Vorwort
von Olaf A. Schmitt und Patrick Primavesi
Erschienen in: Recherchen 20: AufBrüche – Theaterarbeit zwischen Text und Situation (01/2004)
Assoziationen: Hans-Thies Lehmann
Gegenwärtige Theaterformen entziehen sich mehr denn je der Reduktion auf eine einheitliche Tendenz oder Ästhetik. Das hat auch mit einem sich immer rascher wandelnden Umfeld zu tun: Veränderte Strukturen von Wahrnehmung und Öffentlichkeit, Sparzwänge und eine zunehmende Ohnmacht oder Gleichgültigkeit kulturpolitischer Instanzen haben die im deutschen Sprachraum traditionell noch privilegierte Position des Theaters in Frage gestellt. Andererseits gibt es ein breites Spektrum von Darstellungsformen, das sich auch kaum mehr auf Schlagworte wie Literaturtheater, Regietheater, Bildertheater, musikalisches Theater, Tanz- oder Körpertheater reduzieren lässt. So hat die von den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts ausgehende Öffnung des Theaters gegenüber nicht-literarischen Attraktionen, technischen Medien und neuen Auffassungen von Körperlichkeit die Ästhetik und den Ort des Theaters in der Gesellschaft radikal verändert, in einem bis heute anhaltenden Prozess von Brüchen und Aufbrüchen. Der Versuch, diesen Prozess zu analysieren und produktiv zu machen, stellt Kritik und Wissenschaft ebenso wie die Künstler selbst vor das Problem, neue Beschreibungsformen zu finden - nicht nur Begriffe, sondern auch Redeweisen und Gesten, die in der Konfrontation mit ungewohnten Erfahrungen ein tradiertes Verständnis von Theater immer wieder aufs Spiel zu setzen hätten. In diesem Sinne, zur möglichst genauen und unvoreingenommenen Beschreibung einer komplexen und veränderlichen Theaterlandschaft hat sich der von Hans-Thies Lehmann in seinem gleichnamigen Buch geprägte Begriff »Postdramatisches Theater« bewährt, als Arbeitsformel und nicht etwa als Dogma einer neuen Stilrichtung oder eines isolierten ästhetischen Programms. Dementsprechend vielfältig sind die Beiträge des vorliegenden Bandes, die sich mit aktuellen Theaterformen und ihren Beziehungen zu anderen Künsten und technischen Medien ebenso befassen wie mit der Tradition und Gegenwart literarischer Werke.
Alle hier versammelten Texte und Bildbeiträge beziehen sich mehr oder weniger direkt auf Lehmanns Arbeit, sind inspiriert von seinen Schriften (auch denen zum antiken Theater, zur materialistischen Literaturtheorie, zu Bertolt Brecht und Heiner Müller sowie zum politischen Schreiben) oder von seiner Art, Fragen zu stellen und Interesse zu wecken. So war sein 60. Geburtstag ein willkommener Anlass, gerade die Vielfältigkeit der von ihm ausgehenden Anregungen zu dokumentieren, Berührungspunkte im Denken von Wissenschaftlern und Theatermachern zum Ausdruck zu bringen. Als Fokus hierfür bot sich ein Spannungsfeld an, das bereits die verschiedenen Tendenzen und Entwicklungslinien im Theater des 20. Jahrhunderts geprägt hat, vor allem aber die gegenwärtige Suche nach neuen Theaterformen und ihre Auseinandersetzung mit der Rolle und Funktion des Publikums markiert - die Polarität zwischen Text und Situation. Dabei ist unter »Text« nicht allein das dramatische Werk zu verstehen, sondern ebenso andere Texte, mit denen das Theater arbeitet. Gleichzeitig kommt den dramatischen Texten eine veränderte Bedeutung zu, wenn ein differenzierterer Blick auf das Potenzial der Inszenierung möglich geworden ist. In ähnlicher Weise ist auch »Situation« nicht mehr nur zu verstehen im Sinne der dramatischen Kollision, eines intersubjektiven Konflikts, oder als die psychologische und biografische Situation von Rollenfiguren, in die Schauspieler sich einzufühlen gewohnt sind. Im Gegenteil geht es um die Situation des Theaters als solche, dass Zuschauer und Akteure zusammenkommen, um miteinander etwas zu erleben: die Arbeit an einer ›geteilten‹ Präsenz, bei der sich die Zuschauer ihrer Funktion bewusst werden, deshalb auch nie bloß Zuschauer sind, sondern immer schon Teil des Geschehens. Eine Situation also, die nicht auf die dramatische Handlung beschränkt bleibt, sondern zugleich den äußeren Rahmen, die Funktion des Theaters als eines sozialen und kulturellen Ortes thematisiert.
Die Interpretation und Neugestaltung dramatischer Werke, die Vorführung grandioser Bilder oder schauspielerischer Virtuosität üben weiterhin ihre Faszination aus, aber eben nicht mehr isoliert, sondern verstärkt mit Blick auf den Vorgang, der sich da gerade ›jetzt‹, im Moment der Aufführung abspielt. So geht es im Theater der letzten Jahrzehnte häufiger um die Situation der Aufführung als eine Art anthropologischen Ausnahmezustand, in dem die Normen des alltäglichen Verhaltens ein Stück weit aufgehoben sind. Und längst gibt es eine Vielzahl performativer Aktivitäten im städtischen Raum, die bereits auf die Krisen oder auch das Verschwinden der traditionellen Institutionen reagieren und weder belehren noch bloß konsumiert werden wollen. Diese Theaterformen reflektieren insbesondere Verschiebungen im Verhältnis von öffentlichem und privatem Raum, eine zunehmende Überwachung und Funktionalisierung des alltäglichen Lebens. Aber auch innerhalb der Stadt- und Staatstheater gibt es inzwischen ein Gespür dafür, dass die schon von ihrer Architektur her vor allem das Repräsentationsbedürfnis des Bürgertums des 19. Jahrhunderts manifestierenden räumlichen Strukturen dieser Häuser eher hinderlich sind, wenn es darum geht, das Verhältnis von Öffentlichkeit und Repräsentation selbst zum Thema zu machen. Daraus resultieren Strategien, den Rahmen der Aufführung zu verdoppeln oder aufzubrechen, indem die Position des Publikums auf der Bühne gespiegelt oder das gesamte Gebäude ›bespielt‹ und so die traditionelle Funktionsaufteilung zwischen Bereichen der Produktion und der Rezeption durchkreuzt und bewusst gemacht wird. Damit geht es aber nicht in erster Linie um ein kognitives Wissen, vielmehr um die Störung von Wahrnehmungsgewohnheiten und um Erfahrungen, die nicht auf bloße Informationen zu reduzieren sind.
Dass die Arbeit an der Situation der Theateraufführung und zugleich an einer neuen, eher musikalischen und rhythmischen Sensibilität für Texte immer auch eine Arbeit an veränderten Wahrnehmungsweisen ist, reflektieren aus theoretischer und praktischer, künstlerischer Sicht vor allem die Beiträge des ersten Kapitels »Postdramatisches«. Gattungsübergreifende Untersuchungen insbesondere zu literarischen Werken der Moderne enthält das Kapitel »Lektüren«, wobei Verflechtungen zwischen der dramatischen Literatur, der Tradition des Musiktheaters und der bis auf die Antike zurückgehenden Geschichte mythologischer Gestalten und Stoffe thematisiert werden. Ein eigener Abschnitt ist den Autoren Bertolt Brecht und Heiner Müller gewidmet, deren Texte eine Herausforderung für die Erfindung neuer Theaterformen und die Auseinandersetzung mit theatertheoretischen Fragestellungen bleiben. Den Schwerpunkt des letzten Kapitels »Spielräume« bildet die Arbeit einzelner Theaterkünstler und die Analyse übergreifender Entwicklungen. Die Heterogenität der gegenwärtigen Theaterlandschaft wird aber nicht nur durch die behandelten Themen manifestiert, sondern ebenso durch die jeweiligen Schreibweisen der Beiträge von Wissenschaftlern und Theatermachern verschiedener Generationen. Nicht eine homogene ›Schule‹ oder Richtung zeichnet sich damit ab, eher eine produktive Vielfalt verschiedener Perspektiven und durchaus konträrer Positionen.
Der Dank der Herausgeber gilt vor allem den Autor/innen, die spontan dazu bereit waren, durch ihre Beiträge ihre Verbundenheit mit Hans-Thies Lehmann zum Ausdruck zu bringen, den Fotograf/innen für die freundliche Genehmigung zum Abdruck ihrer Bilder, den Übersetzer/innen einiger fremdsprachiger Beiträge und nicht zuletzt dem Verlag Theater der Zeit, insbesondere Harald Müller und Julia Niehaus, die das Erscheinen dieses Bandes ermöglicht haben.
Frankfurt am Main, im August 2004
Patrick Primavesi und Olaf A. Schmitt