Theater der Zeit

Auftritt

Scharoun Theater Wolfsburg: Der andere Woyzeck?

„Woyzeck“ von Georg Büchner – Regie und Bühne Ersan Mondtag, Kostüme Ari Schruth, Musik Tristan Brusch, Licht Rainer Casper, Hans Fründt

von Jens Fischer

Assoziationen: Theaterkritiken Niedersachsen Georg Büchner Ersan Mondtag Theater Wolfsburg Berliner Ensemble

Ersan Mondtag versucht sich in Wolfsburg und Berlin an einer Überschreibung der Woyzeck-Figur. Ist da noch was zu holen?
Ersan Mondtag versucht sich in Wolfsburg und Berlin an einer Überschreibung der Woyzeck-Figur. Ist da noch was zu holen?Foto: Mark Feigman

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Einen „Woyzeck“ gegen den Trend, einen Anti-Woyzeck hat Ersan Mondtag fürs Berliner Ensemble (BE) inszeniert. Laut Georg Büchners Textfragment rast der Titelheld „hirnwütig“ durch ein eiskalt vor Sinnlosigkeit funkelndes Universum und hetzt physisch als geknechtete Kreatur über den trost- und gnadenlosen Boden der Tatsachen, wird als medizinisches Versuchskaninchen geschunden, vom Militär unterjocht, von der Gesellschaft verhöhnt, der Freundin betrogen und inneren Dämonen getrieben. Eine atemlose Existenz, beseelt von der Sehnsucht nach einem Haltepunkt im Leben, einer Verbindung zur Welt. Im imposanten Wolfsburger Scharoun Theater, das die Produktion als BE-Partner zur Premiere brachte, plantscht der Protagonist mit den Füßen in einem ökologisch korrekt bepflanzten Teich. Kein Schmerzensmann, sondern ein hager in sich ruhender Waldschart ist es, weltentrückt blickt er unter einer Jesus-Mähne hervor. Hinter ihm wallt Nebel durch nächtlichen Nadelwald, mondbeschienen idyllisch und beschallt von einem O-Ton-Soundtrack: es sirrt und surrt, pfeift, heult, keift, quakt, zwitschert, zirpt, gurrt, krächzt ... ach, kein Wunder, dass Woyzeck meint, Stimmen zu hören. Der Naturalismusexzess des Bühnenbildes, wie er einst auch an der Berliner Schaubühne gefeiert wurde, entwickelt anfangs einen großen Zauber. Hineingepflanzt hat der regieführende Großbildmeister ein Zeltlager, Hochsitz und Lagerfeuer. Aber wer sind die Camper? Als welche Art von Kollektiv versteht Mondtag das „Woyzeck“-Personal? Männerbündlerische Outdoor-Fans? Oder eine Clique schwuler Naturliebhaber? Große Jungs aus der Mitte des kapitalistischen Wirtschaftens genießen mal ein Pfadfinderwochenende? Klar wird das nie. Einer nimmt ein frisch geschossenes Reh aus, andere singen Zitate aus dem Stück zu Blasmusik, hocken am Feuer, hacken Holz, tanzen Ringelreihen – oder schwenken Fahnen wie grün-braune „Heimatschutz“-Terroristen. Wichtiger als die politische oder soziale scheint an diesem Abend die geschlechtliche Verortung zu sein: Ausnahmslos Männer spielen Büchner. Und vielfach ungewöhnlich.

Der sadistische Hauptmann ist hier der oberlehrerhafte Förster (Martin Rentzsch). Skurril wirkt es, wenn er Woyzeck textgetreu zu einer langsameren Gangart animieren will, denn den lässt Maximilian Diehle in derart spannungsloser Ruhe daherkommen und sprechen, dass er fast unsichtbar wird. Gerrit Jansen spielt Marie, die mit zärtlicher Bestimmtheit den stummen Sohn bemuttert und mit Woyzeck ein liebevoll sensibles Kuschelpaar abgibt. Alles in naiv unschuldiger Ordnung? Kleine Irritationen baut Mondtag ein. Mal ertönen Sirenen – sind es also Kriegsflüchtlinge, die sich im Bühnenwald versteckt haben? Akustisch kommen auch Hubschrauber vorbeigeknattert und knipsen Suchscheinwerfer an. Geht es um Fahndung nach Verschollenen in der Wildnis? Nach politischen Flüchtlingen? Zum Finale wird eine Strickleiter herabgelassen und alle helfen Maries Sohn beim Emporsteigen. Rettung? Flucht? Hoffnung?

Konkret ist der Abend nur beim grausamen Verhalten einiger maskuliner Exemplare. In der Jahrmarktszene des Stücks, hier lustige Abendunterhaltung auf dem Thingplatz, wird Woyzeck als viehischer Mensch erniedrigend vorgeführt, dann in den Teich gestoßen und zusammengeschlagen vom Sinnbild toxischer Männlichkeit, dem Tambourmajor. Max Gindorff gibt ihn als bodygebuildet verblödeten Fascho-Macker, der bebend aggressiv „Ich bin ein Mann“ brüllt. Jansens Figur ist von seinem Body aber so fasziniert, dass sie ihn anschaut, sich einen Ohrring und Kuss schenken lässt. Das Drama nimmt seinen Lauf. Der verzweifelte Woyzeck ersticht seinen Geliebten. Damit ist die Handlung korrekt nacherzählt, verschwommen aber bleibt bei Mondtag der zentrale Punkt jeder „Woyzeck“-Inszenierung, die Mordmotivation. Für den Regisseur repräsentiert die Männerclique mit den deutlich fixierten Hierarchien wohl unsere patriarchal geprägte Gesellschaft, die zur chauvinistischen Selbstvergewisserung dem Schwächsten aus ihrer Mitte gern mal den Außenseiterstatus einprügelt. Diesem Männlichkeitsgehabe des Kollektivs soll die Hauptschuld am Mord gegeben werden, nicht dem ausführenden Individuum. Während viele Aufführungen den Woyzeck derzeit als zu verurteilenden Täter eines Femizids zeigen, sieht Mondtag ihn vor allem als Opfer und aller Empathie wert. Nur müsste diese dramaturgische Behauptung regiemeisterlich beglaubigt werden. Zu sehen ist zwar, dass Männer mit einem bestimmten Rollenverständnis zu Gewalt und Ausgrenzung neigen, dabei sicherlich ein schlechtes Vorbild sind, aber sie zwingen Woyzeck weder direkt noch indirekt, ihr Verhalten zu übernehmen. Welche Trigger welche Triebstrukturen im „menschlichen Abgrund“ bedient haben, so dass der sanfte Luftikus zum Killer mutiert, bleibt daher offen. Zu erleben ist eine optisch äußerst attraktive, dramatisch vor sich hin dümpelnde, am inhaltlichen Anspruch scheiternde Inszenierung. Bei der am Ende auch die Frage erblüht, ob es eine gute Idee ist, Männergewalt gegen Frauen als Gewalt unter Männer zu zeigen. Das nimmt dem Stück die traurig aktuelle Brisanz. Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin umzubringen, jeder dritte Versuch gelingt – wie Polizeistatistiken erzählen.

Erschienen am 25.9.2023

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