Magazin
Luftschloss und Trutzburg
Kunst und Konflikte in sechs Staatswesen: Esther Slevogt hat eine spannende Geschichte des Deutschen Theaters Berlin geschrieben
Erschienen in: Theater der Zeit: Kinder- und Jugendtheater – Yair Sherman: Theater und Israel (12/2023)
Assoziationen: Buchrezensionen Deutsches Theater (Berlin)
Ein eindrückliches Bild: Der Teufel kommt von unten, er entsteigt einer Bodenklappe auf der Bühne. Ein Malocher des Maschinenraums. Von unten auf: Das schillernd Böse hat Wurzeln im Untergrund – und ist im Gespräch mit Gott hoch oben. Dieter Franke als Mephisto im „Faust“ von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz, 1968.
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Goethes Theater-Diktum darf als sinnfälliger Auftakt für dieses Buch stehen. Denn es beginnt dort, „wo das Theater die Geheimnisse verbirgt“, die sein Wesen und sein Wirken ausmachen. „Also steigen wir zunächst in die Unterbühne hinab: einen nach Staub und Arbeit riechenden Kosmos der Eisenträger, Hubvorrichtungen und Stromschaltkreise.“ So beginnt Esther Slevogt. Die Drehbühne des Deutschen Theaters: Anfang des 19. Jahrhunderts eine revolutionäre Technik, Berlin ist das „tosende Zentrum der Industrialisierung“.
Das Theater wie alle Historie: Bewahrung und Bruch, Festschreibung und Richtungskampf. Slevogt erzählt in acht Kapiteln genau dieses Spannungsfeld. Die Biografie des Deutschen Theaters, von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zu den neunziger Jahren des zwanzigsten Säkulums: sehr konkret, sehr faktengesättigt, aber auch äußerst gleichniskräftig und spürsinnig für die innere Dramatik von Welt-, Landes- und Stadtgeschichte. Dieses stets besondere Haus in Berlin, Schumannstraße 13 a: Luftschloss der Träumer, Lustschloss der Ver-Rückten, Trutzburg der Lustigen wie Listigen, Kultstätte für Ketzer und wendige Artisten des Kompromisses. Die Kapitelüberschriften des Buches enthalten Kernworte: Bürgerliche Selbstermächtigung; Weltruhm: Max Reinhardt; Nationalsozialismus; Trümmer; Zwischen den Stühlen der Systeme; Geschlossene Gesellschaft; DDR und Langeweile; Ende der Geschichte.
Der Prolog des vergessenen Dichters Julius Wolff zur Eröffnung des Theaters 1883 – „… uns irrt nicht Zweifel, nicht der Zeiten Drohen, / Weil Muth und Hoffnung in uns allen blühn“. Damals eine Kaiserreich-Hoffnung, sie hielt sich über jene „sechs Staatswesen“ (Slevogt), die das DT durchlebte. Besagter Kaiser kündigte seine Loge nach Otto Brahms „Webern“ 1884 –und bei der Premiere des schon erwähnten „Faust I“, 1968, verließ die SED-Spitze das Theater demonstrativ vorzeitig. Immer wieder Reibung mit der Macht. Kunst ist Waffe, wo sie kühn ihre Ohnmacht bewahrt.
Als „Urknall eines neuen Theaterzeitalters“ bezeichnet Slevogt die besagte „Weber“-Premiere, der Kohlgeruch der Arme-Leute-Küche zog provokant von der Bühne in den Zuschauerraum. „Sinnlich, hell“ war dann die Max-Reinhardt-Ära, während der deutsche Kolonialismus in Afrika erste KZ errichtete. Sehr oft sieht die Autorin Größe in Nachbarschaft zu Krisen, Glanz in Nähe von Katastrophen. Am 5. Mai 1933 war in Anwesenheit von Goebbels „Wilhelm Tell“ gespielt worden, statt Rütli-Schwur: der Hitlergruß. Es geschieht Komödiantentum, aber in der Umgegend, in der Prinz-Albrecht-Straße, residiert SS-Chef Himmler. Andererseits sind die Nazi-Jahre im Deutschen Theater eine tapfer tastende, vorsichtig subversive Heinz-Hilpert-Zeit. Hilpert engagiert den Kommunisten Kurt Seeger als Dramaturgen, einen Kommunisten (der bis 1971 am Hause arbeitete). Und dem Intendanten drohen Zwangsarbeit und Volkssturm, weil er positiv über Juden gesprochen hatte, ein Herzinfarkt erlöst ihn.
Umschlagmomente interessieren Slevogt besonders. Das Buch beschreibt Konzept und Kunst, und es schillern diese zeit-geschichtlichen Beispiele, die das Faible der Autorin für Recherche und Kolorit belegen. Wirklichkeit und Metapher: Ein Bombenangriff im November 1943 hatte Vorderhäuser in der Schumannstraße weggerissen, das DT als Hinterhof-Haus stand plötzlich im Freien – vertrackte Dialektik: just das Schlimme ermöglichte jenes Schöne, das dem Vorplatz fortan „repräsentative Weitläufigkeit“ gab. Aus einem heißen in den kalten Krieg: Selbst so ein Großer wie Fritz Kortner sah das DT nach 1945 „an der Westgrenze Sowjet-Russlands“. Der „Tagesspiegel“ assistierte: „Laßt die vom Ostsowjet annektierten Theater veröden … Meidet die Pest, wie man die Pest eben meidet …“ Anfang 1961, in einer Beratung bei SED-Chef Ulbricht (wenige Monate vor dem Mauerbau, von dem noch niemand weiß), erfährt der neue Kulturminister Hans Bentzien seltsamerweise von den Schwierigkeiten, größere Mengen Stacheldraht auf dem internationalen Markt zu bekommen. Und Politbüromitglied Günter Schabowski wird im Herbst 1989 ausgebuht, als er auf einem Forum im Theater zur SED-Politik Stellung nehmen soll. Immer wieder: Theater bricht auf, bricht aus, Realität bricht ein, durch alle Zeiten hindurch: hohe Kunst und die reale bürgerliche Moralheuchelei; später dann das humanistische Ideal und der stalinistische Dogmendruck.
An Intendanten zeigt sich auf merklichste Weise der Anprall der Widersprüche und die Energie der Widerstände. Etwa Wolfgang Langhoff. Er war es, der dem ästhetischen Antipoden Brecht nach 1945 die erste künstlerische Heimat für dessen Berliner Ensemble bot. Das war Solidarität, aber auch Überwindung, also Größe. Anfang Oktober 1962 hat Hacks’ Stück „Die Sorgen und die Macht“ Premiere. Im Januar 1963 findet die letzte Vorstellung der Langhoff-Inszenierung statt. Das Stück über ehrliche und unehrliche Arbeit in einem Braunkohlewerk wird als Angriff aufs Heiligtum, auf Plan und Partei, gewertet. Hacks wird entlassen, es vollzieht sich der größte Theaterskandal der DDR.
Siebzehn Jahre leitete der Kommunist Langhoff das DT, am Ende von der eigenen Partei in die Verzweiflung getrieben. Ein beseelter Aufklärer, der (mit „Woyzeck/Astutuli“) an den Punkt kam, die Aufklärbarkeit des Menschen prinzipiell anzuzweifeln. Oder Gerhard Wolfram, ab 1972 zehn Jahre Intendant. „Ich fühlte mich in diesem Land sicher, in diesem Theater sicher, solange du mein Intendant warst. Dann nicht mehr“, sagt der Schauspieler Christian Grashof bei der Trauerfeier für Wolfram, 1991. Und schließlich die Berufung Dieter Manns auf den Intendantenstuhl, ein Sieg des DT-Ensembles – dessen künstlerische Anziehungskraft so legendär war wie sein Abstoßungswille gegen politisch beorderte Eindringlinge. Triste wie brodelnde DDR-Endzeit. Eine Wende schließlich, nicht ohne Wunden, doch Manns Leitung muss als klug, uneitel, konzentriert eingestuft werden. Eine Kunst: das eigene Ethos zu behaupten, es aber nicht als allgemeines Gesetz den anderen aufzudrängen.
Die Bretter, die die DDR bedeuteten, waren gemacht aus Doppelbödigkeit: Theater als offenster Ausdruck der geschlossenen Gesellschaft. Die Eintrittskarte fürs Hohe Haus als Reisepass in Gegenwelten. Spannung zwischen Hochkultur der Repräsentation und intelligenter Unterwanderung offizieller Denkmuster. Slevogt gelingt Beweisführung bis in die Endzeit des Systems: Auch die Machtverhältnisse des SED-Staates erforderten und erschufen die Kuppelei von Loyalität und List. Maske zeigen, um Gesicht zu wahren. Gesicht zeigen, um Masken herunterzureißen.
Im April 1994 führt Intendant Thomas Langhoff mit Max Reinhardts Sohn Gottfried, der in den USA lebt, ein Gespräch auf der Bühne des einst väterlichen Theaters (was beide sagen könnten). Nach 1945 waren Bemühungen der Reinhardt-Familie um die Rückgabe geraubten Eigentums und das Ersuchen nach einem Grab auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee gescheitert. Die DDR war kalt und abweisend geblieben. Slevogt zitiert einen Max-Reinhardt-Satz, der das ethische Wesen auch ihres Buches erfasst: „Ich glaube, die Menschheit wäre glücklicher, wenn nicht Einzelne sie immer um jeden Preis beglücken wollten – selbst um den Preis des Glücks“.
Dieses Langhoff-Reinhardt-Gespräch, eine denkwürdige Begegnung zweier Söhne, bezeichnet die Autorin als „Schlussbild“, es stehe „exemplarisch für die losen Ende nach 1990 nicht mehr verknüpfbarer Geschichte(n)“. Ein wehmütiger wie nüchterner Satz. Verweisend auf neue alte, alte neue Geschichte(n): stets Vorläufigkeit, stets Brüchigkeit; Erinnerung als letzter Halt. Ein Gedanke vor allem erklärt dieses Deutsche Theater, seine ästhetische Kraft, seinen Charakter, der in jeder Epoche eine Wucht entfaltete, die Traditionen begründete, aber auch Abgrenzung behauptete. Oft, so Esther Slevogt, war die die eigene Geschichte „so übermächtig“, dass Theaters Gegenwart „im Schatten dieser Vergangenheit nicht gestaltbar schien“. Übergänge als Erschütterungen. Dann aber, immer wieder, Aufbruch. Für einen einzigen Sinn: Man hat nichts von der Kunst – aber man hat sich selbst. Man hat die Chance, im Profanen das Geheimnis, im Offenliegenden das Dunkle, im Übersichtlichen das Labyrinthische zu entdecken. Im Theater zumindest für die Dauer einer Vorstellung. Kostbar kurze Zeit. Doch wenn einem diese Kostbarkeit bewusst wird, hat die Welt draußen schon verloren. Das ist der erste Schritt, ihr beizukommen.
Esther Slevogt: Auf den Brettern die Welt. Das Deutsche Theater Berlin. Ch. Links Verlag, Berlin 2023, 382 S., Print 25 Euro, E-Book 19,99 Euro