Thema
Der Lieblingsfeind steht links
Der Soziologe Rafael Behr, der Politiker und Aktivist Ferat Kocak und der Autor Kevin Rittberger im Gespräch über Theater und Polizei mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahl
von Dorte Lena Eilers, Christine Wahl, Rafael Behr, Kevin Rittberger und Ferat Kocak
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Lieblingsfeind steht links – Über Theater und Polizei (12/2020)
Assoziationen: Maxim Gorki Theater
Herr Behr, Herr Kocak, Herr Rittberger: Die Polizei steht zurzeit nicht nur im Fokus politischer Debatten, sondern ist auch auf den Bühnen sehr präsent. Am Berliner Maxim Gorki Theater läuft zum Beispiel Kevin Rittbergers Antifa-Stück „Schwarzer Block“, dessen Protagonisten sich erwartungsgemäß einig sind, dass es sich bei der Polizei nicht um „deinen Freund und Helfer“ handelt, sondern um eine rechtslastige Truppe mit rassistischen Tendenzen. Herr Behr, was sagen Sie – als Polizeisoziologe und ehemaliger Polizist – zu diesem Image?
Rafael Behr: Das subjektive Empfinden der politischen Verortung entspricht durchaus diesem Bild, und zwar auf beiden Seiten. Die „linken Zecken“, der „schwarze Block“ – das ist für Polizisten und Polizistinnen tatsächlich der Lieblingsantagonist. Der Lieblingsfeind steht immer links, nie rechts. Ein Bild, das sich mit der Entstehung der Studentenbewegung in den sechziger Jahren etabliert hat und somit eine lange Tradition besitzt. Der schwarze Block bringt die intellektuelle Auseinandersetzung sozusagen auf die Straße, nach dem Motto: Wir stellen uns physisch dem Staat und der Polizei entgegen. Insofern ist mir klar, dass es Positionen im Leben gibt, aus denen heraus man diese Perspektive auf die Polizei entwickeln kann.
Herr Kocak, ist Ihre Position vielleicht eine solche? Sie sind Aktivist, Politiker der Partei Die Linke und wurden 2018 Opfer einer mutmaßlich rechtsextremen Anschlagsserie, die Berlin-Neukölln seit Jahren erschüttert. Ihr Auto brannte, die Flammen griffen auf das Haus Ihrer Eltern über. Die Anschläge sind bis heute nicht aufgeklärt.
Ferat Kocak: Das hat in mir eine große Angst hervorgerufen, die sich mit der Zeit immer mehr von den Tätern weg hin zur Polizei verlagert hat, weil bezüglich des rechten Terrors in Neukölln ein Skandal nach dem anderen zutage trat. Immer wieder wurden Verbindungen zwischen den Nazi-Strukturen und den Sicherheitsbehörden publik. Menschen wie ich, die sich aktiv gegen rechts engagieren, wissen nicht, wer uns schützen soll, wenn diejenigen, die eigentlich dafür verantwortlich sind und vom Staat dafür bezahlt werden, selbst Teil dieser Strukturen sind.
Herr Rittberger, Sie haben für Ihr Stück sehr viele Interviews in der linken Szene geführt. Gab es auch Gespräche mit Polizisten?
Kevin Rittberger: Der Polizist*innen-Monolog, der im Stück als antagonistische Position funktioniert, ist in Anlehnung an eine Person aus meinem früheren Freundeskreis entstanden, deren Worte mir noch im Ohr liegen. Außerdem habe ich mit Aram Tafreshian, dem Darsteller, weiter am Monolog gefeilt. Mein Hauptanliegen aber war, aus der Bewegung heraus zu sprechen. Und damit meine ich nicht die Bewegung, die in Schnellroda oder auf den Straßen von Dresden ihr Zentrum sieht, sondern die linke Bewegung. Deshalb habe ich mit vielen aktiven Antifaschist*innen gesprochen.
Herr Behr, hätten Sie sich als Wissenschaftler, der sich dezidiert mit Polizeistrukturen auseinandersetzt, im Stück eine stärkere Differenzierung gewünscht, die vielleicht auch die Vielfalt und möglichen Ambivalenzen innerhalb der Polizei in den Blick nimmt?
Behr: Ich frage mich oft, warum meine Studierenden, die ja alle Polizisten werden wollen, so ungern „Tatort“ schauen. Die sagen: Das bildet unsere Realität nicht ab. Aber den Anspruch, dass dort die Wirklichkeit gezeigt wird, habe ich gar nicht an einen Film oder ein Theaterstück. Dafür bräuchte ich ja keine Kunst! Für mich sind das Lehrstücke, die mich inspirieren, auch mal die Ebene zu wechseln und mich in die Betroffenen einzufühlen. Wenn es allerdings tatsächlich um die Abbildung von Realität ginge, würde ich schon sagen: Hier gibt es einige Dinge, die ich ein bisschen anders sehe.
Welche wären das?
Behr: Wir müssten uns zum Beispiel erst einmal darüber verständigen, was wir meinen, wenn wir von Strukturen reden, was wir meinen, wenn wir von Einzelfällen reden, und was wir meinen, wenn wir von der Polizei sprechen. Das sind ja ganz unterschiedliche Fallkonstellationen. Ich halte zum Beispiel die Beteiligung an einer Chatgruppe für eine andere Kategorie als verpatzte Ermittlungen oder Ermittlungen, die eine ganze Organisation betreffen wie den NSU-Komplex. Das muss man schon auseinanderhalten. Haltungen, die innerhalb der Polizei geäußert werden – gegenüber den Kollegen und den Subkulturen der einzelnen Milieus –, sind nicht identisch mit den Strukturen, die die Polizei repräsentieren.
Kocak: Ich stimme Ihnen zu, es gibt Strukturen im Staatsapparat und in den Sicherheitsbehörden, die den NSU begünstigt haben und ähnliche Fälle weiterhin begünstigen. Aber die Polizei in ihrer Gesamtheit ist nicht identisch mit der Struktur, denn in der Polizei gibt es beispielsweise auch einen Mehmet, einen Ali, eine Ayşe. Cousins und Cousinen von mir arbeiten bei der Polizei. Trotzdem haben wir an einem Punkt ein gemeinsames Problem. Denn auch sie betreiben Racial Profiling.
Ihre Cousins und Cousinen übernehmen die diskriminierende Polizeipraxis, Menschen allein aufgrund ethnischer Merkmale zu kontrollieren, ohne dass konkrete Verdachtsmomente gegen sie vorliegen?
Kocak: Dieser Rassismus wird in der Institution sozusagen automatisch mit erzeugt. Wenn meine Cousins und Cousinen in Neukölln auf dem Hermannplatz sind, gucken sie sich arabische Jungs ganz anders an als einen Jürgen oder einen Phillip, der an ihnen vorbeiläuft.
Rittberger: Herr Behr, ich möchte eine Aussage von Ihnen zitieren, die ich in einem Interview in der Zeit gelesen habe. Dort sagen Sie etwas, was Sie auch hier im Gespräch eingangs schon angerissen hatten, nämlich: „Es gibt eine lange Tradition linker Feindbilder in der Polizei. Das hat sicherlich mit dem RAF-Terrorismus zu tun, der sich ja heute noch in der Organisationsstruktur der Polizei widerspiegelt.“
Diesen Satz würde ich jetzt gern einmal umformulieren. Wir stellen uns vor, es wäre das Jahr 2050, wir hätten unglaublich viele notwendige Reformen des Polizeiapparats erlebt, und der Satz würde wie folgt klingen: „Es gibt nun eine kurze Tradition rechter Feindbilder in der Polizei. Das hat sicherlich mit dem NSU-Terrorismus zu tun, der sich heute noch in der Organisationsstruktur der Polizei widerspiegelt.“ Ich weiß, Herr Behr, das ist reichlich spekulativ und utopisch. Aber nehmen wir einmal an, es gäbe wirklich einen Linksruck in der Polizei. Was müsste dafür jetzt passieren?
Behr: Das verlangt in der Tat viel Fantasie! Ich sehe diese Bereitschaft oder diese Tendenz eigentlich überhaupt nicht, weil eine linke Utopie immer mit einer Infragestellung des Nationalstaates zu tun hat, und wir wissen, dass Polizisten und Polizistinnen in der Regel nicht aus Milieus kommen, die dieser Utopie anhängen. Dass es da zu einer Umkehrung kommen könnte, wäre für mich nur vorstellbar, wenn rechte Gewalt gegen staatliche Institutionen artikuliert würde, wenn es zum Beispiel Angriffe auf Symbolfiguren des Staates gäbe; Entführungen, Erpressungen oder Morde, wie es die RAF praktiziert hat. Dann könnte ich mir vorstellen, dass man sagt: Das müssen wir ähnlich bekämpfen wie die Linken.
Rittberger: Das wäre ja durchaus wünschenswert, dass die gleichen Maßnahmen wie zu RAF-Zeiten jetzt gegen rechts ergriffen werden! Nur geschieht das nicht, selbst nach dem Mord an Walter Lübcke ist nichts passiert. Es gibt ja die berühmte Hufeisentheorie, der zufolge die bürgerliche Mitte gleich weit vom linksextremen wie vom rechtsextremen Pol entfernt ist – und gegen die Linke mächtig protestieren, weil sie argumentieren, dass auch die Mitte nicht frei von Extremismus ist. Ich finde ja das Bild, auf das der Lyriker und Publizist Max Czollek den Sachverhalt in seinem Buch „Gegenwartsbewältigung“ gebracht hat, passender: Ein Geodreieck, und in der Mitte oben ist ein rechter Winkel. Trotzdem wünschte man sich ja im Moment geradezu, dass die Hufeisentheorie in der Polizei angewendet würde – wenigstens das! Aber noch nicht einmal an diesem Punkt sind wir ja, wenn wir uns die rechtsextremen und völkischen Tendenzen in der Polizei anschauen. Wie kommen wir denn dahin, Herr Behr, dass die staatlichen Behörden sich stärker zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen?
Behr: Wie mir scheint, wird das im Moment durch die Reaktion auf rassistische Umtriebe in der Polizei tatsächlich versucht. Da stellt man sich ja zumindest rhetorisch in die Tradition der Verteidiger einer demokratischen Grundordnung. Ich kenne auch einen Polizeipräsidenten, der sich dezidiert und aktiv gegen die AfD gewendet hat. Der kriegt Morddrohungen.
Sie sprechen von dem Oldenburger Polizeipräsidenten Johann Kühme.
Behr: Es ist in der Tat nicht ganz einfach, sich so zu exponieren in der Polizei. Zum einen hat es dort keine Tradition, sich offensiv zu artikulieren, und zum anderen ist es teilweise auch verboten. Polizisten dürfen zum Beispiel bei einer Demo nicht aktiv politische Äußerungen von sich geben, weil sie dem Neutralitätsgebot unterliegen. Es ist sehr schwer, Polizisten überhaupt dazu zu bringen, ihre eigene politische Haltung zu artikulieren; gerade dann, wenn sie jenseits der CDU angesiedelt ist. Man wird in der Polizei relativ schnell als Linker attribuiert, und das fängt bei der SPD an. Der Querschnitt der Polizei hat eher einen konservativen Kern, ich würde sie aber nicht faschistoid oder faschistisch nennen.
Womit Sie übrigens recht haben, Herr Kocak: Die Vorstellung, dass man automatisch etwas gegen Rassismus tun könnte, indem man dezidiert Migranten in die Polizei holt, ist naiv.
Kocak: Meine Cousins und Cousinen haben links gewählt, bevor sie zur Polizei gingen. Als ich vor den letzten Wahlen mit ihnen gesprochen habe, erzählten sie, dass sie den Wahl-O-Mat-Test gemacht haben. Bei dem einen Cousin kam die CDU heraus, bei dem anderen die AfD. Da gibt es eine krasse Entwicklung, die zeigt, dass Menschen, die in dieses System hineinkommen, sich darin auch verändern.
Ist das so, Herr Behr?
Behr: Ich glaube, die Organisationskultur in der Polizei ist so dominant, dass sie das Naturell der Menschen überformt. Sie werden in einen Herrschaftskontext hineinsozialisiert. Das betrifft Menschen mit Migrationshintergrund genauso wie biodeutsche. Aber sie sind deshalb noch keine Rassisten. Ich würde auch bei der Polizei nicht von einer durch und durch rassistischen Organisation sprechen. Was es zweifellos gibt, ist eine starke Fixierung auf Ordnung sowie eine Hierarchie- und Gesetzesgläubigkeit, die verhindert, dass man in Zusammenhängen von linker Theorie denkt.
Rittberger: Herr Behr, Herr Kocak ist nicht der Einzige, dessen Auto in Brand gesteckt wurde und der Angst hat. Es gibt einen Buchhändler in Neukölln, auf den drei Anschläge verübt wurden. Und es gibt den unaufgeklärten Mord an Burak Bektaş ...
… der im April 2012 in Neukölln auf der Straße erschossen wurde.
Rittberger: Würden Sie sagen, dass da jetzt etwas unternommen wird? Oder sind das nur Lippenbekenntnisse, die der Berliner Innensenator Andreas Geisel und die neue Polizeipräsidentin Barbara Slowik abgeben, während in Wahrheit alles vertuscht wird?
Behr: Ich kenne mich in der Schutzpolizei besser aus als in der Kriminalpolizei. Was die rassistischen Anschläge und nicht aufgeklärten Morde in Neukölln betrifft, bin ich kein Spezialist. Aber ich glaube der Berliner Polizei, dass sie selbst erschrocken ist über die rassistischen Äußerungen in ihren Kreisen. Ich sehe im Moment keine Evidenz für einen strategischen Plan, etwas nicht aufzuklären.
Rittberger: Herr Kocak, würden Sie sagen, es wurde in letzter Zeit etwas zur Aufklärung unternommen?
Kocak: Es wurde eine Ermittlungsgruppe nach der anderen eingerichtet. Aber gefühlt nicht, um die Fälle selbst aufzuklären, sondern die Skandale, die während der Ermittlungen passiert sind, zu rechtfertigen. Es gab zum Beispiel ein Treffen eines LKA-Beamten mit einem Nazi oder einen Polizeibeamten, der im Bereich Rechtsextremismus ermittelt hat und selbst eine Vertrauensperson der Verdächtigen war. Ein Staatsanwalt wurde aufgrund von Befangenheit abgezogen, weil er einem der Neonazis kommuniziert haben soll, er müsse sich keine Sorgen machen, er sei auf seiner Seite, er würde AfD wählen.
Rittberger: Eine weitere Gefahr sehe ich in der Meta-Politik und Agitation der Rechten. Was als rechtmäßig angesehen wird, wird immer weiter nach rechts verschoben. Stichwort Remonstration – darum geht es auch ganz am Anfang in meinem Stück: Der Kapp-Putsch 1920, wo sich remonstrierende Polizeieinheiten dem Befehl des Reichspräsidenten, die Republik zu beschützen, verweigert haben. Einhundert Jahre später gibt es wieder Agitatoren – etwa Björn Höcke und Jürgen Elsässer – die Beamte dazu auffordern, zu remonstrieren. Das bedeutet, auch wenn der Einsatzbefehl anders lautet, eine Antifa vom Platz zu fegen, obwohl die sich genauso versammeln darf wie Rechtsextreme. Hier werden Kippmomente ersehnt, um dem Tag X näher zu kommen. Einen wuchtigen Kickboxing-Tritt eines Polizisten gegen einen wehrlosen Demonstranten wie neulich bei der Interkiezionale – Ferat Kocak hat es auf Twitter gepostet – kann man sich gegen Pegida-Demonstranten nicht vorstellen. Herr Höcke beschwört ein ganz konkretes Bedrohungsszenario herauf, wenn er der Bundespolizei und dem Verfassungsschutz die Dienstverweigerung empfiehlt, da in späteren Zeiten, nämlich dem Fall der Machtübernahme der AfD, „abgerechnet“ würde. Das sind Versuche, die Exekutive von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung abzukoppeln und einen anderen Maßstab anzulegen, mehr noch: eine andere Gesetzlichkeit. Das kann drastische Verschiebungen bedeuten.
Behr: Ich verwende das Wort Remonstration anders. Nicht als Aufforderung von rechts an Beamte, gegen Recht und Ordnung zu verstoßen, sondern es ist ein im Beamtenrecht festgelegtes Recht, gegen eine Maßnahme, die ein Vorgesetzter anordnet, Widerstand zu leisten. Wenn ein Vorgesetzter beispielsweise befiehlt, nehmt diese Leute fest und haut denen erst mal zehn Stockschläge auf den Hintern, angenommen so etwas gäbe es, dann müsste der Beamte remonstrieren und sagen, das ist grundgesetzwidrig. Das darf ich nicht tun.
Ich halte eine andere Ebene der Veränderung für viel wichtiger. Ich denke an die Berufsvertretungen. Ich bin zum Teil entsetzt über den Sprachgebrauch bei den Gewerkschaften der Polizei. Da ist von Gewerkschaft nichts mehr zu spüren. Eine reine Horrorshow. Was die an Sprache benutzen, ist von der AfD nicht mehr weit entfernt. Menschenverachtend, kritikverachtend, alles verachtend, was nicht Mainstream ist. Von dieser Institution geht eine viel größere Gefahr aus als von einem Polizisten, denn die Gewerkschaften geben sozusagen das Denken und Sprechen vor. Gewerkschaftliche Artikulation müsste sich verändern. Weil von dort Interessen der Polizei eben auch in die Gesellschaft transportiert werden.
Aber eine veränderte Denk- und Sprechweise könnte doch bereits in der Ausbildung vermittelt werden.
Behr: Die Veränderung bereits in der Ausbildung beginnen zu lassen, ist in der Tat ein sehr schwieriges Unterfangen. Erstens ist die Polizei in ihrer Ausbildungsphilosophie sehr stark auf Rechtlichkeit ausgerichtet. Deshalb nennen sie sich auch Rechtstechnokraten mit Gewaltlizenz. Zweitens existiert eine sehr stark vereinfachende Haltung. Ich nenne das Dominanzkultur. Der Begriff kommt von der Psychologin Birgit Rommelspacher, die 1995 ein Buch unter diesem Titel geschrieben hat. Polizisten werden in diese Dominanzkultur hineinerzogen. Ihnen wird klargemacht: So wie wir die Dinge sehen, so sind sie richtig. Wir entscheiden, was ein Verdacht ist, was kein Verdacht ist. Wir entscheiden, wer anständige Bürger und nicht anständige Bürger sind. Wir entscheiden, wer kontrolliert wird, wer nicht kontrolliert wird. Das ist sehr viel mehr als bloßer Rassismus. Die Dominanz sorgt dafür, dass man in binären Kategorien von wir und die anderen, Recht und Unrecht denkt, und die Zwischenräume überhaupt nicht diskutieren kann.
Was wäre dann ein möglicher Lösungsansatz?
Behr: Ich habe gestern eine sehr interessante Debatte mit hochrangigen Politikern in Berlin gehabt, die mich fragten, wie es wäre, mehr Seiteneinsteiger in die Polizei zu lassen, also Soziologen, Politologen und so weiter. Das wäre tatsächlich eine sehr große Herausforderung. Politische Bildung ist in der Polizei Mangelware. Antirassismustraining gibt es zu wenig. Und zwar nicht, weil die Polizei rechts ist oder rassistisch, sondern weil sie davon überzeugt ist, dass sie zu den Guten gehört. Dass sie in ihrem Kern fundamental richtig orientiert ist.
Kocak: Wir fordern seit mittlerweile einem Jahr einen Untersuchungsausschuss zum rechten Terror in Neukölln. Die Aufklärungsrate ist gleich null. Welche Verbindungen gibt es zu den Ermittlungsbehörden? Die Petition hat mehr als 25 000 Unterzeichner. Aber wir bekommen das Ding nicht durch. Innensenator Andreas Geisel von der SPD müsste dafür sein, aber scheitert an der Dominanzkultur der Polizei, die sagt, nein, wir wollen uns nicht auf die Finger schauen lassen.
Behr: Auch ich sehe mit großer Sorge, wie die AfD im Moment sehr bestrebt ist, Sympathien bei Polizisten zu erlangen. Ich sorge mich deshalb, weil so viel geschwiegen wird in der Polizei. Diejenigen, die mehr wollen als nur gehorchen, die sich Fragen stellen, werden angefeindet. Ich würde aber nicht sagen, dass die Polizei schon rechts abgedriftet ist. Nehmen wir das Versammlungsrecht. Polizisten sagen, sie schützen das Versammlungsrecht – und nicht die Nazis. Ich weiß noch, wie ich damals an der Startbahn West in Frankfurt stand. Rechtsgrundlage war das Hausrecht der Flughafengesellschaft. Und das mussten wir dann gegen Tausende von Leuten verteidigen. Ich war mir bewusst, dass das eine unzureichende Begründung ist. Aber vielmehr bekommen die Polizisten auch nicht angeboten. Daher richtet sich meine Kritik auch nicht an die Polizisten vor Ort, sondern an die Innenministerien, die solche Töne vorgeben.
Wir sprechen hier immer nur über kleine Bausteine einer Reform. Aber lässt sich die Struktur auch als Ganzes reformieren? Oder ist das naiv gedacht?
Behr: Nein, das ist nicht naiv. Man kann etwa die Ausbildung oder die Zugangsbedingungen zur Polizei ganz grundsätzlich reformieren, indem man eine andere Art von Auswahl trifft. Die Auswahl richtet sich derzeit noch sehr stark nach Disziplin und Sekundärtugenden. Zudem müsste man junge Anwärter frühzeitig ertüchtigen, eine Metaebene zu ihrem Beruf zu entwickeln. Auch sollte die Karriereleiter offen sein für Leute von außen. Oftmals wird mir aber vonseiten der Polizei gesagt, dazu habe man nicht genug Personal und Geld. Dabei gab es bereits in den neunziger Jahren eine Art Aufbruchstimmung in der Polizei. Auch strukturell! Es ging um flachere Befehlshierarchien, Dezentralisierung, Mitspracherecht für Führungsbeamte und so weiter. Sich als Bürgerpolizei und eben nicht als Staatsschutzpolizei zu definieren, war ein Trend, der aus Nordrhein-Westfalen in die Polizei getragen wurde. Ich habe den Begriff Bürger nicht so gerne, aber man könnte es auch übersetzen in Menschenrechtsschutz-Polizei. Diese Diskussion gab es bereits.
Seit 9/11 allerdings weht in der Polizei wieder ein anderer Wind. Es geht erneut in Richtung law and order, es geht um das Durchsetzen von Gesetzen und nicht das Aushandeln. Das sind Konjunkturen, durchaus keine linearen, sodass auch wieder andere Zeiten kommen könnten. Was ich hinsichtlich der Reformierbarkeit der Strukturen für wichtig erachte, ist die Reform oder gar Abschaffung des Beamtenrechts. Polizisten sind Beamte auf Lebenszeit. Wenn Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul Rassisten aus der Polizei rausschmeißen will, dann geht das nicht so einfach. Der wichtigste Punkt aber, der Reformen entgegensteht, ist der Umgang der Polizei mit Fehlern. Die Polizei ist auf Fehlerfreiheit orientiert. Wenn ihr nachgewiesen wird, dass sie einen Fehler gemacht hat, wird reflexartig dichtgemacht, gemauert, es entsteht ein closed shop, eine defensive Wagenburg-Mentalität. Daher auch die vielen Sonderkommissionen und die zusätzlichen Ermittlungsstellen, die die Fehler der anderen überprüfen sollen. In der Regel immer nur intern. Nie von extern. Alles ein Ausdruck einer fundamentalen Dominanzkultur. Es heißt dann immer: Ihr könnt da nicht mitreden, ihr kennt die Wahrheit nicht. Das ist eine ganz große, fast neurotische Abwehr gegenüber Kritik und Mitsprache von außen. Deswegen sind wir gerade in dieser absurden Diskussion, dass die Polizei absolut keinen Polizeibeauftragten will. Ich fände das eminent wichtig.
Möglicherweise hat die Abwehr von Reformen, die ja auch ein Reflektieren der bisherigen Vorgehensweisen erfordern, auch mit dem Tätigkeitsfeld zu tun. Jemand, der Einsätze plant und durchführt, muss im Zweifelsfall schnell handeln, heißt: kann sich langes Zweifeln nicht leisten – und agiert daher mehr oder weniger nach Schema.
Behr: Das spielt mit Sicherheit eine Rolle. Ebenso wie die Kredibilität. Einer, der in der Polizei Verantwortung übernehmen will, muss nachgewiesen haben, dass er in prekären Lagen erfolgreich war. Dazu eine berühmte Szene aus Hamburg. Die Hafenstraße war ja in den achtziger Jahren ein extrem umkämpfter Ort. Autonome beziehungsweise Linke und Polizei manövrierten sich in fast bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Stimmung war so aufgeheizt, dass es selbst in Polizeikreisen hieß, heute gibt es bei uns Tote. In dieser Situation hat der damalige Erste Bürgermeister Henning Voscherau gesagt: Schluss. Ich biete Mietverträge für die besetzten Häuser an, die Polizei zieht sich zurück. Das gab natürlich Widerstand ohne Ende vonseiten der Polizei, die nicht klein beigeben wollte. Voscherau aber hat dadurch die Logik der Eskalation durchbrochen. Das ist sozialer Frieden.
Rittberger: Es scheint, als ob die Polizeibehörde, wie sie hier skizziert wurde, nicht aus sich heraus zu reformieren ist oder zumindest nicht sehr leicht. Um den Missbrauch des Gewaltmonopols zu verhindern, bräuchte es einfach externe Beobachtungsstellen. Was könnten das für welche sein?
Behr: Es mehren sich tatsächlich die Stimmen, die besagen, dass sich die Zivilgesellschaft mehr einmischen müsse. Ich gebe auch deshalb gerne Interviews, weil ich darauf vertraue, dass sich die Zivilgesellschaft zunehmend engagiert in der Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Und zwar auf einer Ebene, die die Polizei sonst gerne abbügelt, nämlich keine Ahnung zu haben und nicht über Herrschaftswissen zu verfügen.
Ich glaube schon, dass es da im Moment eine Aufbruchstimmung gibt. Die Polizei ist, was ihr Selbstverständnis angeht, gerade sehr in Bedrängnis und sucht nach Auswegen. Möglicherweise sorgt auch der Druck aus der Politik dafür, mehr zuzulassen. Das haben wir an der Rassismus-Studie gesehen, die Horst Seehofer zunächst mit großer Geste abgelehnt hat: Nach einigen Wochen musste er zumindest teilweise einlenken. Die Alltagsforschung ist wie ein kleines Schlüsselloch in das Schlafzimmer der Polizei. Neues Wissen könnte dazu führen, dass sich die Polizei doch noch weiterbewegt.
Kocak: Ich würde eher sagen, der Zivilgesellschaft werden Brotkrumen zugeworfen, während der Etat weiter steigt, um die alten Strukturen zu reparieren. Wie bei einem alten Fernseher aus den siebziger Jahren, wo man immer wieder schaut, was man reparieren kann, damit er wieder eine Zeit lang funktioniert – aber eigentlich brauchen wir einen neuen Fernseher.
Rittberger: Wobei der neue Fernseher, Stichwort Gesichtserkennung, vielleicht auch nicht besser ist. Studien aus den USA zeigen, dass sich racial profiling im Bereich algorithmic bias und künstlicher Intelligenz fortsetzt.
Kocak: Jetzt hast du aber den neuen Fernseher anders interpretiert. (Lachen.)
Sie würden die Polizei abschaffen und durch neue Strukturen ersetzen wollen?
Kocak: Ich sag mal so: In Deutschland sind wir noch nicht so weit, dass wir über abolish the police sprechen können. Aber defund the police, also Aufgaben der Polizei anders zu verteilen, um das Gewaltmonopol zu dezentralisieren, wären kleine Reformen, die eine größere Veränderung anstoßen könnten.
Herr Behr, Sie haben eingangs gesagt, dass Sie den „Tatort“ Ihren Studenten gerne als Lehrstück empfehlen. Was ließe sich denn aus einem „Tatort“ – oder aus Kevin Rittbergers Stück – unterm Strich lernen?
Behr: Ich amüsiere mich immer bei Vereidigungsfeiern und anderen Hochanlässen, wenn gesagt wird, was ein Polizist alles lernen soll. Da steht ein Wort im Zentrum: Ambiguitätstoleranz. Was ja heißt, sich nicht eindimensional zu bewegen, Spannungen aushalten zu können und so weiter. Das aber wird überhaupt nicht gelehrt! Bei uns wird Ambiguitätsabwesenheit gelehrt – und Eindeutigkeit. In den „Tatorten“ oder im Theater trifft man mitunter auf Positionen, zu denen man sich nicht eindeutig verorten kann. Dieses Spannungsfeld halte ich für sehr produktiv, weil es abbildet, was einen als Polizistin und Polizist in der Realität erwartet. Gewissensbisse zum Beispiel. Wie gehe ich damit um, wenn ich eine Familie morgens um fünf aus dem Bett holen muss, weil sie abgeschoben wird. Paradoxien zu antizipieren in einer Situation, in der man nicht unter Handlungszwang steht, sondern Zeit hat, sich in das Geschehen empathisch hineinzuversetzen, halte ich für eine sehr produktive und lehrreiche Form des Theaters. Es erzeugt eine Metaebene, keine realistischen Abbilder, sondern Anregungen zum Denken und Fühlen. Auch Irritationsgefühle! Wenn Kultur irritiert, ist das nicht das Schlechteste.
Also: Mehr Polizisten ins Theater?
Behr: Wenn ich was zu sagen hätte, dann würde unsere Ausbildung im ersten Semester aus zwei Fächern bestehen: Theaterspiel und Rhetorik.
Aber?
Behr: Ich habe leider nichts zu sagen. //