Die Sprechatmung
Die Sprechatmung
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
Assoziationen: Schauspiel

Um es vorwegzuschicken: Ich bin keine Liebhaberin von isolierten Atemübungen, gleichwohl untersuche ich im Unterricht die physiologischen Abläufe der Atmung in ihrer individuellen Ausprägung. Die Sprechatmung betrachte ich einerseits vor dem Hintergrund der verschiedenen Komponenten der Sprechsituation und andererseits als besonderes Merkmal des Sprech-Denk-Vorgangs.
Die äußere Atmung beschreibt den Vorgang der Sauerstoffaufnahme aus der Umgebung und die Abgabe von Kohlendioxid. Die innere Atmung bezieht sich auf die biochemischen Prozesse der Zellatmung. Für die Stimmgebung interessieren uns die Abläufe der äußeren Atmung zunächst in der Ruhephase des Körpers. Die durch Mund oder Nase eingeatmete Luft strömt über den Nasen- bzw. Mundrachen in den Kehlkopf, in dem die Glottis die Grenze zwischen oberen und unteren Atmungsorganen markiert. Durch die Luftröhre bewegt sich die Atemluft über die Bronchien in die Lunge, in der der Gasaustausch stattfindet, und verlässt den Körper während der Ausatmung auf umgekehrtem Weg. Während der Einatmung flacht sich das doppelt kuppelförmig nach oben gewölbte Zwerchfell durch Kontraktion ab, sodass sich der Brustraum nach unten erweitert und die Lunge mit Luft gefüllt wird. Die flexibel gelagerten Bauchorgane werden nach unten und gegen die Bauchwand bewegt, die sich vorn und seitlich leicht nach außen wölbt. Gleichzeitig erweitert sich der Brustraum durch das Spannen der äußeren Zwischenrippenmuskeln, die die Rippen heben und einen zusätzlichen Raum schaffen, in dem sich die Lunge mit Luft füllen kann. Zwerchfell und äußere Zwischenrippenmuskulatur leiten durch Kontraktion die Einatmung ein. In der Brusthöhle entsteht ein Unterdruck, der das Einströmen von Atemluft ermöglicht. Die elastische Rückstellkraft der mit Luft gefüllten, gedehnten Lungen und des Brustkorbs ermöglicht im Zusammenwirken mit der Schwerkraft die Ausatmung, bei der sich Zwerchfell und äußere Zwischenrippenmuskulatur entspannen (vgl. Abb. 10). Es folgt eine Atempause, bis sich der Atem erneuert. Wenn wir nicht sprechen, singen, husten, lachen oder körperlichen Aktivitäten nachgehen, ist die Ausatmung ein muskulär passiver Vorgang. Anderenfalls unterstützen Teile der Bauchmuskulatur und die innere Zwischenrippenmuskulatur die Ausatmung.
Da Sprechen ein gesamtkörperlicher Vorgang ist, kann die Ausatmung als Mittel der gestischen Äußerung vom ganzen Körper unterstützt werden. Das Spannen und Lösen des Zwerchfells wird als Bauchatmung bezeichnet, das Wechselspiel der Zwischenrippenmuskulatur als Brustatmung. Der natürliche Atemvorgang besteht in einer Kombination aus Bauch- und Brustatmung, wobei etwa zwei Drittel des gesamten Atemvolumens durch die Aktivität des Zwerchfells bewegt werden.43
Schauen wir uns den Hauptakteur im Atemprozess genauer an. Das Zwerchfell ist eine Muskelsehnenplatte, deren Muskelfasern an der Unterkante und den Seiten des vorderen Brustkorbs und an der Bauchseite der Lendenwirbelsäule entspringen. Auf diese Weise bestehen Verbindungen zum Brustbein, zu den unteren Rippenbögen und zum unteren Rücken. Zwischen Ein- und Ausatmung findet sich bei der Ruheatmung ein annähernd gleiches Verhältnis. Bei der Sprechatmung verlängert sich die Ausatmungsphase. Unsere Atmung wird über den Hirnstamm reflektorisch gesteuert. Atmen geschieht uns, wir können es nicht abstellen, indem wir beschließen, damit aufzuhören. Aber wir können die Atmung wahrnehmen und ihren Rhythmus über die Großhirnrinde steuern. Darüber hinaus wird das Atmen von äußeren und inneren Faktoren beeinflusst. Wie wir die Vorgänge in unserer Umgebung und in unserem Körper wahrnehmen, beeinflusst unsere Atemfrequenz, den Atemrhythmus und das Atemvolumen sowie das Verhältnis der Anteile von Brust- und Bauchatmung. Schreck, Freude, Erschöpfung, Lauschen, Schauen, Tasten beeinflussen den Atem auf jeweils unterschiedliche Weise. Darüber hinaus können Fehlhaltungen aufgrund andauernder körperlicher und/oder mentaler Spannungen das Zusammenwirken der Atemmuskulatur empfindlich stören. Durch ihre sowohl biologische als auch soziale Funktion ist die Atmung an die Physis und die Psyche gebunden, verläuft unbewusst, ist aber bewusst beeinflussbar hinsichtlich der Intensität und Dauer der Abläufe. Gedanken, Gefühle und Handlungen bewegen den Atem. Der Atem bewegt den Körper, wie der Körper den Atem bewegt. Insofern ist es sinnvoll, die Arbeit an der Spannung und Lösung des Körpers damit zu verbinden, den Bewegungen der Atmung nachzuspüren und sie wahrzunehmen. Auf diese Weise verschaffen wir uns eine Ausgangsposition, auf die wir uns immer wieder beziehen können, um beim Sprechen nicht unter Druck zu geraten.
Einen unbewusst ablaufenden Körpervorgang bewusst wahrzunehmen und geschehen zu lassen, fällt uns in der Regel nicht leicht. Schnell wollen wir etwas verbessern und kontrollieren. Um uns der Atmung und ihrem körperlichen Anschluss bewusst zu werden, gehen wir in umgekehrter Weise vor wie im Kapitel Sprechen aus der Körpermitte vorgeschlagen: In der aufrecht stehenden Position nehmen wir das Gewicht des Körpers über die Auflageflächen der Füße wahr. Wir lösen die Gelenke und reduzieren die Spannung der Haltemuskulatur auf ein Maß, das eine lockere Grundspannung zu einem Spielpartner hin ermöglicht. Wenn der andere Lust hat, mit uns etwas zu unternehmen, haben wir eine gute Ausgangsposition gefunden. Indem wir unseren Schwerpunkt verlagern, können wir nun versuchen, den anderen zu bewegen und ihn einzuladen, uns mit seinen Bewegungen zu folgen oder sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Wir bewegen uns nach vorn und hinten, nach oben und unten und zur Seite, stehen auf einem Bein, spielen mit unserem Gleichgewicht, nutzen die Bewegungsmöglichkeiten unseres gesamten Körpers. Unser Skelett wird durch Muskelaktivität bewegt. Wir nutzen unsere Muskulatur, um Bewegungen vom Körperzentrum weg und zum Körperzentrum hin auszuführen, und können der Haltefunktion unseres Skeletts vertrauen. Im Kontakt mit dem Spielpartner probieren wir, Bewegung und Atem spielerisch geschehen zu lassen und nicht so viel darüber nachzudenken, was wir tun. Unsere Atmung passt sich unseren Bewegungen an. Die Ausatmung wird sich unseren Bewegungen entsprechend verlängern, wenn wir sie durch den stimmlosen Reibelaut F hörbar machen. Wir setzen dem ausgeatmeten Luftstrom ein kleines artikulatorisches Hindernis entgegen und aktivieren dadurch Teile der Bauchmuskulatur als elastischen Antagonisten zum Zwerchfell, das seine inspiratorische Aufspannung verzögert aufgibt. Da wir in der aufrecht stehenden Position in ständiger Bewegung sind, um uns gegen die Schwerkraft auszubalancieren, können wir die Bewegungen um den Körperschwerpunkt nun immer weiter verkleinern, bis wir ein Gefühl für diesen immerwährenden, flexiblen Balanceakt bekommen haben. Der Atem passt sich diesem Prozess auf natürliche Weise an. Wir müssen nicht darüber nachdenken, wie wir uns bewegen oder wie wir atmen. Wir nehmen es lediglich wahr.
Eine lockere, auf unseren Spielpartner gerichtete Grundspannung als Ausdruck von Wachheit und Interesse ist die Vorbereitung, derer es bedarf. Unnötige Muskelspannung wird unsere Balance stören. Die Lendenwirbelsäule nimmt dann weniger Gewicht auf, das an den Boden abgegeben werden kann. Weil wir unser Gewicht nicht dem Boden anvertrauen, muss es von den Muskeln gehalten werden. Das kostet Kraft und führt zur Verkürzung oder Überstreckung der Brustwirbelsäule. Dann spannen wir meist auch die Muskulatur von Schultern, Hals, Nacken und Kiefer an. Wenn wir Muskulatur des Schultergürtels inspiratorisch einsetzen, dehnt sich der obere Brustraum horizontal aus, bevor das Zwerchfell sein vertikales Optimum erreicht hat. Unser Atem bleibt flach, die Stimme klingt matt. Bei guter körperlicher Zentrierung nutzen wir die tiefliegenden Muskeln des Beckens und des unteren Rückens, um die Aktivität des Zwerchfells zu unterstützen. Der Oberkörper kann dabei offen und beweglich bleiben und die Zwischenrippenmuskulatur ungehindert arbeiten lassen. Die Stimme klingt frei und durchlässig. Die kombinierte Bauch-Brust-Atmung ist die natürliche Atmung. Sie garantiert, dass sich die Lungen im unteren Bereich gut mit Luft füllen können. Dadurch ist ein optimaler Gasaustausch gewährleistet. Die vertikale Bewegung des Zwerchfells unterstützt unsere Zentrierung und richtet die Wirbelsäule gegen die Schwerkraft aus. Es fällt uns dadurch leichter, uns auszubalancieren. Die Zwischenrippenmuskulatur öffnet den Brustkorb und gibt uns dadurch zusätzlich Stabilität.
Wir können das Zusammenspiel von Halteapparat und Muskulatur beim Bewegen und Atmen auch in anderen Körperpositionen ausprobieren: in der gehockten Position, im Schneidersitz, im Strecksitz, in der hängenden Position. Das Körperempfinden ist immer anders, aber die Wirkungsprinzipien der den Körper bewegenden Kräfte bleiben gleich. Die horizontale Bewegung unseres Körpers beim Atmen, das Ausdehnen und Zusammenziehen der Bauchwand, des unteren Rückens und der Rippen wird in den verschiedenen Positionen unterschiedlich, aber meist deutlich wahrgenommen. Dem vertikalen Bewegungsablauf des Zwerchfells nachzuspüren, gelingt erst nach und nach. Das Zwerchfell entzieht sich unserer Wahrnehmung. Aber wir können die Auswirkungen seiner Aktivitäten nach unten über den Beckenboden und nach oben über das Brustbein nachempfinden. Zwerchfell und Beckenboden sind ähnlich aufgebaut, arbeiten aber als Antagonisten. Während sich das Zwerchfell bei der Einatmung anspannt, entspannt sich der Beckenboden und vice versa. Vor allem in der gehockten Position können wir die dadurch ausgelöste Bewegung der unteren Körperöffnungen wahrnehmen. Das Heben und Senken des Brustbeins lässt sich nach oben als Auswirkung vertikaler Atembewegung erleben. Während der Ruheatmung streckt sich die Wirbelsäule bei der Einatmung und löst sich während der Ausatmung. In der Rückenlage untersuchen wir die Atembewegungen sowohl des entspannten als auch des versammelten Körpers zunächst während der Ruheatmung, bis wir zulassen können, dass der Atem unseren Körper bewegt. Die Positionen im Liegen lassen sich auf verschiedene Art verändern. Wir können die Beine aufstellen, um das Becken und die Lendenwirbelsäule zu lösen oder die aufgestellten Beine bei zur Seite ausgestreckten Armen zu jeweils einer Seite bewegen, um den unteren Rücken zu dehnen. Jede Veränderung der Körperposition wird die Bewegung des Körpers durch den Atem etwas anders erlebbar machen.
Die Idee, dass der Atem in jedem Fall zu uns kommt, dass wir uns nicht um ihn bemühen müssen, unterstützt den natürlichen Atemrhythmus und die Lösung der Atemmuskulatur während der Ausatmung, gefolgt von einer Atempause, bis das Bedürfnis nach Atemerneuerung zu angemessener Muskelaktivität während der Einatmung führt. Die Vorstellung, dem Atem im Körper Raum anzubieten, ist hilfreich. Atmen ist eine Fähigkeit, über die wir verfügen. Die natürlichen Abläufe zuzulassen und zu beobachten, ist der erste Schritt dahin, unser Denken, Fühlen und Handeln mit dem Atem zu verbinden. Die Ruheatmung verändert sich, wenn der Körper in Bewegung kommt, wenn er sich willentlich äußert. Wenn wir uns, wie im Dracula-Spiel beschrieben, aus der Rückenlage in den Strecksitz erheben, um zu schauen, wer sich uns gegenüber befindet, werden wir diese Bewegung mit einer Einatmung verbinden oder den Atem anhalten. Wenn wir jedoch vorher den Kopf heben, um Blickkontakt aufzunehmen, und mit der Aufrichtung des Oberkörpers eine Aufforderung an den Spielpartner verbinden, werden wir die Bewegung mit einer Ausatmung begleiten. Die Idee, sich mit einer Aufforderung aufzurichten, ergreift als Gedankenimpuls den Körper und initiiert die Einatmung als natürliche Vorbereitung der folgenden Bewegung. Die Bewegung wird mit einer Ausatmung begleitet und wird zur Äußerung. Die Einatmung ist die Vorbereitung der Äußerung.44 Diese Vorbereitung ist an einen Gedanken gebunden, der vom Körper Besitz ergreift. Die Ausatmung wird nun verlängert, indem Teile der Bauchmuskulatur als Gegenspieler des Zwerchfells agieren und den ausgeatmeten Luftstrom in den Raum richten. Wie im Kapitel Von der Rückenlage in die sitzende Position beschrieben, ist es notwendig, den Gedanken und die Bewegung zu motivieren und mit einer Absicht zu verbinden. Auf diese Weise kann genau so viel Luft in den Körper gelangen, wie wir für die Aufrichtung und Ausatmung, also für die Äußerung, benötigen. Das Motiv zu sprechen und die Sprechabsicht organisieren in Abhängigkeit von unserer Wahrnehmung in der konkreten Situation das ökonomische Zusammenwirken der für diesen Vorgang benötigten Muskulatur. Korrekturen sollten sich darauf richten, den Bewegungsablauf im Hinblick auf den Partnerkontakt und die zu vollziehende Handlung zu optimieren. Dazu gehört eine Versammlung des Mittelkörpers als Ausdruck des Willens, mit anderen etwas zu unternehmen. Eine Erwartung und Neugier in Bezug auf die Reaktionen der Spielpartner wird den Brustkorb öffnen und die Zwischenrippenmuskulatur gut arbeiten lassen. Sind Schultern und Nacken gelöst, kann der Atem frei durch die Kehle strömen. Es erweist sich als günstig, den Körperschwerpunkt so lange wie möglich bei den Spielpartnern anzunehmen und die Ausatmung über die Bewegung hinaus zu verlängern. Die Ausatmung wird zur Verlängerung des Körpers. Den Raum, den wir körperlich nicht überbrücken können, erobern wir mit der Ausatmung bzw. in nachfolgenden Übungen mit der Stimme. Dann generiert ein neuer Eindruck einen neuen Gedanken, ergreift den Körper, während die Atemluft einströmt, und führt zur von der Ausatmung begleiteten Bewegung zurück in die liegende Position. Der artikulatorische Widerstand, den der Reibelaut F bietet, aktiviert das flexible Wechselspiel zwischen dem sich nach oben bewegenden Zwerchfell und der diese Bewegung steuernden Bauchmuskulatur. Nur wenn der Bewegungsansatz für das Aufrichten und Zurückbewegen aus dem Körperzentrum initiiert wird, kann die Bauchmuskulatur die für die Steuerung des Ausatmens notwendige Flexibilität aufbringen und sich lösen, wenn das Zwerchfell sich für die Einatmung neu aufspannt. „Das Absinken des Zwerchfells erhöht den Druck in der Bauchhöhle. Wenn es wieder nach oben wandert, werden die Bauchmuskeln angespannt.“45 Dieser Prozess wird durch die Bewegung unterstützt. Das Dracula-Spiel ist anstrengend und sollte aus diesem Grund immer spielerisch bleiben. Es geht darum, Atemräume zu öffnen und Atemdruck zu reduzieren. Untertexte, die eine staunende Haltung unterstützen, können dabei helfen. Staunen öffnet die Sinnesorgane und die Kehle. Es ist durchaus legitim, das Körperzentrum bei seiner Arbeit ein wenig zu unterstützen. Den Studierenden fällt diese Übung leichter oder schwerer in Abhängigkeit von ihren Proportionen. Mit beiden Händen das Knie eines an den Körper herangezogenen Beines zu umfassen, kann den Bewegungsablauf des Körpers erleichtern. Es kann auch hilfreich sein, die Beine aufzustellen oder unterstützende Gesten zu benutzen. Im Schneidersitz und in der gehockten Position gehen wir in ähnlicher Weise vor, wie auch im Übergang von der hängenden zur aufrecht stehenden Position.