Wer erbt, interpretiert
14 Thesen
von Gerhard Richter
Erschienen in: Arbeitsbuch 2017: Heart of the City II – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (06/2017)
Assoziationen: Baden-Württemberg Debatte Theater Freiburg
I.
Wer erbt, interpretiert. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und behaupten: Der Erbende steht vor einem Rätsel, das sich, wie ein besonders schwieriger und widerspenstiger Text, gegen die Sinnstiftung sträubt. Wer im emphatischen Sinne erbt, das heißt sich dem Moment des radikalen Erbens zu öffnen vermag, wird zu interpretieren nicht aufhören können, und eine jede wirkliche Interpretation ist ihrerseits von dem Begriff und der Erfahrung des Erbens – dem auslegenden Fragen nach den sich unentwegt verändernden Bedeutungen des Überlieferten – unabtrennbar.
II.
Das zu Erbende erhebt die Anforderung einer niemals enden wollenden hermeneutischen Beschäftigung mit ihm – seinem Sinn, seiner Bedeutung und nicht zuletzt seinen nur ihm eigenen besonderen Lektüremustern, seiner je eigenen Theorie des Lesens. Wird Erbschaft nicht als voraussetzungsloses Aneignen, als Inbesitznahme eines bereits durchschauten und verstandenen Inhalts angesehen, den es nun lediglich in den Bereich des bereits im Eigenen Bestehenden und Durchdachten zu überführen gilt, dann kann die ihr eingezeichnete unheimliche, ja geradezu gespenstische Spur mit voller Deutlichkeit zutage treten.
III.
Ein intellektuelles Erbe ist nicht mit einer Art konservativer Traditionspflege gleichzusetzen, welche dieser oder jener imaginären Gemeinschaft aus Beweggründen der Identitätsstiftung oder -bewahrung ihr kulturelles Kapital übermittelt, das seinerseits vom Akt der Übertragung...