Theater der Zeit

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Auftritt

Staatsoper Stuttgart: Trauerzug mit „Walking Bass“

„Johannes-Passion“ von Johann Sebastian Bach – Musikalische Leitung Diego Fasolis, Regie und Bühne Ulrich Rasche

von Otto Paul Burkhardt

Assoziationen: Baden-Württemberg Musiktheater Staatsoper Stuttgart

„Johannes Passion“ von Johann Sebastian Bach, in der Regie von Ulrich Rasche Foto: Matthias Baus
„Johannes Passion“ von Johann Sebastian Bach, in der Regie von Ulrich RascheFoto: Matthias Baus

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Noch vor dem ersten Ton der „Johannes-Passion“ gibt bereits eine dumpfe Trommel den unerbittlichen Puls vor. Erst dann setzt in Ulrich Rasches Inszenierung Bachs G-Moll-Eingangschor ein – mit jenem beständig pochenden Rhythmus als Fundament. Die Bühne: dunkel, leer, vernebelt. Der Boden eine schwarze Scheibe. Der Chor, die Solisten: Sie alle gehen im Kreis. Oder besser: Sie schreiten. Zwei Stunden lang fast nonstop. Langsam, gemessen, irgendwie feierlich, im Takt der Musik mitschwingend. Auf der ruhig rotierenden Drehbühne wirkt es so, als kommen sie alle nicht vom Fleck, als treten sie ständig auf der Stelle. Ein bizarrer Trauerzug. Den Rhythmus gibt Bachs barocker „Basso continuo“ vor – von Rasche als eine Art „Walking Bass“ aufgegriffen. Es gibt Momente, da erinnert diese kreisende Prozession im Wiegeschritt gar entfernt an ein Jazz-Funeral in New Orleans.

Ein starkes, aber auch erwartbares Bild. Denn für Ulrich Rasches Bühnensprache sind derlei Geh-Szenarien typisch – als vielfach variierte Metapher für die Dialektik von Fortschritt und Stillstand. Seit vielen Jahren versetzt er ganze Ensembles und Chöre mit Laufbändern, Walzen, Rädern und Drehbühnen in diesen Zwischenzustand von Bewegung und Ruhe. Egal, ob es sich beim theatralischen Sujet nun um „Kirchenlieder“ (2005), um den „30. September“ (eine Nachbetrachtung zu Stuttgarts S-21-Protesten 2010) oder um Aischylos‘ Ur-Drama „Die Perser“ (2018 Salzburger Festspiele) handelt. Inzwischen dreimal in Folge Gast beim Berliner Theatertreffen, wandte sich Rasche 2022 mit „Elektra“ erstmals der Oper zu.

Nun hat er für die Stuttgarter Staatsoper Bachs kanonische, sonst in Kirchen und Konzertsälen zelebrierte „Johannes-Passion“ szenisch eingerichtet. Er bleibt sich treu – und macht ein Schreit-Oratorium daraus. Das Volk, Anhänger und Feinde Jesu, der Evangelist, Pilatus, überhaupt das ganze Personal: Sie alle wandern slow-motionartig zum Bachschen Bass-Groove über die Szene, kommen jedoch per Drehbühneneffekt kaum einen Schritt vorwärts. Rasche setzt auf konsequente Abstraktion: kein Realismus, keine Kreuze, keine christlichen Symbole, keine szenische Nacherzählung der Handlung. Alle tasten sich durch ein zeitloses Irgendwann, sind ähnlich schwarz, weiß, grau gekleidet, wandern in zögerndem Gleichschritt als Menge im Kreis oder als Einzelperson, allein im weiten Rund. Dank dieser nebligen Vagheit lässt sich – in den aufgeregten „Kreuziget“-Rufen der Masse, im leugnenden Petrus, im beschwichtigenden Pilatus, in den Gruppenbildungen innerhalb der Israeliten und der römischen Besatzer – auch viel Heutiges wiedererkennen: aufgehetzte Massen, Hassparolen, Gegendemonstranten, lavierende Politiker. Ein düsteres Szenario: Das Irren im Kreis symbolisiert Geschichte, die sich auf fatale Weise beständig wiederholt. Skepsis, Verzweiflung statt Erlösung.

Rasches Passions-Kondukt kann auch als Ritual gelesen werden, als Zeremonie, bei der eine Gemeinschaft das Überlieferte choreographisch memoriert. Und wie in seinen jüngeren Arbeiten bringt er farbiges Licht mit ins abstrakte Spiel – riesige Leuchtkästen, die sich von oben herabsenken. Glutrot, meerblau und hoffnungsgrün laden sie die Szene assoziativ auf, deutbar als Gesetzestafeln, als Chiffren göttlicher Trinität oder als Nachbilder der drei Hingerichteten auf Golgatha. In Sachen Stilisierung, Langsamkeit und Licht erinnert Manches an die Tableaus von Robert Wilson. Nur ganz selten wird die Regie etwas konkreter, blendet Videos von himmelwärts bittenden Händen ein, visualisiert Folterspuren auf Jesu blutüberströmtem Oberkörper.

Nur ein einziges Mal, im Augenblick des Todes, bricht Rasche den durchgehenden Schreit-Rhythmus ab. In den Stillstand und das dröhnende Schweigen lässt er als Spezialeffekt vom Schnürboden herab eine Staubwolke explodieren, eine Art Fall-out, der die Bühne vollends einnebelt. Bis sich die Prozession wieder in Gang setzt. Erst ganz am Ende, bei der Grablegung, beginnt die Drehscheibe, auf der sich alles abspielt, im wabernden Dunkel an den Rändern zu leuchten – ein magisch schimmernder Lichtkreis, der Gemeinschaft stiftet, Versöhnung und Hoffnung andeutet.

Kurzum, die Inszenierung will mit ihren statischen Bildern – tranceartig wandelnde Menschen – keineswegs an explizit tänzerische Umsetzungen anknüpfen, wie sie etwa John Neumeiers weltweit tourende Erfolgschoreographie der Bachschen „Matthäus-Passion“ bot. Rasches weitgehender Verzicht auf kitschverdächtige Optik ermöglicht Deutungsoffenheit. Doch die szenische monotone Umsetzung in einen permanenten Schreitgestus wirkt allzu überschaubar und ebnet vieles ein, zumal die Drehbühne der sanierungsbedürftigen Staatsoper ständig gut vernehmlich rumpelt und so teilweise den meditativen Sog der Arien empfindlich stört. Zudem bleibt musikalisch in Sachen Klangtransparenz und Koordination noch Luft nach oben. Unter Leitung des Schweizer Barockspezialisten Diego Fasolis gelingt es dem Staatsorchester und den teils fern gerückten Chören nur momentweise, an die gewohnt hohen Standards der reichen Stuttgarter Bach-Tradition, sei es moderat modern unter Helmuth Rilling oder historisch informiert unter Hans-Christoph Rademann, anzuknüpfen.

Dagegen überzeugt das Solistenensemble durchweg, allen voran Moritz Kallenberg mit glasklarem, farbenreichem Tenor als ein Evangelist, der den verhängnisvollen Lauf des Geschehens nicht nur berichtet, sondern auch zunehmend empathisch miterlebt. Eindringlich: Shigeo Ishino als kraftvoller Jesus und Andreas Wolf mit vollem Bassbariton (Petrus/Pilatus). Ebenfalls stimmlich gut sortiert zeigt sich Jesu Gefolgschaft mit Fanie Antonelou (Sopran), Alexandra Urquiola (Alt), Charles Sy (Tenor) und Johannes Kammler (Bariton).

Erschienen am 12.4.2023

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