Auftritt
Dessau: Mehr Farben als Figuren
Anhaltinisches Theater: „Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill. Regie und Ausstattung Ezio Toffolutti
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Unter Druck – Das Theater in Ungarn (04/2018)
Assoziationen: Anhaltisches Theater Dessau
Was unterscheidet den Bürger vom Verbrecher? Nicht viel, denn erfolgsorientiert arbeiten beide. Das besagt auch Bertolt Brechts lakonisch-rhetorische Frage, was sei schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank, was die Ermordung eines Menschen gegen die Anstellung eines Menschen? Nichts, natürlich, wie die Frage bereits impliziert. Der Bürger ist die Wiedergeburt des Verbrechers unter legalem Vorzeichen! Mit seinem Unterweltopus zu Kurt Weills Jahrmarkts-Jazz-Klängen blickt Brecht in den Bauch von London im 17. Jahrhundert. Das ist die Zeit der sogenannten ursprünglichen Akkumulation, die Geld umverteilt – vor allem mittels Gewalt. Die Bettler spielen Renaissancefürsten, die Huren sind ihre Bräute. Eine alte Ordnung zerbricht, eine neue ist nicht in Sicht. Daraus bezieht diese Anti-Oper von 1928 bis heute ihren Reiz: Die Jagd nach Geld hört nicht auf, im Gegenteil.
Ezio Toffolutti, der Venezianer mit Volksbühnenprägung unter Benno Besson in den siebziger Jahren, hat nun für das Kurt Weill Fest am Anhaltinischen Theater Dessau die „Dreigroschenoper“ auf die Bühne gebracht – und verantwortet selbst Regie, Bühne, Kostüme und Licht. Dass er vom Bühnenbild her denkt, fällt sofort ins Auge: eine typografische Attraktion! Toffolutti nimmt die „3Groschenoper“ beim Wort, zerschneidet diese in eine Zahl und acht Buchstaben (bis „-oper“) und stellt die aus Zeitungen, Pappen und Notizzetteln ausgeschnittenen Buchstaben vergrößert bis zum sinnlich erfahrbaren Weltwiderstand auf die Bühne. Im Hintergrund werden die Materialreste projiziert, wie ein verschlissenes Stillleben von Georges Braque und Fernand Léger. Jedes Werk also wird wieder zum Material für ein anderes, alles ist Collage und Patchwork! Das ist ein intelligenter, wenn auch wenig dramatischer Zugang zum Thema. Toffolutti malt sich seinen Brecht, diese „Dreigroschenoper“ wird zum fein ziseliert gearbeiteten Tableau in vorherrschenden Grau- und Schwarztönen. Wie in einem Gemälde setzt er dann einige wenige Leuchtfarben als Kontrast dagegen, vor allem das Rot im Priesterkleid und im Hurenfummel. Es ist wohl so: Toffolutti inszeniert hier mehr Farben als Figuren! Da wird ein Wandschrank geöffnet, und heraus fällt ein kunstvoll drapiertes Knäuel in Grün-Gelb. Dann wieder lange nur Grau in Grau, bis ein Schlaglicht die Krönungszeremonie in Szene setzt: Ein bizarrdämonischer Zug mit Königskutsche zieht in wenigen Sekunden über die Bühne. Das ist zweifellos der optische Höhepunkt dieses Abends, perhorreszierend wie eine elektrisch beleuchtete Francis-Bacon-Hölle.
So stilsicher Toffolutti die Bühne beherrscht, so ratlos wirkt er anfangs, was die inszenatorischen Mittel betrifft. Der Anspruch, Brecht und Weill werkgetreu auf die Bühne zu bringen, lässt ihn die Guckkastenperspektive favorisieren. Reichlich wird der Spotscheinwerfer eingesetzt, das Licht häufig auf- und abgeblendet, bei passender Gelegenheit auch schon einmal alles in Bordellrot getaucht. Gewiss, Toffolutti hat einen starken Sinn für das Brünstige der Szenerie, das hier jedoch für niemanden ein Quell der Freude wird. Aber wie spielt man das? Wir sehen eine Folge von Schlaglichtern, die Brecht filmschnittartig montiert wissen wollte, mal mit und mal ohne Kommentar, so das heikle Band der Dramaturgie. Heikel, weil dabei alles eine Frage von Tempo und Rhythmus wird. Und hier laboriert der Abend lange Zeit an etwas schleppend Behäbigem, sinkt gelegentlich ab zur boulevardesken Abfolge einer Nummernrevue.
Lange also stellt sich Intensität des Spiels nicht her, obwohl alle Einzelteile solide gearbeitet sind. Die – zumeist jungen – Schauspieler agieren (auch stimmlich!) auf hohem Niveau. Matthias Mosbach, der bereits mit Claus Peymann und Leander Haußmann arbeitete, ist ein vielversprechender Mackie Messer, ebenso Mirjana Milosavljevic als Polly. Doch dem lange zu braven Zusammenspiel gelingt erst gegen Ende jene groteske Intensität, um die es hier doch geht. Zu selten ist solch kabarettistische Zuspitzung wie bei Marie Thérèse Albrecht als Lucy im Zickenkampf mit Polly um Mackie. Mit expressiver Kraft dann das Finale von Mackies makabrer Kerkerszene und dem „reitenden Boten“ des Königs, der – so sind nun einmal die Gesetze von Tod und Erfolg – Mackie nicht nur begnadigt, sondern ihn auch gleich in den Adelsstand erhebt und mit Geld überschüttet. Versteht man diesen jetzt endlich frei aufspielenden Aberwitz? Das vorwiegend ältere Publikum im ausverkauften Dessauer Theater jedenfalls will kaum aufhören zu jubeln. //