Tunesien
Das tunesische Theater: Vom Widerstreit zur Revolution
von Moez Mrabet
Erschienen in: Recherchen 104: Theater im arabischen Sprachraum – Theatre in the Arab World (12/2013)
Assoziationen: Afrika Theatergeschichte
Am 26. Mai 1909 spielten auf der Bühne des Théâtre Rossini zum ersten Mal tunesische Schauspieler als Mitglieder der ägyptischen Truppe Al Jawk Al Masri ein Theaterstück mit dem Titel Aufrichtige Brüderlichkeit. Dieses Ereignis, das als die Geburtsstunde des tunesischen Theaters gilt, setzte eine nationale Bewegung in Gang, die den Grundstein zu einem zeitgenössischen Theater legte, das in seinem sozialen Kontext verankert war und mit seiner Epoche im Einklang stand.
Obwohl es eigentlich die Übernahme einer westlichen Praxis war, verriet das Interesse der Tunesier am Theater paradoxerweise ihren Willen, daraus ein Instrument zur Stärkung und Verteidigung ihrer eigenen Identität zu machen. Während der ägyptische oder, allgemeiner, der orientalische Einfluss auf die Entstehung dieses Theaters unbestritten ist, sind der tunesischen Gesellschaft die reichen Theatererfahrungen, die im Verlaufe des 19. Jahrhunderts der französischen und italienischen Bevölkerung von Tunis vermittelt wurden, offenkundig fremd geblieben. Der Gründung von Al Adeb im Jahr 1911 als erster Theatervereinigung Tunesiens folgte 1912 die Taufe von Al Chahama Al Arabia als einer zweiten Gruppe, die diesen orientalischen Einfluss bestätigte und das Projekt der Modernisierung der tunesischen Gesellschaft über den Umweg des Theaters untermauerte.
Man wollte die Theaterpraxis an die lokale Kultur anbinden, um einer Modernisierung der Gesellschaft den Weg zu öffnen. Darüber hinaus war es das erklärte Ziel der tunesischen Avantgarde, eine Oppositionsbewegung gegenüber der Kolonialmacht zu entwickeln und zu verwurzeln; ein Ziel, das auch in der Wahl der Themen und in der Ästhetik dieses neu entstehenden Theaters zum Ausdruck kommt. Die Schauspielkunst diente der nationalistischen Elite als Hebel, der ihr dabei half, das Terrain für den Unabhängigkeitskampf abzustecken. So ist der Gründungsakt des tunesischen Theaters unleugbar der Ausdruck eines rebellischen Geistes, der sich als konstruktiv und fruchtbar erwies und der zu einem seiner charakteristischen Züge wurde. Mit Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1956 entstanden allerdings neue Herausforderungen; ein anderes Theater begann sich am Horizont abzuzeichnen.
Die 1950er Jahre waren durch die Entschlossenheit der tunesischen Theaterleute geprägt, die eigene Praxis zu professionalisieren und das Theater, das lange Zeit auf die Hauptstadt beschränkt war, auch in den ländlichen Gebieten zu verbreiten. Die Gründung der École du Théâtre Arabe im Jahr 1951 ermöglichte erstmals eine akademische Ausbildung für den Schauspielerberuf. 1954 wurde mit der Troupe de la Ville de Tunis die erste professionelle Theatergruppe in Tunesien gegründet. Damit wurde das Ziel angestrebt, die Amateurhaftigkeit und Beliebigkeit der Anfangsphase zu beenden und sich in Zukunft auf höhere künstlerische und technische Ansprüche zu verpflichten.
Kurz nach der Unabhängigkeit war der Staat geleitet von dem Wunsch, aus dem Theater einen Motor der Entwicklung zu machen. Sein massives Engagement für diese Branche erwies sich aber als zweischneidig. Er förderte zwar maßgeblich die Entwicklung einer noch fragilen und unsicheren Praxis, leistete aber gleichzeitig einer Instrumentalisierung des Theaters durch die politische Macht Vorschub. Im November 1975 versuchte eine Gruppe junger Künstler, sich dieser Inbesitznahme durch den Staat zu entziehen und das Abdriften des „offiziellen“ Theaters zu beenden. Eine Gruppe junger Künstler, die gerade ihre Schauspielausbildung in Europa abgeschlossen hatten oder aus dem Schultheater kamen, gründete das Nouveau Théâtre. Die Geburt dieser ersten privaten Truppe war ein bedeutender Moment in der Geschichte des tunesischen Theaters. Im Grunde war sie das Symptom einer ästhetischen wie organisatorischen Krise. Kurze Zeit später sollte das Nouveau Théâtre einen neuen Ansatz in der Theaterarbeit in Tunesien vorstellen, der diese in den folgenden Jahren beeinflussen und umformen sollte. Die Ziele der Gruppe, zu der Mohamed Driss, Fadhel Jaziri, Fadhel Jaïbi, Jalila Baccar und Habib Masrouki gehörten, können in den folgenden Punkten zusammengefasst werden:
• Besitz und Kontrolle der Produktionsmittel, um Abhängigkeit von offiziellen Institutionen und Strukturen zu vermeiden
• Suche nach neuen Möglichkeiten der Produktion und Finanzierung der kreativen Arbeit
• Entwicklung eines diskursiven und authentischen Theaters, das Stereotypen und die Nachahmung westlicher Modelle vermeidet
• Aufhebung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufen im Theater (Dramaturgie, Regie, Bühnenbild, Schauspielerei); statt dessen sollen alle, die schöpferisch tätig sind, alle Tätigkeiten verrichten können
Der Erfolg des Nouveau Théâtre bei der Verwirklichung seiner Ziele und das künstlerische Gelingen der ersten Werke ermunterten andere junge Leute, diesem Beispiel zu folgen. In den Jahren 1980–90 sind viele Projekte entstanden, die ebenso originell wie kreativ waren. Man wird sich insbesondere an das Théâtre Triangulaire erinnern, das Habib Chebil initiierte, an das von Moncef Sayem und Raja ben Ammer gegründete Théâtre Phou, an das Théâtre Organique von Ezzedine Gannoun und Fethi Akkeri und an das erste private Theater Tunesiens, das El Teatro, das Taoufik Jebali 1987 gründete.
Gegenüber dem öffentlichen Theater, dem ein künstlerisch klares und überzeugendes Konzept fehlte und das überdies von der Last der Verwaltung erdrückt wurde, erschien das Privattheater als ernsthafte Alternative. Das Phänomen gewann an Bedeutung und konnte sich eine Zeitlang als Quelle der künstlerischen und ästhetischen Erneuerung behaupten. Aber nicht alle Probleme waren gelöst. Andere Sorgen drängten auf die Bühne und stießen das tunesische Theater in ein ungewisses Schicksal.
Die Notwendigkeit einer Strukturierung und einer besseren Organisation war von Beginn der 1980er Jahre an spürbar. Mehrere Maßnahmen wurden ergriffen, um das Theater am Leben zu erhalten und diese Kunst stärker in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken. Die Frage der Ausbildung war in diesem Zusammenhang eines der wichtigsten Anliegen. L’Ecole du Théâtre Arabe, die in den 1970er Jahren dem Centre d’Art Dramatique Platz gemacht hatte, wurde 1982 schließlich in das Institut Supérieur d’Art Dramatique (ISAD) umgewandelt.
Außerdem füllte die Gründung des Théâtre National Tunesien ein Jahr später eine große Lücke in der Theaterlandschaft. Damit war eine weitere wichtige Institution geschaffen, die dazu bestimmt war, die tunesische Schauspielkunst national und international voranzubringen. Ihre Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, das Verfassen von Bühnenwerken und das Experimentieren mit künstlerischen Formen zu unterstützen, die das lokale Erbe in universelle Bezüge stellten.
Im selben Jahr wurden erstmals die Journées Théâtrales de Carthage veranstaltet. Dieses Festival, das seitdem alle zwei Jahre stattfindet, sollte das tunesische Theater nach außen öffnen und den Austausch mit internationalen Gruppen ermöglichen. Es hat sich als Ort der Begegnung des afrikanischen und arabischen Theaters durchgesetzt und gilt auch heute noch als das wichtigste Theaterfestival in der Region.
Die Avantgarde des tunesischen Theaters der Jahre 1970–80 wurde von der Kulturpolitik gefördert und hat von einer sozialen und künstlerischen Konjunktur profitiert, die den Wandel begünstigte. In den folgenden dreißig Jahren hat sich diese Generation darum bemüht, ihre dominante Position zu erhalten. So blieb die Dynamik, die die Erfahrung der ersten Generation charakterisiert hatte, auf einen kleinen Kreis beschränkt; eine wirkliche Tradition – die Ansammlung und Weitergabe von Wissen – konnte sich daraus nicht entwickeln. Seit dem Ende der 1980er Jahre tat sich denn auch zwischen dieser Generation und jener, die zu Beginn des Jahrzehnts vom Centre d’Art Dramatique gekommen war, ein Abgrund auf. Das gilt auch für die folgenden Generationen, die am ISAD ausgebildet worden waren. Sollten sich die im goldenen Zeitalter des tunesischen Theaters genährten Träume und Hoffnungen als zukunftslos erweisen?
Während zahlreiche junge Theaterkünstler inzwischen versuchen, sich mit ihren Erfahrungen zu behaupten, scheinen die „Dinosaurier“ ihre Vorherrschaft immer noch durchsetzen zu wollen. Es bedarf wohl eines neuen Bruchs, ästhetisch wie künstlerisch, um aus dieser heiklen Situation zu entkommen. Ein Theater, aus dem die Luft in gewisser Weise heraus ist, braucht frischen Atem, wenn es nicht sklerotisch enden soll. Die postrevolutionäre Lage könnte solchen Erwartungen entgegenkommen. Wie präsentiert sich die Theaterbühne Tunesiens heute?
Was die öffentlichen Theater betrifft, ist es dem Théâtre National Tunesien unter der Leitung von Mohamed Driss (1988–2011) zwar nicht gelungen, neuen Generationen Platz zu machen, aber es zeichnete sich durch Originalität und ein reichhaltiges Repertoire aus. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass die regionalen Theaterzentren, die seit Mitte der 1990er Jahre geschaffen wurden und die die offiziellen Truppen aus der Hauptstadt ergänzen, auf großes Interesse gestoßen sind. Obwohl ihr Status und ihre Aktivitäten nicht geregelt sind und sie über keinerlei eigene Mittel verfügen, ist es diesen Zentren gelungen, die Theaterproduktion zu stimulieren, die Talente im eigenen Land zu fördern und ein Stammpublikum an sich zu binden.
Gleichermaßen präsent und einflussreich ist der private Sektor, der in den beiden letzten Jahrzehnten mit der Gründung zahlreicher freier Gruppen und mit vielfältigen Produktionen in Erscheinung getreten ist. Tatsächlich zählt man heute nicht weniger als 200 solcher Strukturen, die über das gesamte Land verteilt sind. Zu den Aktivitäten dieser professionellen Theatermacher gehört Jugendtheater, genauso wie künstlerisch anspruchsvolles oder auch kommerzielles Theater.
Mit den ständigen Veränderungen und Entwicklungen des tunesischen Theaters hält die Entwicklung der dazugehörigen Infrastruktur und die Entwicklung von Gesetzen, die den neuen Gegebenheiten und Bedürfnissen Rechnung tragen, aber nicht Schritt. Die Entwicklung der Kunst und einer innovativen Ästhetik wird durch zahlreiche Faktoren gebremst. Dazu gehören der Mangel an Räumen für Proben und Aufführungen, das häufige Versagen der Technik und Probleme bei der Einrichtung der Kulturhäuser, in denen ein großer Teil der Theateraktivitäten stattfindet. Dazu gehört aber auch die Rückständigkeit der aktuellen Gesetze. Als ebenso problematisch erweisen sich die Hindernisse, auf die die neuen Generationen mit der Durchsetzung ihrer jeweiligen Arbeiten stoßen. Auch das Fehlen einer wirklichen Tradition im Verfassen von Bühnenwerken und bei der Gestaltung von Bühnenbildern wirkt sich nachteilig aus. Die gegenwärtige Krise dieses Theaters könnte, so ist zu hoffen, ihre eigene Genesung in sich tragen. Kann das tunesische Theater in Zeiten der Revolution und angesichts der Bedrohungen, der sich die Gewissens-, Meinungs- und Kunstfreiheit ausgesetzt sehen, noch einmal revolutionär sein?
Übersetzt aus dem Französischen: Herwig Lewy und Dorothea Wagner