Gespräch
„Mich in zwielichtigem Material frei zu bewegen, davor hatte ich nie Angst.“
von Hans-Dieter Schütt und B. K. Tragelehn
Erschienen in: B. K. Tragelehn – Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter. (04/2023)
Hans-Dieter Schütt: Welche Bilder haben Sie vor Augen, wenn Sie an Ihre Kindheit denken?
B. K. Tragelehn: Der ungeheure Jubel, als die siegreichen deutschen Truppen zurückkamen vom Frankreichfeldzug. Menschen und Menschen und Blumen und Blumen. Strahlende Gesichter und das Geräusch der genagelten Stiefel auf dem Straßenpflaster, eine sehr frühe Erinnerung. Über diesen Jubel 1940 habe ich oft nachgedacht. Dieses Geräusch, von dem etwas Verheerendes ausging, im wahren Sinn des Wortes, der Jubel war ver-heerend, dieses Geräusch war eine Welle, die dröhnte, nichts Vergleichbares in meinem Leben gab es fortan. Ich hatte dann später das Gefühl: Das ist der Kern der deutschen Geschichte. Jubel von Massen ist mir später zum Schreckensgeräusch und zum Schreckensbild geworden.
Sie betonen das „später“.
Ja, immer alles erst später. Meine Mutter sehe ich, stumm sitzend über dem Atlas mit dem riesigen Russland, als die Nachricht vom Überfall auf die Sowjetunion kam. Ich ging, eine Schokoladenbrezel essend, an der Hand meiner Großmutter über den Dürerplatz in Dresden, in der Nähe der Trinitatiskirche, in der Johannstadt. Da bauten russische Kriegsgefangene ein Wasserbassin für den Luftschutz, und ein junger Gefangener, geschoren, sah mich mit großen Augen an, er klopfte mit einem Hammer Steine. Der Posten wandte gerade den Rücken,...