Theater der Zeit

Bericht

Vom Mitdenken und Mitbestimmen

Wie das Theaterhaus Jena seine Formen kollektiver Arbeit auswertet

von Michael Helbing

Erschienen in: Theater der Zeit: Tarife & Theater – Warum wir das Theater brauchen (02/2023)

Assoziationen: Thüringen Theaterhaus Jena

Henrike Commichau, Lizzy Timmers und Hannah Baumann nahmen unter anderen an der Podiumsdiskussion teil
Henrike Commichau, Lizzy Timmers und Hannah Baumann nahmen unter anderen an der Podiumsdiskussion teilFoto: Theaterhaus Jena

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Rauchzeichen aus der Vergangenheit erreichten jüngst das Theaterhaus Jena. Gesendet hatte sie Angela Hausheer 1995. Damals sitzt die Schauspielerin aus der Schweiz in der Garderobe dieses Theaters, dem sie seit zwei Jahren angehört; zwei weitere werden folgen. In der Hand klemmt und glimmt eine Zigarette; sie ascht häufig ab, zieht kaum daran und redet: für eine Fernsehdokumentation über dieses Theater, das schon eine Ruine gewesen und zum Abriss bestimmt worden war, bevor Berliner Ernst-Busch-Absolventen es 1991 neu belebten. Hausheer macht gerade den Unterschied zwischen Mitdenken und Mitbestimmen bedeutsam.

Ach, guck mal! Als wär’s ein Interview von heute. So muss die derzeitige Theaterhaus-Generation gedacht haben, als sie das Dokument sah, als Teil der Filminstallation „Ich war eine Schauspielerin“, die Hausheer zusammen mit dem Videokünstler Jürgen Salzmann in Jena präsentierte. Dafür setzte sie sich 2021 noch einmal in derselben Garderobe vor die Kamera.

Außerdem saß sie im Dezember auf einem Podium zu kollektiver Theaterarbeit, wie sie in Jena seit drei Jahrzehnten vielfach gebrochene Tradition wurde. Anbetung der Asche? Fehlanzeige! Hausheer hatte das Ende jenes Anfangs erlebt, in dem eine Ensembleversammlung (mit damals zehn Schauspielern) das Sagen hatte. Heute erinnert sie „sehr aufwendige und zum Teil zermürbende Prozesse der kollektiven Entscheidungsfindung“. 1994 installierte man die erste künstlerische Leitung: ein Vierer-Direktorium. Das Theaterhaus befand sich auf dem Weg zum Intendantenmodell. Dort angekommen ist es nie.

Durchgesetzt hat sich, was Lizzy Timmers ein hybrides Modell nennt. Die Performerin übernahm für zwei Spielzeiten die künstlerische Leitung, nachdem sich das Kollektiv Wunderbaum zurückgezogen hatte (TdZ 10/2022). Zugleich aber kehrte man zu den Anfängen zurück: Ein Ensemblerat, in Ansätzen schon zuvor vorhanden, sorgt für Mitbestimmung jedenfalls der heute sieben festengagierten Spieler. Im Konfliktfall ­würde er mehrheitlich entscheiden; bislang regiert der Konsens.

Unbeantwortet bleibt damit die Frage: „Wie nimmt man ein ganzes Haus mit!?“ Pressedramaturgin Andrea Hesse weist das Podium darauf hin, nicht-künstlerische Abteilungen im Auge. „Da knirscht es noch ganz gewaltig.“ Kollektiv, bestätigt Timmers, geht’s nur im Probenraum zu.

Über Demokratie am Theater wird allerorten debattiert. Jenas Geschichte und Gegenwart blende man dabei immer aus, bedauert Anna Volkland (UdK Berlin), die über „Institutionskritik im deutschen Stadttheater seit den späten 1960er-Jahren“ promoviert. Derweil beweist das Theaterhaus nicht nur an diesem Abend kritisches historisches Bewusstsein.

Anna Volkland befragt auch die gängige Formel: Hierarchien gleich Machtmissbrauch. Letzterer werde „eher durch das Familiäre“ begünstigt, die „perfide Vermischung“ des Beruflichen mit Privatem. Hausheer erinnert die „Utopie einer Lebensarbeitsgemeinschaft“ in Jena. Man wohnte auch gemeinsam, habe morgens sogar kollektiv geduscht. Verletzungen und Machtmissbrauch hätten da gut greifen können.

Zum Sommer 2024 sucht das Theaterhaus ein neues Leitungsteam. Die Findungskommission wählt aus 46 Einsendungen geeignete Bewerbungen aus und stellt sie, erstmals in der Hausgeschichte, allen Mitarbeitern vor, die zwar nicht votieren, aber etwas empfehlen können. Sie werden direkt in den Diskussionsprozess einbezogen, wie es bislang nur über die Mitarbeitervertretung möglich war. Jena arbeitet also weiterhin daran, zwischen Mitdenken und Mitbestimmen zu unterscheiden.

Die Aufzeichnung des Podiums „Leitungsstrukturen und kollektive Theaterarbeit“ ist unter theaterhaus-jena.de abrufbar

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