Auftritt
Staatstheater Kassel: Die Pommes lügen nicht
„Gelbes Gold“ von Fabienne Dür (UA) –Regie Tobias Schilling, Bühne und Kostüme Sibylle Pfeiffer
Assoziationen: Theaterkritiken Hessen Staatstheater Kassel

Da gibt es Sätze, die sind von unendlicher Traurigkeit. „Alles hier stirbt“, sagt Juli. „Und wenn ich bleibe, sterbe ich einfach mit.“ Und da gibt es Sätze, die bei aller Tristesse einfach nur unsterblich komisch sind. „Traurige, betrunkene Männer oben ohne bei elf Grad“, fasst Ana zusammen, nachdem sie mit ihrem Vater im Fußballstadion war. Eine Definition für die Ewigkeit.
„Gelbes Gold“ ist der Bühnenerstling der jungen Berliner Autorin Fabienne Dür, Jahrgang 1993, und ein Stück von beeindruckender Klarheit und Prägnanz. Der Hundertminüter, eingeladen zum Heidelberger Stückemarkt 2021 und jetzt am Kasseler Staatstheater uraufgeführt, erzählt vom Festsitzen. Vom Festsitzen in der Provinz und in der sozialen Klasse. In Lebenslügen und Träumen, die hartnäckig scheitern. In Übergangslösungen, die Jahre dauern und, ehrlich betrachtet, weder Übergang noch Lösung sind. Und doch ist da immer dieses kleine Lächeln, wie es sich manchmal, unmerklich fast, auch auf Anas graues Gesicht stiehlt.
Ana und Juli sind Freundinnen oder waren es einmal, so genau weiß man das nicht. Ana ist nach dem Abitur in die große Stadt gezogen, so weit weg wie möglich von der Kleinstadt, den Plattenbauten, der väterlichen Pommesbude. Jetzt kommt sie zurück, geflüchtet vor der letzten Prüfung ihres Studiums, vertrieben von der Angst, es als Arbeiterkind in der bildungsbürgerlichen Welt sowieso nie schaffen zu können.
Sie begegnet Juli wieder, einst geblieben wegen einer Beziehung, die man nur toxisch nennen kann, und unterdessen zu wahllosem Sex und wahllos viel Alkohol übergegangen. Ana besucht ihren Vater Fritz, dessen Imbiss „Zum gelben Gold“ im abriss-geweihten Plattenbauviertel kaum noch Kundschaft hat, der aber unverdrossen nach der durchbruchverheißenden Idealrezeptur sucht. „Noch drei, vier Versuche“, verkündet er, nicht nur einmal. „Ich bin da an was dran.“ Und dann ist da noch Mimi, die Mitarbeiterin und irgendwie auch neue Lebensgefährtin des Vaters, fleischgewordene Frustration und Desillusionierung.
Die Konflikte und Kommunikationsunfälle, aber auch die Annäherungen und Veränderungen, die durch Anas Rückkehr ausgelöst werden, hat Tobias Schilling in Kassel auf die Bühne gebracht. Der junge Regisseur, wie die Autorin noch keine dreißig Jahre alt, tut das präzise und auf den Punkt. „Du stehst nur da, stehst im Weg und guckst dir alles an und verziehst das Gesicht“, sagt Juli einmal über Ana, es soll ein Vorwurf sein, doch eigentlich ist es die Beschreibung eines Unglücks.
Ana, verkörpert von der wunderbaren Emilia Reichenbach, ist mit jeder Faser ihres Körpers fehl am Platz. Der blonde Pony so gerade geschnitten, wie sich das für Metropolenhipster ziemt, die Kleidung vielleicht cool, vielleicht einfach bloß unmodisch, auf jeden Fall aber fremd für die Kleinstadt. Und das Zuhause: aufgegeben, verloren, nie wiedergefunden. Dagegen wirkt Juli, von Tamara Romera Ginés gegeben als eine Art Provinzvamp, geradezu mondän. Aljoscha Langel verleiht Anas Vater bei aller scheinbar heiteren Weltabgewandtheit und Pommes-frites-Zugewandtheit auch ganz viel untergründige Schwermut. Und Christina Weiser ist als burschikose, bodenständige Mimi so etwas wie die Botschafterin der Realität. Nüchtern, praktisch und dennoch mit Fantasie gesegnet: Nicht nur hat sie sich den Traum vom Meer bewahrt, sie hat auch das Pommesorakel erfunden. Sag mir, wie du deine Fritten isst, und ich sag’ dir, wer du bist. Die Pommes lügen nicht.
Regisseur Schilling lässt das hervorragend eingestellte Quartett seiner Darsteller:innen auch den Chor der Kleinstadtbewohner:innen sprechen, die geifernd tratschen und sich das Maul zerreißen über die Unglücklichen, deren Schicksal sie mit ihrer Missgunst immer weiter festtackern. Hätten Ana & Co. nicht schon mit sich selbst genug zu kämpfen, spätestens gegen diese Urgewalten von Hass und Häme, Lüge und Verleumdung wären sie machtlos.
Der titelgebende Imbiss, den Sibylle Pfeiffer mit viel Liebe zum Detail auf die Studiobühne im Fridericianum gebaut hat, mit Kaugummiautomat und Winkekatze und überdimensionaler Frittentüte, ist hier der Fixstern, um den alles kreist. Auch die Bauzäune, die wie ein rot-weißes Ballett bedrohlich näher rücken. Erst als der Imbiss schließen muss, eröffnet das einen Ausweg aus der Ausweglosigkeit. Ein Happy End, aber traurig.
Erschienen am 29.12.2022