–188.
9Interessanterweise wird die Problematik der Doppelrolle von Mutter und Tänzerin in einem anderen Tanzfilm Wildenhahns über Merce Cunningham, 498 Third Avenue (D 1967), problematisiert. Die Tänzerinnen reden über ihre Schwierigkeiten, den Anforderungen ihres Privatlebens und den anspruchsvollen Proben gerecht zu werden. Hier wird die Machtposition Cunninghams gegenüber seinen Tänzerinnen kritisch reflektiert. Der Bausch-Film scheint dagegen mehr daran interessiert zu sein, Bauschs Methode und Arbeitsweise mit der eigenen Methode zu vergleichen.
10Klaus Wildenhahn beschreibt seine Form der Beobachtung immer wieder als improvisatorische Technik: „Das, was ich so gern mit vielen Worten beschreibe, daß man improvisiert, daß man sich von den Strukturen erstmal weitgehend fernhält, daß man sich dem Geschehen anheim gibt, daß man in den Fluß der Ereignisse einsteigt und mitschwimmt, ohne feste Bezugspunkte einzuziehen.“ Wildenhahn: „Zufall und Methode“, S. 166.
11Die Darstellung der Arbeit des Tanzensembles erinnert an Wildenhahns eigene Überlegungen zu kollektiver künstlerischer Arbeit: „Beiläufig stellt sich auf diesem Weg das Verschmelzen des Teams, der arbeitenden Gruppe ein. Jeder bleibt für seinen spezialisierten Ausbildungsbereich verantwortlich. Aber durch die langen gemeinsamen Erkundungen und Arbeitszeiten, das gemeinsame Sich-den-Originalsituationen-Stellen, das gemeinsame Beinahe-Ersäufen an Aktualität, Erfahrung und Material wird der technische Vorsprung ausgeglichen. Es wird eine verbindliche und verbindende tägliche Anstrengung: dem Protagonisten und seiner Situation gerecht zu werden. Jetzt.“ Wildenhahn: „Teilstücke“, S. 188. Der Film über das Tanztheater Wuppertal kann vor dem Hintergrund dieser Äußerung auch als Legitimierung der eigenen dokumentarischen Praxis gelesen werden, die hier anhand der künstlerischen Verfahren von Pina Bausch exemplarisch vorgeführt wird. Er entstand kurz nach der sogenannten „Kreimeier-Wildenhahn-Debatte“ von 1980, in der es um die Darstellung von Wirklichkeit und das Verständnis dokumentarischer Methoden ging. Vgl. ausführlich zur Debatte Hattendorf, Manfred: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung, Konstanz 1994, S. 13–17.